Kapitel 11
Als Aristides und Markus mit dem Kopf die Oberfläche durchstießen, staunten sie nicht schlecht. Da war weit und breit nichts von der Bibliothek zu sehen. Das Rohr- und Tunnelsystem hatte sie scheinbar durch ganz London geführt. Von Anorchena waren sie solche Ausmaße gar nicht gewohnt. Nun ja, Chorinia war auch eine sehr kleine Inselmonarchie. Natürlich waren die Städte da auch nicht besonders groß.
„Und was jetzt?", fragte Aristides. Er fing an, nervös zu flackern.
„Erstmal wieder auf Tauchstation", sagte Markus und glitt zurück unter die Asphaltdecke der Straße.
Aristides folgte ihm hinunter und seufzte, was Markus schon gar nicht mehr beachtete. Irgendwann härtete einen alles ab.
„Und was jetzt?", fragte Aristides erneut, kaum dass sie im Boden steckten.
Er mochte es gar nicht, wenn er über sich Autos vorbeifahren fühlte, rund um sich irgendwelche sonderbaren kleinen Krabbelviecher hatte und zudem keine Ahnung, wo er sich befand. So nebenbei machte er sich Sorgen, dass die kleinen Tierchen Gefallen an Geisterbüchern finden konnten. Es war ohnehin nicht sicher, ob noch eines von ihnen nach dieser unglaublichen Reise lesbar war. Die Bücher von Markus waren definitiv nicht mehr zu gebrauchen. Den Stapel hätte er besser in der Bibliothek gelassen. Der Gedanke ließ ihn ein weiteres Mal seufzen.
„Ganz einfach", erklärte Markus mit einem so belehrenden Tonfall, dass Aristides wieder mit einem überaus schlechten Gewissen an Bathilde erinnert wurde. Bathilde, die wegen ihm resublimiert worden war. Wahrscheinlich.
„Wir schweben jetzt zu einem Fußweg, tauchen dort auf und fragen irgendeinen Geist, wo die British Library ist."
„Äh ... einfach so?" Aristides war verwirrt.
„Nee, wir fragen nicht einfach, sondern zweifach", erwiderte Markus und rollte mit den Augen. „Natürlich fragen wir einfach! Siehst du die Bücher? Die müssen wir zurückbringen. Oder willst du die hier lesen?" Scheinbar sah er zum ersten Mal wirklich auf die Bücher, denn er fügte hinzu: „Meine sind eh hinüber und müssen in die Reparatur-Abteilung."
„Aber wir haben doch keinen Ausweis", jammerte Aristides.
Markus hob den Stapel in seinen Armen an. „Die sind unser Ausweis. Glaubst du ernsthaft, wenn wir ihnen die Bücher zurückbringen, dass sie nach einem Ausweis fragen?"
„Vielleicht haben sie die Bücher schon als gestohlen gemeldet", wandte Aristides ein. „Dann verhaften sie uns."
„So ein Quatsch. Wir waren höchstens ein paar Stunden unterwegs. So schnell kontrollieren die sicher nicht die Geisterbücher. Überleg doch, du warst da unten ganz allein. Für die Wälzer interessiert sich niemand."
„Ich war gar nicht allein." Aristides erinnerte sich mit einem unangenehmen Bauchgefühl an den Menschen. „Da war ein Mensch aus der Bibliothek, der hat den Sicherheitsdienst gerufen."
Markus fing an, schallend zu lachen.
„Das ist gar nicht lustig! Die hätten mich festgenommen und resublimiert."
„Ein Mensch", Markus japste nach Luft, „dich ... resublimiert", er schüttelte sich vor Lachen, „das ist gut, so gut!"
Aristides presste zornig die Lippen aufeinander. Markus hatte wirklich kein Benehmen. Der war fast so schlimm wie Jack. Vielleicht sollte er ihm sagen, wie albern es aussah, wenn er unter der Erde so tat, als ob er nach Luft schnappte. Das war geradezu lächerlich. Jawohl, absolut lächerlich!
Beleidigt schwebte er durch die Erde, so weit, bis er glaubte, beim Fußweg angelangt zu sein. Danach glitt er nach oben. Einige Menschen liefen über ihn hinweg oder, um exakt zu bleiben, durch seinen Kopf hindurch. Das fühlte sich eklig an. Für die Menschen wohl auch. Ein paar Leute wurden langsamer. Einer hob sogar seinen Schuh an und schaute auf der Sohle nach. Na, wenn er da einen Kaugummi suchte, wurde er nicht fündig.
Aristides tauchte komplett auf und schüttelte sich. Dabei presste er seine arg mitgenommenen Bücher an die Brust. Es sollten zwar alle fremden Partikel von seinem Geisterkörper abfallen, doch den Büchern sollte nicht noch mehr passieren.
Verwirrt beobachtete er die eilig herumlaufenden Menschen. Warum gab es hier so viele und weshalb hetzten die so? War etwas passiert und sie flüchteten vor einem Untier? Oder rannten sie zu einem Unglücksort hin?
Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er sich in der Nähe von einer Busstation befand. Das war ja perfekt! Vielleicht musste er keinen Geist befragen, sondern konnte auf eigene Faust zur British Library finden. Er musste schließlich aufpassen, damit ihn niemand von der Geistereinwanderungsbehörde oder vom Sicherheitsdienst der Bibliothek erwischte. In einer Stadt, wo selbst Junggeister wussten, wie man einen Stromstoß neutralisierte, gab es absolut sicher ein Buch, das ihm half, sein Schicksal selbst zu bestimmen und in die Nicht-Existenz zu gelangen. Da durfte er sich nicht vertreiben lassen. Sollte sich doch Markus einfangen lassen. Wenn der dann irgendwo als Statue auftauchte, würde er alle Tauben im Umkreis von drei Meilen anlocken, damit sie ihn so richtig verdreckten. Danach würde er sich vor ihn stellen und so lange lachen, bis es durch die Resublimierung zu spüren war. Genau so!
Bevor Markus auftauchen und ihn wieder ärgern konnte, eilte Aristides davon. Nebenbei hatte er auch keine Lust auf einen Stromstoß, nur weil er sich in irgendwelchen Gedanken verloren hatte. Der mörderische Markus sollte sich jemand anderen zum Berühren aussuchen.
Aristides eilte zu einer riesigen Anzeigetafel, suchte nach den richtigen Fahrplänen und studierte sie gründlich. Dabei versuchte er die neugierigen Blicke der Geister um sich herum nicht zu beachten, die ihn und die Bücher verwirrt, grinsend oder misstrauisch beäugten. Es schien ihm, als ob er tatsächlich der einzige Geist war, der Bücher trug. Alle anderen schwebten mit leeren Händen oder irgendwelchen Geistertaschen durch die Gegend. Las in einer Großstadt wirklich niemand mehr? Hatte Markus mit seiner Behauptung recht, dass er der einzige Geist in London war, der die Geisterbibliothek im Keller aufsuchte?
Möglichst unauffällig blickte er die vorbeischwebenden Geister an. Dann begriff er und rollte mit den Augen. Natürlich! Er fiel nicht wegen der Bücher auf, sondern wegen der fehlenden Tasche. Wirklich jeder transportierte seine Einkäufe oder was auch immer sie da hatten, in Taschen und Rucksäcken. Doch wo bekam er so etwas her? In Anorchena waren die Wege kurz. Außerdem gab es dort nur Geisterbekleidungsgeschäfte. Wer brauchte schon eine Tasche oder einen Rucksack? Man trug das, was man anhatte, mehr brauchte man doch nicht. Wenn man etwas Neues wollte, gab man die alten Sachen zur Wiederverwertung. Geisterkleidung hielt sich praktisch ewig.
Sein Blick fiel auf die Bücher, die ziemlich ramponiert waren. Na schön, in der Stadt war es wohl ein wenig anders. Da war die Haltbarkeitsdauer etwas begrenzter. Nun musterte er auch seine Kleidung. Hatte seine Hose nicht einen Riss? Aber nein, das konnte nicht sein. Oder doch? Er sah genauer hin. Tatsächlich! Er konnte an seiner Kleidung einige Risse und kleinere Löcher entdecken. Unglaublich! Ob das damit zusammenhing, dass er ohne Genehmigung hier war? Vielleicht erhielt sein Geisterkörper weniger sphärische Energie und ...
Er riss die Augen erschrocken auf. So hatte er sich sein Hinübergleiten in die Nicht-Existenz wirklich nicht vorgestellt. Er wollte sich nicht wegen fehlender Energie auflösen, sondern irgendwie wirkungsvoller aus seiner jetzigen Existenz verpuffen. Aus eigenem Wunsch, nicht aufgrund einer Bestrafung. Vielleicht sollte er sich stellen. Er musste George Brown finden!
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top