Kapitel 10

Aristides schlitterte direkt hinter Markus durch den gekennzeichneten Bereich. Nur leider war Markus nicht zur Seite gegangen oder zumindest einen Schritt nach vorn. Er stand total ergriffen da und starrte auf den Geist vor sich. So stürzte Aristides mit dem doppelten Bücherstapel direkt in Markus hinein, dieser taumelte nach vorn und wäre fast in sein Idol geplumpst! 

Das hätte jetzt so richtig romantisch wirken können. Er stolperte erschrocken seinem Helden vor die Füße, doch der rettete ihn in letzter Sekunde und fing ihn behutsam auf. Sie sahen einander tief in die Augen und ... 

Aristides kreischte erschrocken auf. Die Bücher flogen in hohem Bogen durch die Luft und verteilten sich im Raum. Markus knallte mit Wucht auf den Boden, der kreischende Aristides landete auf seinem Rücken und versuchte, von dort wenigstens einige Bücher aufzufangen, die zurück Richtung Boden fielen. Er schaffte es sogar, zwei Bücher zu retten, und drückte sie herzend an seine Brust, verteilte zarte Küsse auf die Buchdeckel und seufzte innig. 

Und wo war bei dem ganzen Durcheinander jetzt der Bewohner dieses unterirdischen Unterschlupfs? 

Jack the Ripper hatte sich mit einem beherzten Sprung nach hinten und zur Seite gerettet und starrte auf die zwei Verrückten, die Bücherkonfetti in seinem Raum verteilten und kreischend übereinander herfielen. Das hatte er auch noch nicht erlebt. 

„Runter von mir!", brüllte Markus. 

Das musste er auch kein zweites Mal sagen. Denn er war so geladen, dass Aristides noch mehr kreischte und so richtig weiß anlief. Er verlor jegliche Durchsichtigkeit und schimmerte in ängstlichem, schmerzdurchdrungenem Weiß, denn nun hatte er bei vollem Körperkontakt eine Megaladung Stromstoß abbekommen. Er zitterte so sehr, dass ihm die zwei geretteten Bücher aus den Händen glitten und doch noch zu Boden fielen. 

Jack the Ripper verschränkte die Arme vor der Brust, hob eine Augenbraue, die sogar schwärzlich schimmerte und deshalb besonders gut zu erkennen war, und blickte ungeduldig. 

„Was soll das werden, wenn ihr fertig seid?" 

Während Aristides noch immer weiß zitternd die Bücher unter Jammern und Klagen zusammensammelte, rappelte sich Markus vom Boden hoch und versuchte krampfhaft, ein lächelndes Gesicht zu zeigen. Das misslang gründlich. Er konnte nur siegessicher strahlen, sarkastisch grinsen oder spöttisch lachen. Ein freundliches Lächeln hatte er in all den Jahrhunderten nie gebraucht. 

„Hi, Jack, ich bin Markus", sagte er schließlich. 

„Das beantwortet nicht meine Frage", erwiderte der nur und hielt die Arme weiterhin vor seiner Brust verschränkt. 

„Ähm ... eigentlich doch", murmelte Markus. 

Aristides wurde hellhörig. Markus murmelte? Wie ein unsicherer, junger Geist? Hatte denn sein Begleiter völlig vergessen, dass der Geist vor ihm keine zweihundert Jahre alt war? Der andere müsste unsicher sein und herumstammeln, während zwei altehrwürdige Geister ihn besuchten. 

„Ich hab es so satt!", schimpfte Jack. „Zu meinen Lebzeiten wurde ich weggesperrt und keiner wollte etwas mit mir zu tun haben, weil ich ja so unglaublich gefährlich war ..." Seine Augen funkelten schwarz-rot. „Und nicht mal ein halbes Jahrhundert nach meinem Tod bin ich vor keinem herumtreibenden Geist mehr sicher! Sogar menschliche Geisterjäger suchen nach mir!" 

Aristides hatte alle Bücher aufgehoben und näherte sich ganz langsam seinem Begleiter. 

„Wie habt ihr mich überhaupt gefunden? Das hier ist ein absolutes Geheimversteck! Niemand kennt es. Niemand!" 

Markus öffnete schon den Mund, um ehrlich zu antworten, zumindest nahm Aristides das an. Da ging er aber sofort dazwischen. Ein wenig Ehre musste sein und dieses respektlose Verhalten des Junggeistes nervte ihn mächtig. 

Darum stieß er Markus in die Seite und flüsterte in sein Ohr: „Vielleicht wird er freundlicher, wenn du ihm erst einmal die Hand reichst." 

Markus klappte seinen Mund wieder zu, blickte verwirrt und fragend zu Aristides hin, anschließend zu Jack und dann lächelte er. Diesmal richtig, nämlich so ein sarkastisches Lächeln, und das konnte er. 

Er streckte die rechte Hand aus. „Entschuldige unseren Überfall. Wir haben uns in diesem Tunnelsystem ein wenig verirrt." 

Jacks Augen blitzten unheilvoll auf, dann aber griff er nach der Hand und schüttelte sie. Die beiden Geister sahen einander an. Beide ein spöttisches Grinsen auf dem Gesicht. Nur dass das Grinsen von Markus verschwand, während das von Jack noch stärker wurde. Aristides starrte verblüfft auf die Hände. Jack hatte keinen Schlag abbekommen? Wie machte der das? 

Mit triefend hämischem Unterton erklärte Jack: „Pah, ihr habt echt gedacht, mit diesem Hinterwäldlertrick könnt ihr den weltberühmten Jack the Ripper reinlegen? Was seid ihr denn für Spinner?" 

Markus zog seine Hand zurück. Seine Mundwinkel wanderten nach unten. Die Enttäuschung war nicht zu übersehen. Zumindest nicht für Aristides. Jack war da weniger einfühlsam. 

„Jetzt verzieht euch endlich! Das hier ist mein Unterschlupf. Und wenn ihr abhaut, macht keinen Lärm, falls ihr überhaupt still sein könnt. Ich kann weitere Besucher echt nicht brauchen!" 

Markus drehte sich zu Aristides, griff wie automatisch zu den Büchern und nahm sich einen Schwung. 

„Komm, Aristides, wir bringen die Bücher zurück. Irgendwie finden wir schon den Rückweg." 

„Aber ...", setzte Aristides zu einem Widerspruch an. 

„Jetzt!" 

Markus' Stimme war so nachdrücklich, dass der älteste Geist vom ganzen Universum nur seufzte und hinter Markus aus dem Unterschlupf hinaus schwebte. Dieses Mal zögerte er nicht einmal, denn er wusste ja, dass ihn keine weißlichen Würmchen erwarteten. 

Kaum waren sie im Rohr, fragte Markus flüsternd: „Kannst du vielleicht alle Bücher noch bis zum Rohrende tragen?" 

Aristides nickte stöhnend. Da hätte Markus sie ihm auch gleich lassen können, wenn er sie überhaupt nicht tragen wollte. Geister! Er würde nie verstehen, was im Kopf von diesem miesgelaunten Markus vor sich ging. Aber es dauerte nicht sehr lang, da begriff er es sehr wohl. Denn Markus zeichnete das gesamte Rohrsystem nicht nur immer mal wieder Leuchtpfeile, sondern schrieb hin und wieder Warnungen. 

„Bloß nicht hier lang schweben!" – „Warnung! Gefährlich!" – „Achtung, Gefahr!" – „Flieh, solang du noch kannst!" 

Es gab nur eins, was Geister noch spannender fanden als eine Bibliothek, das waren Warnungen, die Abenteuer versprachen. Jeder Geist, der sich zufällig hierher verirrte, würde auf jeden Fall den Pfeilen folgen. Denn was konnte so schlimm sein, dass man auf gar keinen Fall hinschweben durfte? Eigentlich gab es nichts, was einen Geist abschrecken konnte. Nun, fast nichts, so eine Resublimierung war bestimmt wirklich abschreckend. Doch davon schrieb Markus nichts. 

Aristides musste zugeben, wäre er hundert Jahre jünger, hm, oder eher vierhundert Jahre jünger, dann wäre er neugierig den Pfeilen gefolgt. So wie Menschen in eine Achterbahn stiegen und sich durch die Kurven jagen ließen. Oder in ein Kettenkarussell, um im Kreis herumgeschleudert zu werden. Oder in den Freefall-Tower, wo sie Magen-Training auf höchstem Niveau ausprobierten. Man machte etwas, um am Ende einen Kick zu erhalten. 

„Meinst du, Jack the Ripper ist der passende Kick?", wagte Aristides nachzufragen. 

„Mir egal. Aber alle neugierigen Geister geben dem eingebildeten Jack einen Kick. Von wegen Hinterwäldlertrick." 

Okay, jetzt verstand Aristides wirklich. Obwohl er ja eigentlich der Meinung war, diese kleinliche Rache passte überhaupt nicht zu einem Geist, der bald achthundert Jahre alt war. Aber es war Markus. Der war anders. Der würde wohl auch in achthundert Jahren noch so kleinliche Rachefeldzüge starten. Da wäre er dann eintausendsechshundert Jahre alt. Sechshundert Jahre älter als er selbst jetzt. Wie das wohl war? So alt zu sein? Sechshundert Jahre länger leben? 

Ein gemeiner Stromstoß beförderte Aristides zurück in die Gegenwart zu Markus, dem stinkenden Abwasserrohr und den ziemlich übel zugerichteten Büchern. 

„Wenn du dann fertig bist mit Träumen, kannst du mir meinen Stapel wiedergeben", sagte der und grinste überaus selbstzufrieden. „Ich schlage vor, wir schweben direkt nach oben. Den Rückweg über das Tunnelsystem finde ich eh nicht mehr." 

Aristides verzog wehleidig das Gesicht. Winzige weißliche Würmchen. Nicht schon wieder! 


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