Kapitel 2 - Cathy

Die Autos rasen rücksichtslos wild an einem vorbei. Die Passanten drängeln sich gehetzt in eine verworrene Masse, auf dem Weg zur Arbeit. Alle achten nur auf sich selbst und nehmen auf die anderen, die nur wenige Zentimeter, teils sogar Millimeter, neben einem stehen, keine Rücksicht.

Während ich an der Ampel stehe, siehe ich sich dieses merkwürdige Bild an. Es ist so absurd. So viele Menschen an einem Ort. Tag für Tag. Stunde für Stunde. Minute für Minute. Und keiner wird den anderen jemals wiedersehen. Nicht den Mann mit dem angeschwollenen Gesicht, nicht die Frau mit der spitzen Nase und auch nicht das Baby in dem gestreiften Kinderwagen. Die Welt ist zu groß. Und doch macht sich keiner von ihnen sich darüber Gedanken. Sie sind viel zu sehr beschäftigt. Doch womit? Was der Chef wohl heute sagen wird? Ob die Kinder wohl heute mal brav sind? Was man heute wohl zum Geburtstag bekommt?

Keiner von ihnen macht sich über die wirklich wichtigen Dinge Gedanken. Aber daran kann noch nicht einmal ich etwas ändern.

Ich bemerke, dass die Ampel schon längst grün ist und sich Passanten in aller Art über die Straße drängeln. Junge, alte, dicke, dünne, helle, dunkle. Aber im Grunde sind trotzdem alle gleich.

Ich überquere die Straße und gehe einige Straßen entlang, bis ich schließlich an einem kleinen Café ankomme. Als ich es betrete, klingelt eine kleine Glocke. Als ich mich umsehe bemerke ich keinerlei Veränderungen des Familienbesitztums der Bluhms. Aber was sollte sich auch verändert haben? Ich komme hier schon seit Ewigkeiten her und seit der Eröffnung hat sich nichts verändert. Die Möbel sind noch genau an derselben Stelle, wie damals, der Boden und die Wände die gleichen.

Eine Kellnerin mit hübschen roten Ringellocken kommt auf mich zu und weist mir ein Tisch zu. Ich kenne sie, so, wie fast alle, die hier arbeiten. Laura arbeitet hier in ihrer Freizeit bei ihren Großeltern im Geschäft und verdient sich so etwas dazu. Das einundzwanzigjährige Mädchen ist immer nett, immer freundlich und ist total süß.

Ich setze mich an den Tisch. Da er direkt am Fenster steht, kann ich sogar von hier die merkwürdigen Menschen sehen. In Anzug und Krawatte, mit Aktenkoffer. In Jogginghose. In hübschen Kleidern und aufwendigem Make-Up. Alle Sorten von Menschen sind in dieser Stadt anwesend. Es ist hier zwar nicht so voll, wie vorhin auf dem Platz, mitten in der Stadt, aber hin und wieder lässt sich doch der ein oder andere Passant in der kleinen Nebenstraße blicken.

Hier in dem Café „Farbiger Dunst" ist es nie überfüllt. Es ist immer angenehm. Wenn die einen kommen, gehen die anderen. So ist das Café immer gut gefüllt. Jetzt gerade sitzen noch sechs andere Personen in dem Café. Ein junges Pärchen trinken zusammen Kaffee und lassen sich dazu den köstlichen Hausgemachten Kuchen schmecken. Die Frau hat sich einen Apfelkuchen bestellt, der Mann einen Käsekuchen. An einem anderen Tisch sitzt eine ältere Frau mit ihrem Enkelsohn und schaut ihn dabei freudig zu, wie er seinen Schokokuchen aufisst. An dem Tisch neben mir sitzt eine junge Frau mit schokobraunem Haar und nippt ab und zu an ihrem Pfefferminztee, währen sie konzentriert zu der anderen Seite des Raumes schaut, wo ein Mann sitzt, nicht viel älter, als sie und angestrengt auf seinen Laptop schaut. Ab und zu wendet er seinen Blick von dem mechanischen Gerät ab und schaut hoch. Immer wenn er dies tut, schaut das Teemädchen schnell weg.

Laura kommt mit einem süßen lächeln zu mir, um meine Bestellung aufzunehmen. Ich bestelle mir einen Kaffee und ein Stück Apfelkuchen. Danach geht sie wieder, um meine Bestellung zuzubereiten.

Ich nehme mir meine Tasche und hole daraus mein Skizzenbüchlein und ein paar Stifte heraus. Ich bringe die Straße draußen auf das Papier, mit all ihren Einzelheiten, sowie auch das heimische Café, in dem ich jeden Tag mehrere Stunden verbringe. Ich zeichne auch das Teemädchen, mit ihrem heimlichen Schwarm, Oma mit ihrem Enkelsohn, genauso wie auch das junge Pärchen mit ihren Kuchen.

Bald schon habe ich meine ganze Gegend rund um mich herum schwarz-weiß auf Papier vor mir zu liegen. Meine nächste Skizze fällt etwas anders aus. Dutzende von ihr habe ich schon gezeichnet. Es sind bestimmt schon mehr Skizzen von ihr, als von dem Café in meinem Skizzenheft. Es ist eine Person. Eine Person, die mir einfach nicht aus dem Kopf gehen will.

Was macht ihn so ... besonders? Ich sehe jeden Tag tausende von Menschen und doch ist er der Einzige, der sich in mein Gehirn gebrannt hat, der mich nicht vergessen lässt. Dabei weiß ich noch nicht einmal wo ich ihn gesehen habe.

Was an den klarblauen Augen und den hellbraunen Haaren, ist so speziell, dass mir sein Bild nicht mehr aus dem Kopf geht? Sein Geist spukt schon seit einiger Zeit in meinem Kopf herum und ich kann es mir einfach nicht erklären. Deshalb habe ich vor einer Weile einen Entschluss gefasst. Und zwar werde ich diesen mysteriösen Mann finden. Ich werde ihn finden und ihn fragen, was an ihm so anders ist, dass ich immerzu an ihn denken muss.

So reise ich jeden Tag in eine andere Stadt. Ich blättere mein Skizzenbuch zurück bis an den Anfang, wo eine Karte der gesamten Welt aufgezeichnet ist. Darauf sind schon viele rote Punkte gekennzeichnet. Sie zeigen an, wo ich schon überall gewesen bin. Bis jetzt war ich hauptsächlich in großen Großstädten, wie Tokio, Delhi, Shanghai, New York, Mumbai, Kairo oder Peking. Aber ich war auch schon in etwas kleinere Großstädte. Denn auch Städte, wie Los Angeles California, Moskau, London, Berlin oder Chicago waren ziemlich überwältigend.

Es sind so große Städte, so viele Menschen. Eine Massenvielfalt, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe. Doch keiner von ihnen war Er. Viele sahen ihm zwar ähnlich, aber keiner von ihnen war es wirklich. Das kann ich mit Sicherheit sagen. Denn mein Blick fängt alles ein, was um mich herum passiert. Ich sehe, wie sich der kleine Junge mit seinem Kuchen vollgekrümelt hat, wie die Kassiererin das Geld zählt, ja sogar, wie die Fliegen im Nachbarladen umherschwirren.

Ich muss zugeben, dass das manchmal tatsächlich etwas unheimlich ist. Aber ich habe mich an diese seltsame Gabe, oder den Fluch gewöhnt. Auf jeden Fall erleichtert mir diese spezielle Fähigkeit meine Suche.

Heute beschließe ich, in die Stadt zu reisen, in die ich schon immer mal wollte. In die Stadt der Liebe. In das wundervolle Paris.

Somit nehme ich mir meinen Stift und zeichne eine kleine rote Markierung ins Zentrum Frankreichs ein. Und é voila.

Als Laura erneut zu mir kommt, bezahle ich die Rechnung und packe meine Sachen zusammen. Danach erhebe ich mich von meinem Platz und gehe zum Ausgang.

„Dann also bis morgen wieder?", fragt mich das Mädchen.

Ich drehe mich noch einmal zu ihr um. Lächelnd antworte ich ihr: „Wie immer!" Damit gehe ich durch die Tür hinaus und verlasse das Café.

Ich gehe einige Gassen entlang und biege mehrfach ab. Solange, bis ich schließlich an einer kleinen roten Brücke ankomme. Ich gehe unter die Brücke und schaue zu dem glitzernden Fluss, der neben mir fließt. Nun wende ich mich wieder meiner Brücke zu. Ich gehe näher zu der Wand heran, sodass meine Fingerspitzen an der rauen Mauer entlangstrichen. Nach drei Schritten komme ich zum Stehen. Denn neben mir befindet sich in der Brückenwand eine kleine Einkerbung. Jedoch ist sie zu unscheinbar, als dass sie irgendjemand zufällig entdecken würde. Dies erkennt nur jemand, der es kennen muss.

Ich hole meine Kette hervor, die ich mir immer unter mein Hemd stecke. An dem zarten Schmuckstück baumelt ein edles Medaillon. Es ist nicht größer, als eine Pflaume und ist silbern. Den Rand zieren kunstvoll geschwungene Muster, in Form von mächtigen Wellen, während in der Mitte des Medaillons eine goldene acht abgebildet ist.

Ich nehme mein Medaillon und lege es in die Einkerbung hinein, wo es perfekt hineinpasst.

Auf einmal öffnet sich in der Wand eine versteckte Tür. Ich habe diesen Vorgang zwar schon oft erlebt, trotzdem bekomme ich jedes Mal aufs neue, wenn ich dies mache, eine Gänsehaut, die sich über meinen ganzen Körper zieht.

Ich trete ein, in die geheimnisvolle Tür und sobald ich drinnen bin, schließt sie sich wieder. Jedoch habe ich in keinem Raum betreten. Ich befinde mich wieder unter einer Brücke. Jedoch fließt nun neben mir nicht mehr der Fluss, wie noch vor fünf Sekunden, sondern die Seine. Ich stecke meine Kette wieder unter meine Kleidung und taste danach die Wand ab, damit auch wirklich alles wieder verschlossen ist und niemand den geheimen Eingang findet.

Durch dieses magische Tor komme ich so schnell und problemlos von einem Ort zu dem nächsten. Es ist der schnellste und zugleich angenehmste Weg, um zu reisen. Jedoch auch streng geheim. Nur eine Hand voll Menschen der ganzen Welt kennen das Geheimnis. Und keinem von ihnen ist es gestattet es irgendjemandem zu zeigen.

Ich komme unter der Brücke hervor und gehe die Straße entlang.

Menschenmassen drängeln sich aneinander vorbei, als wenn es kein morgen geben würde. Überall ist es so voll. Auch hier sehe ich so ziemlich jede Art von Menschen. Nur nicht Ihn.

Ich beschließe, dass, wenn ich schonmal wirklich hier in Paris bin, ich auch mir ein paar Sachen anschauen kann. So, wie eben ein ganz normaler Tourist. Vielleicht werde ich Ihn ja dabei entdecken.

So schaue ich mir die erstaunlichen Bauwerke der atemberaubenden Stadt an. Der Eifelturm, der Triumphbogen, Sacré Coeur, das Schloss Versailles, die Pariser Oper, Notre Dame und schlussendlich auch noch den Louvre.

So gehe ich gerade durch die Bildergalerie des berühmten Museums. Die Sehenswürdigkeiten waren allesamt wirklich erstaunlich und beeindruckend. Doch von Ihm fehlt leider auch hier in Paris jede Spur. Wenn ich doch nur wissen würde, wo ich suchen muss. Wenn ich nur irgendeinen Anhaltspunkt haben würde.

Plötzlich stößt mein Fuß gegen etwas und ich stolpere, kann mich aber noch abfangen. Verwundert schaue ich mich um, was die Ursache war. Da sehe ich es liegen. Auf dem Boden liegt ein kleines schwarzes Portemonnaie. Das hat wohl jemand verloren. Ich hebe es auf. Vielleicht ist der Eigentümer dieser Brieftasche ja noch in der Nähe.

Ich öffne die Brieftasche. Viel Geld ist dort nicht drin. Aber ich finde einen Personalausweis. Ein gewisser Carlos Rüger. Blonde Haare, Sommersprossen und hartblaue Augen.

Ich schaue mich nach ihm um. Und tatsächlich! Ein paar Flure weiter steht er und schaut sich Die Krönung von Napoleon an.

Langsam gehe ich zu ihm hin. „Verzeihung?", frage ich.

Leicht verwirrt dreht er sich um und fixiert mich. Sofort, als er mich sieht, bricht sich eine Panikwelle über ihn zusammen. Aber diese dauert weniger als eine Minute, bevor er sich wieder fängt. Aber ich habe sie gesehen. Was verbirgt er?

„Ja? Gibt ... gibt es ein Problem?" erkundigt er sich bei mir. Jedoch kann ich immer noch das Unbehagen in seinen Augen sehen. Ich kann förmlich hören, wie schnell sein Herz schlägt. Ganz besonders, als er fragt: „Sie er-"

Schnell hole ich den Fundgegenstand heraus. „Ich denke das gehört ihnen." Doch mit dem Schwung rutscht mir die Brieftasche aus der Hand und landet vor mir auf den Boden. Ich entschuldige mich und bücke mich schon, um das Portemonnaie wieder aufzuheben. Der Mann – Carlos Rüger – möchte mich davon abhalten, aber es ist bereits zu spät. Ich bin schon unten und habe den Geldbeutel schon erreicht.

Wie ich sehe, ist er beim Unfall selbst aufgegangen und ein Bild herausgerutscht. Ich hebe beides auf und möchte es ihm schon wieder zurückgeben, da landet mein Blick auf dem Foto. Eigentlich geht mich das ganze ja überhaupt nichts an, aber das war wohl nicht zu vermeiden. Doch es ist nun mal passiert. Und was ich auf dem Bild sehe, lässt mich in meiner Bewegung erstarren.

Carlos Rüger hat wohl auch mitbekommen, dass ich sein Bild gesehen habe, denn er stammelt nervös wirres Zeug, wie: „Ich kann das erklären...", „Das ist nicht das, wonach es aussieht" und „Es ist anders, als du vielleicht denkst".

Doch ich höre ihm gar nicht mehr richtig zu. Alle Geräusche um mich herum werden gedämpft und die Welt um mich herum beginnt langsam Karussell zu fahren.

Die Entdeckung war zu groß. Zu gewaltig. Zu unmöglich.

Doch wie lässt es sich sonst erklären, was mir das Bild zeigt. Mein Kopf sagt, dass es nicht der Wirklichkeit entsprechen kann. Doch mein Herz schreit ganz laut und deutlich, dass es die Wahrheit ist.

Denn ich bin darauf, zusammen mit jenen, den ich schon seit langem – vergeblich – suche. Jedoch befinden wir uns dort in einer ganz anderen Zeit. In der Vergangenheit. Doch vor wie vielen Jahren? Ich bin mir nicht sicher. Was ich jedoch weiß, ist, dass es eine lange Zeit schon her ist. Aber wieso sehe ich auf dem Bild dann genauso aus, wie heute? Ich höre das rattern meines Gehirns, das versucht, die Lösung zu greifen, die doch so greifbar ist. Irgendwo habe ich die Antwort in den Tiefen meines Gehirns. Jedoch hält eine unsichtbare Blockade mich davon ab, die Antwort zu fassen.

Das Karussell kommt langsam zum Ende und ich schaue verwirrt auf.

Carlos Rüger seufzte. Es war ein vergebliches Seufzen. „Damit endet wohl der Versuch." Auf einmal nimmt er meine Hand und führt mich in einen wenig besuchtes Abteil des Museums. Er lehnt sich an die Wand und sieht sich um, damit auch niemand etwas mitbekommt. Als die Luft rein ist, schaut er zu mir und sieht mir direkt in die Augen. Dabei sagt er:

„Vergessenes klärt sich auf,

was verschollen sollte für immer,

das Schicksal nimmt seinen Lauf,

und macht alles nur noch schlimmer."

Auf einmal bricht eine ganze Sturmflut aus Erinnerungen in mir zusammen. Doch noch ehe ich mich auf eines dieser Informationen konzentrieren kann, ergreift mich eine Hand und zerrt mich in ein dunkles Tor. 

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