Kapitel 1 - Alexis
Ich sah zu, wie der Schaum sich mit der Milch vermischte. Auf dem Kaffee tanzten flockige Wolken gemächlich dahin und der duftende Rauch, der von meinem Getränk empor stieg kitzelte in meiner Nase.
Mein Blick glitt den Küchentisch entlang, bis zu dem anderen Ende, an dem eigentlich du sitzen solltest. Aber das tust du nicht. Wie auch? Du bist schließlich gerade auf einer wichtigen Reise, die du leider nicht absagen konntest. Ich habe dich noch gefragt, was denn daran so wichtig sei, erinnerst du dich? Du hast mir darauf geantwortet, dass du es mir nicht verraten könntest. Zumindest noch nicht. Ich werde es irgendwann erfahren, sagtest du. Ich fragte darauf, was denn so viel wichtiger sei, als dieser Tag heute. Doch du hast mir nur eines deiner herzerwärmenden Lächeln geschenkt. Danach hast du mir nur noch einen Kuss gegeben und bist gegangen.
Und jetzt sitze ich hier. Allein, nur mit einer warmen Tasse Kaffee. Heute – unser Hochzeitstag. Um genau zu sein, unser fünfter. Fünf Jahre sind wir schon verheiratet. Es ist eine seltsame Zahl. Nach all den vielen, vielen Jahren, die das Leben mir beschert hat, habe ich vor etwas mehr, als fünf Jahren endlich jemanden getroffen, der so ist, wie ich. Ich dachte, wir wären für einander bestimmt. Aber ist das auch wirklich so? Sag mir Mira, liebst du mich genauso, wie ich dich? Oder warum lässt du mich im Stich? Habe ich nur das Gefühl, oder distanzierst du dich wirklich immer weiter von mir? Oder bin ich nur paranoid?
Wir haben ein hübsches Haus, abgeschieden von den Menschen, einen hübschen Garten, sodass viele bestimmt eifersüchtig sind und einen fantastischen Ausblick.
Ich gehe nach draußen und stelle mich an die steile Steilküste. Hier geht es tief nach unten. Ein Sturz wäre sicherlich tödlich. Und dennoch haben wir uns dazu entschieden, genau hier zu wohnen und die Gefahrengebiete ungezäunt zu lassen. Weißt du auch noch, warum? Ich tue es. Erinnerst du dich noch an jenen Tag, als wir hier eingezogen sind? Ich lebe schon seit einer langen Zeit auf dieser Welt. Und doch erinnere ich mich an diesen Tag, als wäre es gestern. Dabei sind schon 2.126 Tage seit jeher vergangen. Es war der vierundzwanzigste November. Es wehte ein frischer Wind und der Himmel war völlig zugezogen, sodass es nach einem baldigen Schauer aussah. Zudem bedeckte ein dichter Nebel die ganze Landschaft und drohte damit, uns zu verschlingen. Wir gingen jedoch trotzdem weiter.
Du sagtest, dir sei kalt und ich gab dir daraufhin meine Jacke, damit du nicht frierst.
Wir haben uns diesen Ort zum Wohnen ausgesucht, da er viele Erinnerungen mit sich trägt. Eine davon, war unser Kennenlernen. Erinnerst du dich noch? Ich war so lange auf der Erde und hatte nach dir gesucht, ohne, dass ich es wusste. Als ich dich jedoch dann sah, wusste ich schließlich, was der Sinn meines Lebens ist. Hattest du es auch gespürt, oder hast du mir nur etwas vorgemacht?
Zudem sagtest du außerdem, dass dich dieser Abgrund, diese Aussicht, dieses Wasser an deine Familie und dessen Schicksal erinnert. Was du damit jedoch meintest, habe ich nie herausgefunden. Du wolltest darüber nicht sprechen. Das habe ich akzeptiert. Ich wollte dir mehr Zeit geben. Doch vielleicht ist es nun zu spät.
Obendrein meintest du auch, dass dieser Abhang uns stets an die gewaltige Macht der Natur erinnern und sie niemals vergessen. Sie herrscht über uns. Du hast behauptet, dass die Menschen glauben, dass sie sie unter Kontrolle hätten, aber dass das ein Irrtum sei. Ich muss zugeben, dass ich dir dabei nach wie vor Recht gebe. Die Natur ist stärker, als die Menschen glauben und sie zu unterschätzen ist ein großer Fehler.
Langsam atme ich die salzige Meeresluft ein und wieder aus und reiße mich von dem atemberaubenden Anblick auf die weiten des Meeres los.
Ich gehe in den Garten und pflücke eine rosa Zantedeschia. Jedes Mal, wenn wir uns trafen, schenkte ich dir eine dieser rosa Arumlilien. Erinnerst du dich noch? Du hast dich jedes Mal total gefreut. Andere Menschen verschenken an ihre Liebsten Rosen oder Tulpen. Ich wollte jedoch für dich etwas ganz Besonderes aussuchen. Ich wollte unseren Standpunkt, unsere Bedeutung. klarmachen. Somit ist mir damals diese Blume zugefallen. Als wir Schließlich hier zusammengezogen sind, haben wir diese Blume eingepflanzt. So konntest du sie jeden Tag sehen und dich daran erfreuen.
Aber was ist nun? Ich stehe nun hier, umgeben von Blumen. So viele Blumen und anderen Pflanzen. Doch keine davon ist wichtig. Einzig und allein die Arumlilien sind von Bedeutung.
Sag, wohin hat uns das Leben gebracht? War es der Sinn, dass ich heute, an unserem Tag hier sitze, ganz allein? Du bist nicht tot. Du bist nicht krank. Liegst nicht im Koma. Wurdest nicht entführt. Oder was es noch für wichtige Gründe gäbe, weshalb deine Abwesenheit entschuldbar wäre. Aber es war deine Entscheidung. Warum? Warum gerade heute? Ich weiß zwar, dass fünf Jahre nichts im Vergleich zu all der Zeit ist, die wir noch erleben werden, aber es fühlt sich falsch an. Es ist falsch. Also, warum tust du mir das an? Immerhin war die Hochzeit deine Idee. Ich sagte dir, dass die Zeit nicht drängt. Aber du wolltest es so unbedingt. Da konnte ich es dir einfach nicht abschlagen. Denn immer, wenn ich dich anschaue, verzauberst du mich mit deinem Blick. Jedes Mal. Immer und immer wieder.
Ich stehe auf, noch immer die Zantedeschia in meiner Hand. Langsam schlendre in den Weg entlang, zur Haustür. Dabei pfeift mir der frische Septemberwind noch einige Male um die Ohren. Aber mir ist nicht kalt. Trotzdem habe ich eine Gänsehaut. Aber ich glaube nicht, dass sie vom Wind kommt. Verdammt, du bescherst mir diese Gänsehaut! Wie lange war ich immer allein? Die ganze Zeit. Tag und Nacht. Eine lange Zeit – mein ganzes Leben lang. Aber erst seit ich dich kennen gelernt habe, ist mir die Einsamkeit begegnet. Noch nie habe ich mich so Einsam, so allein, so ... verloren gefühlt. Was ist das? Warum fühle ich mich so? Und du? Fühlst du das auch? Oder bist du froh, dass du mich endlich los bist?
Bevor ich hinein gehe, schweift mein Blick noch einmal über unseren Garten. Alles so, wie immer. Keine Auffälligkeiten. Was sollte auch schon sein?
Ich gehe hinein. Meine Schuhe ziehe ich vorne im Flur aus, bevor ich hinein gehe. Danach gehe ich direkt in die Bibliothek. Ich verkrieche mich hier in die hinterste Ecke. Denn hier liegen all unsere Erinnerungen versteckt. Kiste für Kiste hole ich heraus um zu sehen, was mich davon noch berührt.
Es ist mehr Zeug, als man sechseinhalb Jahre hätte verschenkt und oder benutzt haben könnte. Und wie ich feststellen muss, kennt ich vieles davon überhaupt gar nicht. Vieles davon habe ich noch nie zuvor gesehen. Wieso also ist es dann bitteschön hier, in unseren Erinnerungskisten? Wieso konntest du es nicht irgendwo anders verstecken? Platz genug haben wir dafür doch! Wieso musst du alles kaputt machen?
Wütend und frustriert packe ich die Sachen, die wild verstreut über den ganzen marmorierten Fußboden liegen, wieder zurück in die Kisten. Dabei muss ich ehrlich zugeben, dass ich nicht unbedingt die ganze Zeit so vorsichtig, wie vorhin beim Auspacken bin. Einige Sachen landeten mit viel Schwung in dem Behälter. Ich glaube sogar, dass ich dabei einige zerbrechende Geräusche gehört habe. Es kann sich dabei aber auch natürlich genauso gut um reinste Einbildung handeln.
Ich möchte die Kisten gerade wieder zurück ins Regal stellen, als plötzlich etwas meine Aufmerksam erregt. Ganz hinten, in der hintersten Ecke des Regals, war etwas. Es musste wohl aus einer der vollen Kisten herausgefallen sein. Ich krieche förmlich in den Schrank hinein, um das Objekt zu erreichen. Es ist nicht sonderlich groß. Das Objekt ist kaum größer, als eine Postkarte. Dennoch ist es das schönste Erinnerungsstück, das ich bei meiner Suche hier gefunden habe. Das schönste, an dem ganzen heutigen Tag.
In meinen Händen halte ich ein gerahmtes Bild. Darauf sind wir beide zu erkennen. Du und Ich und der Sonnenuntergang. Diese auf dem Foto abgebildete Erinnerung ist eine der schönsten meines ganzen Lebens. Wir waren damals so glücklich. Zwei lachende Gesichter schauten in die Kamera. Es scheint mir sogar, als wenn sogar die Sonne im Schlafanzug mit uns lächeln würde. Du hast mir dieses Bild kurz vor unserer Hochzeit geschenkt. Erinnerst du dich noch? Natürlich tust du das. Du musst es tun! Immerhin hast du es mir geschenkt, dieses Bild. Es war in hellblaues Geschenkpapier verpackt, worauf bunte Regenbögen leuchteten. Du hast mich aufgefordert, ja geradezu gedrängt es sofort aufzumachen.
Ich möchte damit einige Schritte ins Licht machen, um das Bild besser betrachten zu können. Doch plötzlich stolpere ich über eine der Kisten. Ich falle. Der Boden kommt immer näher. Schließlich erfolgte der harte Aufprall. Das wird sicherlich einige blaue Flecken geben. Doch nichts ist so schmerzhaft, wie das scheppernde Geräusch, des zersprungenen Glases und zerbrochenen Bilderrahmen des Bildes, bei dem Aufprall.
Sofort krieche ich zu meinem wertvollstem Hab und Gut, das verteilt über den Boden verstreut lag. Erleichtert atme ich aus, als ich sehe, dass allem Anschein nach nur der rahmen beschädigt ist. Auf dem Bild ist nicht der geringste Kratzer zu sehen. Vorsichtig nehme ich es in die Hand und löse es aus dem kaputten Rahmen.
Ich drehe das Objekt auf die Rückseite, um den Bilderrahmen zu öffnen. Als ich das Hinterteil abnehme, kommt die Rückseite des Bildes zum Vorschein. Erschrocken schnappe ich nach Luft, in der Hoffnung, das alles ist nur eine miese Einbildung. Doch das war es nicht. Vorsichtig nahm ich das Foto aus dem Rahmen und rannte damit in die Küche, um es dort besser und in Ruhe betrachten zu können. Aber tatsächlich. Es war keine Einbildung gewesen. Alles war echt indem es unecht war. Eine Lüge. Über all diese Jahre.
Ich wende das Bild mehrere Male, nur um Sicherzugehen. Rückseite. Vorderseite. Rückseite. Vorderseite. Rückseite. Vorderseite. Rückseite. Vorderseite. Rückseite. Vorderseite.
Doch auch davon wird die Botschaft, die auf der Hinterseite geschrieben stand nicht besser. Diese Schrift ist mir nur allzu vertraut. Mit den hübschen Schnörkeln und den Verzierungen. So lange habe ich sie nicht mehr gesehen und mir nie was dabei gedacht.
Aber allem Anschein nach, hattest du keine Zeit, als du mir diese Nachricht geschrieben hast. Du wusstest, was passieren wird, konntest es mir aber nicht sagen. Du konntest nur eine versteckte Nachricht mir hinterlassen. Und ich bin so dumm und finde sie erst nach fünf ganzen Jahren.
Denn in zittriger, geschwungener roter Handschrift stand dort geschrieben:
„Alexis, mein Schatz. Sei Gewiss, dass ich dich immer lieben werde. Ich schreibe dir diese Nachricht, obwohl ich nicht weiß, ob du sie jemals finden wirst. Aber falls doch dann möchte ich dir dies sagen: Die Person, die du morgen heiratest, ist nicht ich. Sie werden mich heute Nacht holen und mitnehmen – HILF MIR! Es ist noch nicht zu spät.
Die Zeit ist der Schlüssel!
Ich liebe dich!
Mira
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