Eins
Wenn ich die Wahl hätte, würde ich immer ein Gewitter als Anfang wählen. Nichts passte besser zu den Nächten, die ich mit Maya teilte.
Als ich ganz stillhielt, konnte ich die Welt draußen singen hören: die Äste wiegten sich zum Rhythmus des Windes, während der Regen Applaus klatschte. Ich zog die Vorhänge wieder zu und ließ mich rücklings aufs Bett fallen.
In wenigen Stunden würde vom Unwetter nicht mehr übrig sein, als die Wasserpfützen auf dem Asphalt und der Geruch frischer Luft.
So waren auch meine Träume. Sie hatten zwar diesen furchtbaren Drang, mit dramatischen Toden zu enden, aber wenigstens endeten sie. Mir blieb immer der Moment, in dem ich realisieren konnte, dass meine Schwester neben mir lag und friedlich schlief. Nur ein Unwetter. Nur ein Traum.
Ich drehte meinen Kopf zur Seite, sodass mein Blick auf Maya lag.
Ich traute mich nicht, das Licht anzumachen, denn ich wollte sie nicht wecken. Also beugte ich mich stattdessen zur Seite und strich mit meinen Fingerkuppen über ihre Locken.
Das pfeifende Geräusch ihrer Atemzüge sollte mich beunruhigen, doch stattdessen hatte es etwas Vertrautes an sich. Ich spürte, wie die Müdigkeit langsam zurück in meine Knochen kroch und schloss meine Augen.
Ich würde in dieser Nacht nicht mehr genug Schlaf kriegen. Aber ich schätze, das war in Ordnung.
»Guten Morgen Zea!«, flötete meine Mutter, kaum hatte ich die Küche betreten.
»Morgen Ma«, antwortete ich, halb gähnend.
Nachdem ich mir schnell eine Schüssel Cornflakes gemacht hatte, setzte ich mich an den Tisch zu meiner Mutter.
»Hab ich dich heute Nacht geweckt?«, fragte sie mich sogleich.
Ich schüttelte den Kopf. »Alles gut. Mal davon abgesehen, dass ich Maya auch umdrehen könnte. Das ergibt viel mehr Sinn, außerdem ist es nur die eine Nacht.«
Diese Diskussion hatte ich schon öfter angefangen und so wie meistens beließ es meine Mutter bei einem einfachen Kopfschütteln. Auch der Rest des Frühstücks fiel schweigsam aus, was jedoch hauptsächlich daran lag, dass mein Gehirn sich erst wieder daran erinnern musste, wie es ordentlich funktionierte. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte mir, dass sich der Zeiger unaufhörlich auf halb acht zubewegte. Ich musste gleich los, sonst kam ich zu spät. Was wahrscheinlich keinen Lehrer stören würde, denn sie waren, genauso wie wir, geistig längst in die Osterferien abgedriftet. Aber es gab für mich nicht Unangenehmeres, als die Blicke und das Tuscheln meiner Mitschüler, wenn man zu spät die Raumtür öffnete. Darum nahm ich mir hastig einen Apfel, schmierte mir ein Brot und füllte eine Flasche mit Wasser. Danach packte ich alles in meine Tasche, drückte meiner Mutter einen Kuss auf die Wange und war auch schon zur Tür hinaus.
In einem gemächlichen Tempo ging ich den gewohnten Weg entlang. Noch war außer meiner dumpfen Schritte nichts zu hören, die ersten Schüler würde ich wahrscheinlich erst in einigen Minuten antreffen.
Nicht, dass es einen großen Unterschied gemacht hätte, die Musik, die aus meinen Kopfhörern erklang, wäre sowieso mein einziger Begleiter geblieben.
Vieles wäre deutlich einfacher, wenn sie mich schlichtweg nicht mögen würden. Oder wenn sie wenigstens einen Grund hätten, mich nicht zu mögen.
Aber sie ärgerten mich weder, noch ließen sie sich über mich aus. Für sie war Zea einfach nur Zea aus Französisch, Mathematik oder einem anderen verhassten Fach, so wie sie auch für mich nur ein Meer fremder Gesichter waren.
Man gewöhnte sich erstaunlich schnell daran.
Ich zog meine Jacke enger vor meiner Brust zusammen, als mir ein kühler Aprilwind entgegenschlug. Meine Füße trugen mich weiter Richtung Schule, während meine Gedanken ihre eigenen Wege einschlugen. Bald hatte ich Ferien und endlich genug Zeit.
Ich betrat den Raum fünf Minuten vor dem Klingen. Wie gewohnt setze ich mich auf meinen Platz, um sogleich von Lea begrüßt zu werden.
»Hey Zea.« Manchmal vergaß ich, dass Lea meine beste Freundin war. Oder gewesen ist. Um ehrlich zu sein hatte ich keine Ahnung, wie wir noch zueinanderstanden. Sie saß neben mir in Geschichte, grüßte mich immer und fragte manchmal nach Maya. Keine langen Telefonate, Ausflüge in die Stadt oder Filmeabende mit viel zu vielen Süßigkeiten. Jedenfalls nicht mehr. Früher gab es so etwas zu Genüge. Stunden, in denen wir nur lachten. Früher musste ich mich nicht fragen, ob Lea meine beste Freundin war, weil ich genau wusste, dass sie es ist. Sie war das Mädchen, deren Namen sich auf meinen reimte.
»Hi«, antwortete ich. Die Zeit, in der wir uns gegenseitig ignorierten, lag hinter uns. Aber ich bezweifelte, dass die Alternative wirklich besser war.
Geschichte verging, ebenso die darauf folgenden Stunden. Der Vorteil in der Oberstufe war, dass ständig irgendetwas ausfiel und ich ich dadurch öfter Freistunden hatte. Meine heutige nutze ich dazu, um aus der Bibliothek neue Bücher auszuleihen. Ich würde sie Maya vorlesen oder Papa würde das tun. Er war eindeutig der bessere Erzähler.
Nachdem auch der Rest des Tages ereignislos vorbeigezogen war, konnte ich endlich wieder nach Hause gehen.
»Ich bin wieder da!«, rief ich, kaum hatte ich die Tür aufgeschlossen.
»Wohnzimmer«, kam die ziemlich knappe Antwort. Meine Schuhe und die Tasche im Flur liegen lassend ging ich zu meiner Familie. Maya lag in den Armen meines Vaters und meine Mutter hielt eine Zeitschrift in der Hand. Zuallererst küsste ich meine Schwester auf die Stirn und meinem Papa auf die Wange, dann setze ich mich neben Ma.
»Irgendwelche Anfälle heute?«, erkundigte ich mich.
»Nur die üblichen.« Wie zur Bestätigung prallte Mayas Hand unkontrolliert gegen ihre Seite. Sie litt schon lange an epileptischen Anfällen. Hunderte, tausende, minimale Zuckungen jeden Tag.
»Was liest du da?« Ich guckte meiner Mutter über die Schulter.
»Ein Artikel in der neuen Zeitung aus dem Krankenhaus..«
Schräg überflog ich ebenfalls den Artikel. »... ihr Sohn leidet an spätinfantiler neuronaler Ceriod-Lipofuzinose, auch NCL2 genannt. Bei dieser unheilbaren Krankheit verlieren die Kinder schrittweise ihr Augenlicht, die Fähigkeit zu sprechen, sich zu bewegen und haben mit Krampfanfällen zu kämpfen ...«
Das wusste ich alles schon, immerhin sah ich es tagtäglich selbst. Enttäuscht lehnte ich mich wieder zurück. Kurz war die Hoffnung in mir aufgekeimt, etwas Neues zu erfahren. Neue Studien, neue Erfahrungen.
Aber so war es mit der Hoffnung: Sie blühte auf, leuchtete in den prachtvollsten Farben. Doch eines Tages würde sie eingehen und mit ihr all der Glanz, den sie verbreitet hatte. Die Blumen, die in unserem Garten gewachsen waren, nur um wieder zu verwehen, könnten in ihrer Masse wohl die Tulpenfelder Amsterdams übertrumpfen.
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