Drei
Während ich Maya zurückschob, widmete ich Levins frecher Bemerkung mehr Gedanken, als sie es überhaupt wert war. Nun gut, man bekam nicht jeden Tag hinterhergerufen, dass man sich nicht verlieben sollte. Wie kam Levin überhaupt auf diese Idee? Ich hatte bis heute Morgen noch nicht mal ein Wort mit ihm ausgetauscht, wieso sollte ich mich also in ihn verlieben? Ich schüttelte den Kopf. Wenigstens war es ein halbwegs origineller Anmachspruch.
Da ich es die letzten siebzehn Jahre anscheinend auch geschafft hatte, ihn nicht außerhalb der Schule treffen, war ein weiteres Wiedersehen sehr unwahrscheinlich. Jetzt sollte ich mich wirklich wichtigeren Dingen zuwenden. Ein Blick auf Maya zeigte mir, dass sie eingeschlafen war, also ging ich eilig weiter. Bei Ma angekommen, beschlossen wir, nach Hause zu gehen. Wir waren nicht lange im Park gewesen, aber ein Blick in den Himmel entlarvte die dunklen, Regen versprechenden, Wolken.
Tatsächlich, kaum fiel die Haustür hinter uns ins Schloss, fing es auch schon an, in Strömen zu gießen. »Das war knapp«, sagte meine Mutter und grinste. Gemeinsam brachten wir Maya zu Bett, bevor wir in die Küche gingen, um das Mittagessen vorzubereiten.
»Hast du irgendwas für die Ferien geplant?«, fragte sie mich. Ich zuckte mit den Schultern, auch wenn sie dies, da sie mit dem Rücken zu mir stand, nicht sehen konnte.
»Nein, eigentlich nicht. Wieso?«
»Ich frage nur. Du warst lange nicht mehr weg.«
»Ist schon in Ordnung.«
Nun drehte sich meine Mutter doch zu mir um. »Zea, du kannst nicht immer hier drinnen rumhocken. Sonst endest du noch wie ich.« Sie lachte, doch ich bemerkte trotzdem ihren sorgenvollen Blick.
»Wirklich, mir geht's gut. Ich werde Lea anrufen, okay?«
Kurz durchzuckte mich das schlechte Gewissen angesichts dieser Lüge, die mir so leicht über die Lippen gekommen war. Aber meine Mutter machte sich umsonst verrückt. Zum Glück gab sie sich nun mit dieser Antwort zufrieden und widmete sich wieder dem Gemüse. Ich für meinen Teil verzog mich für einige Minuten in mein Zimmer, bevor ich leise zu Maya schlich. Es klang komisch, aber meiner Schwester beim Schlafen zuzusehen, beruhigte mich.
Ihre sanften Gesichtszüge ließ die Erlösung erahnen, die sie wenigstens in ihrem Schlaf fand. Ihre Träume waren ihr einziger Ausweg aus diesem ungerechten Körper.
Ich hatte mich unweigerlich gefragt, warum ein solch unschuldiges Geschöpf so viel Leid ertragen musste. Sie wird nie die Chance haben, das zu werden, was sie hätte sein können. Ein ganzes Leben wurde erstickt, ehe es sich entfalten konnte.
Aber Maya war meine Prinzessin. Ich würde niemals zu lassen, dass ihr Königreich zugrunde geht.
Ein leises Seufzen entfuhr mir. Ich hatte es immer als unerträglich gekünstelt empfunden, wenn in Filmen die bekannten drei Wörter fielen. Und doch sprach aus mir nur die Wahrheit, wenn ich sagte, dass ich Maya mit aller Hingabe liebte.
»Ist das nicht schön, Maya? Jetzt hat die kleine Momo neue Freunde gefunden.« Ich legte das Lesezeichen in die entsprechende Stelle und klappte das Buch zu. »Das war's für heute.«
Nachdem ich Maya auf meinen Schoß gezogen hatte, vergrub ich mein Gesicht in ihren Haaren. Als müsste ich ihren Duft nur oft genug einatmen, um ihn nie zu vergessen. Ich hauchte gerade einen Kuss auf ihren Scheitel, als die Tür aufging.
»Hier seid ihr also.« Papa blieb im Türrahmen stehen.
»Hallo, Papa«, sagte ich und winkte.
»Hallo, ihr Süßen.« Er kam auf uns zu, umarmte erst mich und hob dann Maya hoch. Als er sie kitzelte, konnte er ihr sogar ein kleines Lachen entlocken. Dann sah er mich mit gespielter Entrüstung an. »Habt ihr etwa ohne mich gelesen?«
Ich musste ein Grinsen unterdrücken. »Wie kommst du denn da drauf?«
»Lass mich mal überlegen ... vielleicht, weil wir das letzte Mal nur fünf Seiten geschafft haben, bevor unsere Kleine hier eingeschlafen ist?« Diesmal kitzelte er meine Schwester an den Füßen, was diese mit einem göttlichen Gesichtsausdruck quittierte.
Als mein Blick durch das Zimmer schweifte und an meiner schnell in die Ecke geworfene Schultasche hängen blieb, kam mir plötzlich etwas in den Sinn. »Werdet ihr Maya wieder auf die Schule schicken?« Maya war nur ein halbes Jahr auf die Blinden- und Behindertenschule in der Nähe gegangen, dann hatte sich ihr Zustand so rapide verschlechtert, dass sie dazu in den letzten Wochen nicht mehr in der Lage gewesen war. Momentan ging es ihr wieder besser, hauptsächlich der fast gänzliche Verlust ihrer Sprache erinnerte an ihren letzten Anfall, doch ich wusste nicht, ob sie tatsächlich schon wieder zur Schule gehen konnte. Zwar galt bei ihr nicht die Schulpflicht, jedoch tat es Maya gut, mit anderen Kindern Zeit zu verbringen.
Mein Vater zuckte ein wenig ratlos mit den Schultern.
»Mal sehen, was die Ärzte sagen.«
»Wann ist der nächste Termin?«
»Am Donnerstag, also in fünf Tagen.«
»Und die Physiotherapeuten?«
»Kommen übermorgen.«
»Und das nächste Treffen?«
»Zea, ich bin kein wandelnder Kalender, frag deine Mutter.«
Wir konnten uns beide ein Lachen nicht verkneifen. Danach drehte sich mein Vater mitsamt Maya um und verließ das Zimmer. Ich wollte ihnen schon folgen, als ein dumpfes Klingeln mich innehalten ließ. War das nicht mein Handy? Ich zog es verwundert unter meinem Kissen hervor, wo es vorhin runtergerutscht sein musste und sah, dass mich tatsächlich jemand anrief. Eine unbekannte Nummer.
»Hallo?«, hob ich zögerlich ab.
»Hey Zea.« Es vergingen einige Sekunden, bis ich die Stimme am anderen Ende der Leitung erkannte.
»Levin?!«
»Wer denn sonst?«
»Woher hast du meine Nummer?«, fragte ich ihn verwirrt. Ich hörte sein Lachen. »Wir haben zufällig einen Jahrgangschat auf WhatsApp«, erklärte er.
»Ach so. Und was willst du?«, fragte ich harscher als gewollt.
»Ich wollte dich fragen, ob du Lust hast, die Ferien mit mir zu verbringen.« Ich konnte das Grinsen in seiner Stimme selbst übers Telefon hören.
»Bitte, was?«
Er ignorierte meine Verwirrung und fuhr fort: »Ich erkläre es dir besser persönlich. Ich steh vor eurem Haus.«
»Was?!«
»Ich klingle jetzt. Bis gleich.«
Ehe ich reagieren konnte, hatte er schon aufgelegt. Dafür ertönte unten die Haustürklingel. Das war doch ein schlechter Scherz? Schnell wechselte ich meinen Pyjama gegen ein schlichtes Shirt und eine Jeans. Danach lief ich in den Flur, und tatsächlich, da stand er. Von wegen geringe Wahrscheinlichkeit, uns wiederzusehen.
»Levin«, brachte ich überrascht und immer noch ziemlich verwirrt, hervor.
»Ah, du kennst den jungen Mann?« Meine Mutter, die ihm aufgemacht hatte, blickte erst mich an und dann wieder Levin.
»Tut mir leid für die Störung. Zea und ich müssen in den Ferien eine Präsentation vorbereiten, also wollte ich ihr nur kurz meine Materialien vorbeibringen«, erwiderte Levin nun in bester Heiligenschein-Imitation. Fassungslos über diese Lüge konnte ich nichts Anderes tun, als ihn weiter stumm anzustarren.
»Na, wenn das so ist, dann komm doch rein. Wir wollen gleich essen, willst du auch was? Ach übrigens, ich heiße Julia«, plapperte meine Mutter fröhlich drauf los. Zum Glück erinnerte ich mich daran, wie man sprach, ehe das Szenario noch peinlich werden konnte.
»Ähm, genau, wir müssen nur was gemeinsam für den Kurs machen«, sagte ich schnell und zog Levin an seinem Ärmel mit.
Ich schloss die Zimmertür, bevor ich ihn mit verschränkten Armen ansah. »Was soll das?«, fragte ich ihn. Er setzte sich auf den Rand meines Bettes und sah sich um. Ich bemerkte, wie sein Blick kurz an Mayas Bett festhing, doch er sprach mich nicht darauf an. Stattdessen sagte er: »Schön hast du es hier.«
»Woher weißt du, wo ich wohne?«, betonte ich hartnäckig. War er ein verrückter Stalker? Sollte ich meiner Mutter vielleicht doch heimlich eine SMS schreiben, dass sie die Polizei rufen sollte?
»Ich hab Lea gefragt. Ihr seid doch befreundet, oder? Ich hab euch manchmal in den Pausen zusammen gesehen. Jedenfalls hab ich ihr dasselbe mit der Präsentation erzählt. Aber wie gesagt: eigentlich wollte ich dich fragen, ob du mit mir was unternehmen willst.«
»Ich kenne dich noch nicht mal!«, platzte es aus mir heraus. Den Teil in mir, der Levin in diesem Moment für sein Selbstbewusstsein beneidete, ignorierte ich gekonnt.
»Wir können uns ja kennenlernen. Wie du weißt, ist Levin mein Name, ich bin frische achtzehn Jahre alt und ab heute dein neuer Ferienkumpel.« Er stoppte kurz. »Wenn du willst«, schob er dann schnell hinter her.
Frustriert fing ich an, durch mein Zimmer zu laufen. So kam ich nicht weiter. Irgendetwas sagte mir, dass Levin zwar nicht gleich mit einem Messer aufspringen und mich niedermetzeln würde, aber das machte diese ganze Situation nicht weniger merkwürdig. Vielleicht war das Ganze eine alberne Wette?
»Dann erkläre mir wenigstens eins: Warum?«, startete ich einen weiteren Versuch, etwas Brauchbares aus Levin herauszubekommen. Ich blickte schnell auf seine Hände, um herauszufinden, ob er mich vielleicht heimlich mit seinem Handy filmte, aber sie waren leer.
Levin lächelte. »Ich dachte schon, du fragst nie. Nun, ich gehöre nicht zu den Menschen, die an Schicksal glauben. Aber wenn mir morgens ein Mädchen vor die Füße geworfen wird, dann verstehe selbst ich diesen Wink.«
Levin war echt unglaublich.
»Dann verstehst du hoffentlich auch den Wink, wenn ich dir sage, dass du nun bitte wieder gehen solltest«, entgegnete ich auf seine glorreiche Begründung.
»Ach, komm schon.« Levin zog eine Schnute. »Hast du keine Lust auf ein wenig Spaß?«
»Nein.«
»Ein kleines Abenteuer?«
»Nein.«
»Willst du nicht erzählen können, was du so Tolles in den Ferien gemacht hast?«
»Nein.«
»Nun, ich sehe, du bist sehr pessimistisch veranlagt.«
»Bin ich nicht!«
Seufzend fuhr ich mir durch die Haare.
»Hast du keine Freunde, die du nerven kannst?«, fragte ich ihn, nicht ohne dabei die Augen zu verdrehen.
»Nein«, antwortete er, mich imitierend. »Sind alle verreist«, fügte er dann noch hinzu.
Ich seufzte noch einmal. »Jetzt hör mir mal zu. Ich finde es ja echt ... nett von dir, dass du mit mir die Ferien verbringen willst, aber ich habe leider überhaupt keine Zeit.«
»Sag nicht, du fliegst weg?«
Sollte ich ihn anlügen? Das Eingeständnis, dass ich meine Ferien nur mit meiner Familie verbringen wollte, erschien mir absurderweise wie eine Kapitulation.
»Ah, zum Glück nicht.« Levin grinste mich an und stand dann auf.
»Ich habe noch nicht mal geantwortet?«
»Man muss nicht minutenlang überlegen, wenn man weiß, dass man verreist.«
Ich schwieg und tat so, als hätte ich auf dem Boden gerade etwas äußerst Interessantes entdeckt. Staub oder so.
»Bitte, Zea.« Ich hörte, wie er näherkam, und sah, wie sich seine Socken in meinen Blickwinkel schoben. »Hey, ich weiß, du denkst jetzt, ich wäre komplett durchgeknallt.«
Ich verkniff mir eine Bemerkung. Komplett durchgeknallt war wohl die Untertreibung des Jahrhunderts.
»Denk wenigstens drüber nach. Ich verspreche dir, ich habe nichts vor oder so. Aber meine Freunde sind alle weg und ich fand dich heute echt ... äh, nett?«
Vielleicht war es der kurze Anflug von Unsicherheit, der zwischen seinen Worten erklang und mir meine Abneigung für einen Moment nahm. Ich wollte schon zur Antwort ansetzen, als jemand laut an meiner Tür klopfte.
»Ja?«, sagte ich, nachdem ich hastig zwei Meter nach hinten gesprungen war und somit die Wand schmerzhaft in meinem Rücken spürte.
Meine Mutter steckte ihren Kopf herein und lächelte unschuldig. »Oh, störe ich etwa? Das Essen ist fertig.«
»Ich komme sofort«, antwortete ich.
»Bleibt dein Freund etwa nicht?«
Ich schluckte die Erwiderung, dass Levin nicht mein Freund war, herunter und sagte trocken: »Nein, er wollte gerade gehen.« Zum Glück spannte Levin meine Geduld nicht länger auf die Folter, sondern nickte einfach nur zustimmend.
»Ich bringe ihn nur zur Haustür, fangt ihr ruhig schon an.«
»Besuch uns gerne nochmal«, ließ sich Ma ihre letzten Worte an Levin nicht entgehen, ehe sie sich Richtung Küche verzog.
»Komm«, murmelte ich wieder an Levin gewandt und ging voraus. Als er schließlich seine Schuhe angezogen hatte und draußen auf der Matte stand, sah er mich nochmal an.
»Sag mir morgen Bescheid, okay? Ich ruf dich an.«
Ich nickte einfach nur. Hauptsache er ging jetzt.
»Bis morgen, Zea.« Mit dieser Verabschiedung verschwand er in die Abenddämmerung. Erschöpft schloss ich die Haustür und lehnte mich einen Moment an sie. Ich konnte schon die Flut an Fragen erahnen, die mich im Esszimmer erwartete. Auf die meisten würde ich wahrscheinlich noch nicht mal selbst eine Antwort wissen. Levin war so ... anders. Nicht, dass ich viel Erfahrung gehabt hätte, aber trotzdem hatte ich keinen Plan, wie ich ihn einschätzen sollte. Die meisten Menschen, die ich kannte, tauchten nun mal nicht einfach vor meiner Haustür auf und verlangten, mit mir die Ferien zu verbringen.
Und vor allem war in meinem Kopf momentan einfach kein Platz dafür. Ich konnte mich prima selbst um meine Freizeit kümmern. Kopfschüttelnd ging ich zu meiner Familie, auch wenn selbst das Levin nicht aus meinen Gedanken vertrieb.
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