Die Sternensammlerin

Fühlst du eine Leere in deinem Herzen? Kennst du das Gefühl, nichts erreichen zu können, während eine unstillbare Sehnsucht in dir wächst, etwas zu bewirken?

Domoritia ist damit nur zu vertraut. "Warum stehe ich auf?" Diese Frage stellt sie sich jeden Tag beim Aufwachen. So auch an diesem sonnigen Tag im Blütenwald.

Seufzend schwingt Domoritia die Beine über die Bettkante und tapst zu ihrer Waschschüssel. Während sie ihr Gesicht reinigt, steigt eine Erinnerung aus den Tiefen ihres Gehirns an die Oberfläche. Eine Erinnerung an ein Wesen, dass diese Leere angeblich wieder füllen und andere sogar wieder glücklich machen kann. Domoritia schüttelt den Kopf, so dass die Strähnen ihres rabenschwarzen Haares in alle Richtungen fliegen.

Dieses Wesen existiert nicht. Das ist bloß eine Sage. Ein Ammenmärchen, um uns Hoffnung zu schenken.

Domoritia trocknet ihr Gesicht ab und verlässt anschließend ihr Zimmer. Während sie barfuß den Holzsteg entlangläuft, der sich spiralförmig an dem Baumstamm entlang windet, kommt eine leichte Brise auf. Der Duft nach frischen Kräutern aus dem nahegelegenen Kräutergarten und Regentropfen berührt sie nicht. Weckt nicht einmal das kleinste Glücksgefühl in ihr. Domoritia seufzt abermals und nach einer Weile ist sie auf dem Waldboden angekommen.

"Einen sonnigen Morgen!" Die glockenhelle Stimme lässt Domoritia den Kopf drehen. Eine zierliche, junge Elfe läuft strahlend auf sie zu."Guten Morgen, Feya." Die leichte Traurigkeit in ihrer eigenen Stimme jagt einen Schauer Domoritias Rücken hinab.Ist es schon so weit vorangeschritten? Ich muss unbedingt etwas dagegen unternehmen, aber was?"Kommst du mit zum See?" Feya blickt Domoritia mit strahlenden Augen an. "Wir brauchen die Lilien, wenn wir bis zum Frühlingsfest die Tränke gebraut haben wollen."Kurz zögert Domoritia, doch dann nickt sie.Vielleicht wird meine Sehnsucht dadurch etwas gestillt."Wundervoll." Feya ergreift Domoritias Hand und zieht sie mit sich.

Vogelgesang begleitet die beiden, ebenso das Summen der Bienen. Nach einer Weile dringt das vertraute Plätschern des Sees an Domoritias Ohren. Plötzlich bleibt Feya stehen. Alarmiert hält Domoritia ebenfalls an.

"Was ist los?", will sie wissen und schaut sich um, kann jedoch keine Bedrohung ausmachen. Feya atmet tief ein. Domoritias Blick kehrt zu ihr zurück. Mit geschlossenen Augen und einem friedlichen Gesichtsausdruck steht ihre Freundin da."Es ist so herrlich hier. Das sanfte Plätschern des Sees, die verschiedenen Vögel. Hach, einfach wunderbar.""Wenn du meinst." Domoritia zuckt nur mit den Schultern.Feya öffnet wieder die Augen. Mit gerunzelter Stirn mustert sie Domoritia. "Was bedrückt dich, meine Freundin? Bitte, sprich nur.""Jetzt fällt dir auf, dass ich nicht glücklich bin?" Domoritia zieht die Augenbrauen hoch. "Sehr aufmerksam von dir, meine Freundin."Feya ergreift Domoritias Hand und zeichnet kleine Kreise mit ihren Fingern auf den Handrücken. "Glaube mir, dein Kummer ist mir sehr wohl bekannt und vertraut. Ich kann die Leere sehen, die sich wie eine Spinne in deinem Herzen eingenistet hat. Du bist einem Schritt vom Abgrund entfernt."Feyas Worte erwecken Domoritas Tränen aus dem Winterschlaf. Wie ein Bach, dessen Staudamm zerstört wurde, fließen sie Domoritas Wangen hinab. In der nächsten Sekunde kauert Domorita am Boden, die Arme um ihren Oberkörper geschlungen und wiegt sich vor und zurück. Feya hält ihre Hand und summt leise. "Ich ... Ich will nur, dass es aufhört." Domorita schnieft und wischt die Tränen von ihren Wangen. "Bitte, sag mir, was ich tun kann.""Die Sternensammlerin kann dir helfen." Feyas Stimme ist zu einem Raunen geworden und sie streichelt mit der freien Hand Domoritas Rücken. "Such sie auf und die Leere wird aus deinem Herzen verschwinden."Domorita schüttelt den Kopf. "Die Sternensammlerin existiert nicht. Niemand weiß, wo sie wohnt oder wie man zu ihr gelangen kann.""Das liegt daran, dass sie dich zu sich ruft, wenn die Zeit gekommen ist. Folge ihrer Stimme und du wirst zu ihr gelangen", haucht Feya. "Warum habe ich dann noch nie ihre Stimme vernommen? Die Leere ist nicht erst gestern in mir erwacht!""Diese Frage kann dir nur die Sternensammlerin beantworten." Sanft zieht Feya Domoritia wieder nach auf die Füße. "Du kannst die Lilien pflücken und ich singe die Lieder der Sonne. Mit etwas Glück bringt dich das auf andere Gedanken. Was sagst du dazu?"Domoritia nickt nur. Ein Lächeln schleicht über Feyas Lippen.

Der erste Ton erklingt, kurz nachdem Domoritia den See erreicht hat. Tatsächlich spürt sie, wie sich die Leere ein wenig aus ihrem Herzen zurückzieht und während sie die erste Lilie pflückt, glaubt sie sogar, den Hauch des Glücks zu spüren. Doch kaum, dass sie alle Lilien gepflückt hat, verschwindet dieser Hauch und die vertraute Leere kehrt mit all ihrer Beklommenheit zurück.

Mit gesenktem Kopf steigt Domoritia den kleinen Hügel beim See hinauf. "Komm zu mir." Diese sanfte Stimme legt sich wie ein warmer Mantel um Domiritia. Sie hält an und lässt den Blick über ihre Umgebung schweifen. Nichts. Niemand zu sehen. Vermutlich habe ich mir das nur eingebildet. Domoritia läuft ein paar Schritte und steht wenig später neben Feya. "Hat dir mein Gesang etwas geholfen?""Ein ..."Komm zu mir, Domoritia! Ich spüre deinen Schmerz." Schon wieder diese körperlose Stimme.Feya nimmt Domiritas Hand. "Ist alles in Ordnung? Du hast abwesend gewirkt."
"Hast du eben auch eine Stimme vernommen?"Feya schüttelt den Kopf, doch dann strahlt sie Domoritia an. "Wieso schaust du mich so an?""Die Sternensammlerin hat dich gerufen! Worauf wartest du noch? Folge ihrer Stimme, los doch.""Was? Aber ich kann doch nicht einfach alles stehen und liegenlassen. Du hast selbst gesagt, dass wir ..."Feya hebt eine Augenbraue. "Geh schon, ich richte aus, dass du bei der Sternensammlerin bist.""Danke." Domoritia setzt sich in Bewegung.

"Komm zu mir!"

Domoritia folgt dem sanften Klang der Stimme. Tiefer und tiefer in den Wald hinein. An Sträuchern und Bäumen vorbei, die sie noch nie gesehen hat. Über einen Fluss, in dessen Wasser sich kleine Fische tummeln und schließlich zu einer Lichtung, auf der eine moosbewachsene Hütte thront. Domoritia bleibt stehen und schluckt.Was erwartet mich dort drinnen? Wie kann diese Sternensammlerin mir helfen?Nachdem sie noch einmal tief Luft geholt hat, klopft sie an die Tür. Lautlos schwingt sie nach innen. "Bitte, tritt ein."Zögernd tritt Domoritia über die Schwelle.

Augenblicklich wird ihre Nase von verschiedenen Kräutern und Veilchen begrüßt. An einem Tisch aus Eichenholz in der Mitte des Raumes sitzt eine zierliche Frau, deren Haar silbern leuchtet.

"Ihr seid die Sternensammlerin." Gemeint war die Frage höflich und Domoritia erschrickt selbst über die leichte Anklage in ihrer Stimme."Das ist richtig und ich verstehe deinen Vorwurf mir gegenüber." Die Frau steht auf und schwebt zu Domoritia hinüber. "Allerdings warst du vorher noch nicht so weit.""Nicht so weit?!" Domoritia ballt die Fäuste. "Wer seid Ihr, dass Ihr glaubt, Euch anmaßen zu können, darüber Bescheid zu wissen, wann ich für etwas bereit bin und wann nicht?! Ihr sitzt den ganzen Tag hier in Eurer Hütte! Wart Ihr jemals unten bei meinen Leuten?! Habt Ihr jemals die Menschen an der Nordküste besucht oder die Wellensittiche im Südlichen Dschungel?!" "Komm mit, ich zeige dir etwas", haucht die Sternensammlerin. "Na, schön", brummt Domoritia.

Die beiden verlassen die Hütte. Die Sternensammlerin führt Domoritia zur Nordseite der Hütte und nach einer Weile erreichen sie ein Podest, auf dem eine silberne Schale steht. Die Sternensammlerin berührt die Schale mit der linken Hand und schon erblickt Domoritia einen Nachthimmel voller Sterne in der Schale. Die Sterne wispern sanft. Zu leise für Domoritias Ohren, obwohl sie als Elfe ein sehr gutes Gehör hat.

"Jede Nacht unterhalte ich mich mit den Sternen. Sie erzählen mir, was die Elfen, Menschen, Wellensittiche und alle anderen Völker des Reiches bewegt. Weißt du, was Sterne sind?""Feuerbälle. Das weiß doch jedes Kind!"Die Sternensammlerin schüttelt sanft den Kopf. "Sterne sind Helfer der Götter. Jeder einzelne von ihnen wurde mit Schutz einer Person beauftragt. Sie kennen deine Träume und Wünsche, egal wie tief du sie zu verbergen versuchst.""Damit helft Ihr also denen, die zu Euch kommen? Indem Ihr göttliche Helfer tötet?! Ihr seid eine Mörderin!"Die Sternensammlerin schenkt Domoritia ein freundliches Lächeln. "Ich töte nicht. Niemals. Nur ein gefallener Stern kann gesammelt werden und um zu fallen, muss sich der Stern entscheiden, sein Leben zu opfern. Wenn Ihr es so betrachtet, rufe ich die eigenen Wünsche und Träume wieder in Erinnerung, die zuvor verloren gegangen sind."Domoritia schluckt. Die Leere soll verschwinden, aber ich werde niemanden dafür töten! Ich bin doch keine Mörderin!"Das ... Das könnt Ihr nicht ernst meinen! Ich werde doch niemanden opfern, nur um wieder glücklich zu werden!""Die Entscheidung trefft nicht Ihr, sondern Euer Stern." Domoritia schüttelt den Kopf. "Ich lebe schon ein paar Monate mit der Leere in meinem Herzen, dann werde ich es noch ein paar weitere mit ihr aushalten." Die Sternensammlerin nickt. "Wie Ihr möchtet, doch bedenkt, dass Ihr eine solche Möglichkeit nicht noch einmal erhaltet. Wenn Ihr jetzt geht ohne das Opfer Eures Sterns anzunehmen, werde ich Euch nie wieder rufen."Domoritia atmet tief durch. Nein, meine Entscheidung steht. Besser die vertraute Leere im Herzen als Blut an den Händen."Ich danke Euch, doch meine Entscheidung bleibt dieselbe.""Dann wünsche ich Euch alles Glück der Welt. Möge die Göttin Yasamira stets über Euch wachen."

Nach einer Verbeugung, dreht sich Domoritia um und kehrt nach Hause zurück.

Gerade, als sie die Grenze zum Blütenwald überschreitet, zwitschern wieder ein paar Vögel in der Ferne. Domoritia bleibt stehen und lauscht. Ein strahlendes Lächeln legt sich auf ihre Lippen.

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