7. Kapitel - Dunkle Seiten im Herbarium
"Jede Seite in einem Buch ist eine neue Welt, Lili. Neue Abenteuer, neue Gefahren. Und neue Helden. Du weißt nie, was dich erwartet, wenn du die nächste Seite aufschlägst."
"Er ist neben dem Baum-Palast gelandet!", fuhr der Teppich mit aufgeregten Fransen fort. "Ich glaube, er will ihn stehlen!"
"Oh nein, das wird er nicht tun", sagte Jack und hob einen Stock wie ein Schwert auf.
"Der schöne Baum-Palast!", klagte der Teppich, als wäre es bereits sein Ende.
Jolie spürte ihr Herz wie eine dumpfe Trommel klopfen. Laut und schnell. Sie klammerte sich an ihren Pullover, als könnte der Stoff ihr Halt geben.
Der Herbarianer war da, aber ihr Plan war noch nicht ausgereift - ach was, sie hatten keinen konkreten Plan. Nur eine grobe Idee.
Jolie war noch kein Fan von Improvisation, erst recht nicht, da das Schicksal ihrer Stadt auf dem Spiel stand.
"Wir beschützen den Baum-Palast", versprach sie, um sich und den Teppich gleichermaßen zu beruhigen. "Mach dir keine Sorgen."
"Ich mache mir weniger Sorgen um den Baum, sondern mehr um euch."
Jolie streichelte ihm beruhigend über den Stoff, während Jack ihm bedeutete, in die entgegengesetzte Richtung zu verschwinden. "Selbes Vorgehen wie immer, Teppich - warne die anderen und versteckt euch!"
Der Teppich nickte unschlüssig. "Seid vorsichtig", wiederholte er, eh er davon zischte und alarmierte Schmetterlinge aufscheuchte.
Jack krempelte seine Ärmel hoch. "Wir holen deine gestohlene Fantasie zurück und schneller, als du glaubst, geht es deiner Stadt wieder gut."
Gemeinsam rannten sie durch den Wald, als wäre ein Herbarianer hinter ihnen her - dabei waren sie es, die direkt auf ihn zusteuerte.
"Da vorne." Jolie hockte sich hinter einen Strauch und deutete auf eine Gestalt in einer dunklen Kutte. Sofort lief ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken. Der Herbarianer stand einige Meter vor ihnen, verborgen unter seinem finsteren Umhang. Er hielt das Herbarium wie eine heilige Todes-Bibel vor sich.
Neben ihm saß ein Buntglasgeier und krähte den Baum-Palast mit ausgebreiteten, bunt schillernden Flügeln an.
Es war ein prächtiges Baumhaus mit vielen Fenstern und Blumen. Die Türmchen waren größer, als Jolie sie in Erinnerung hatte. Sie erinnerte sich grundsätzlich wenig daran - war sie zehn Jahre alt gewesen? Er war bereits in der Zeit entstanden, als sie und Jack Freunde gewesen waren.
"Hier." Eben dieser löste seinen Umhang. "Er sucht nach dir. Im Zweifel setzt du die Kapuze auf und rennst, okay? Er darf dich auf keinen Fall erwischen."
Der Stoff war drückend schwer und doch beruhigend zugleich auf ihren Schultern. Würde er sie erwischen - was passierte dann mit ihr? Mit ihrer Stadt? Jolie legte ihre zitternde Hand auf die Schnalle. "Was ist mit dir?"
Jack zuckte mit den Schultern und hob entschlossen den Ast neben sich. "Dann wünscht er sich, er hätte sich niemals mit uns angelegt."
"Jack, wir -"
In dem Moment öffnete der Herbarianer sein Buch. Ein schwarzer Wirbel löste sich und wirbelte auf den Baum-Palast zu.
Jack sprang auf, eh Jolie zu Ende reden konnte.
"Hey!" Er stampfte durch das Gras - weit weg von Jolie - und fuchtelte mit den Armen. "Lass ihn in Ruhe!"
Der Herbarianer drehte sich um und eine erschreckende Sekunde dachte Jolie, er würde sich auf Jack stürzen. Doch das tat er nicht.
Jack wedelte weiterhin mit den Armen. "Du willst Fantasie töten? Hier bin ich! Los, komm und hol mich!"
Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte los. Der Buntglasgeier krähte und erhob sich in die Luft, nur um zwei Sekunden später innezuhalten. Er drehte den Kopf.
Er starrte mit schwarzen Knopfaugen zwischen das Gebüsch direkt zu Jolie.
"Hier bin ich!", brüllte Jack, als der Herbarianer ihn ignorierte und mit schweren Schritten auf sie zusteuerte. Plötzlich vergaß Jolie, wie sie sich bewegte.
Dann sprang sie auf, als hätte jemand einen Schalter in ihrem Kopf umgelegt. "Hier bin ich!", rief sie laut.
Doch der Herbarianer und Buntglasgeier hatten sie bereits fest im Blick. Jack starrte ihr entsetzt hinterher, als Jolie durch den Wald los sprintete, dicht gefolgt vom Geier.
Nur ... wohin?
Jolie rannte. Ihre Füße trommelten rasend schnell über das Gras. Der Buntglasgeier kam näher. Sie zog den Kopf ein, als er mit seinen spitzen Zähnen nach ihrem Haar schnappte.
Actio gleich Reactio.
Jolie erwischte einen Ast und ließ ihn zurückschnellen. Sie sah den Geier nicht, aber das erstickte Geräusch und das Knacken von Glas war sehr zufriedenstellend. Als sie über die Schulter zurückblickte, klebte der Geier mit einem Flügel in der Zuckerwatte fest und flatterte verzweifelt mit dem anderen.
Sie grinste - und stieß prompt mit dem Fuß gegen etwas Hartes. Jolie war am Ufer eines Sees angekommen. Mit einem Aufschrei ging sie zu Boden.
Der Umhang bedeckte sie wie ein zusammengefallenes Zelt. Als Jolie versuchte, sich aufzurappeln, stützte sie sich auf den Stoff, verhedderte sich mit den Enden und ging erneut zu Boden. Wie hatte sie Jack nur einen Umhang geben können? Der war nicht episch, sondern äußerst unpraktisch.
Ihre Hand fand die Schnalle und sie löste sie. Endlich befreite sie sich - nur um zu sehen, dass der Herbarianer wenige Meter vor ihr stand.
Er war ein Henker mit einem Buch, gekommen, um zu töten.
Direkt hinter ihm stürzte Jack aus dem Wald. Seine Augen weiteten sich, als er Jolie am Boden und den Herbarianer vor ihr erblickte. Er wollte ihr zur Hilfe eilen, als neue Buntglasgeier am Himmel krähten. Sie setzten zum Sturzflug an.
Drei Geier stürzten sich auf ihn. Sie zerbrachen seinen Stock und warfen ihn zu Boden. Sie hackten auf ihn, in einem Wirrwarr aus Flügeln und Schnäbeln. Jolie wollte Jack helfen, doch der Herbarianer trat näher und blockierte ihren Blick.
Dann hörte sie eine Explosion und sah eine gelbe Pulver-Wolke aufsteigen. Die Geier kreischten.
Ein Wurfgeschoss - ein solches, mit den Jack sie auf dem Felsen gerettet hatte. Er musste noch einige in petto haben und wehrte sich, während die Geier ihn zu Boden drückten.
Der Herbarianer dagegen war vollkommen auf sie fixiert. Sein schwarzer Umhang fegte über die abgeknickten Grashalme. Er schlug seinen Wälzer mittig auf und von der hellen Doppelseite löste sich ein dunkler Nebel. Er wirbelte als verschlingender Orkan hervor, wie eine zischende Schlange, auf der Suche nach schwacher Beute.
Jolie starrte sein Buch an. Darin war alles, was er gestohlen hatte. Sie brauchte es. Doch der Nebel ließ sie zurückweichen. Ihre Finger streiften einen Stein und sie hob ihn auf. "Nimm das!"
Der Herbarianer hätte nicht ausdrucksloser reagieren können - und das, obwohl sie sein Gesicht nicht sah. Sie hatte auf seinen Kopf gezielt, doch der schwarze Nebel schnellte nach vorne und packte ihn. Er riss den Stein aus dem Leben in das Buch. Schneller, als Jolie blinzeln konnte, erschien ein graues Bild im Buch.
Ein Bild von einem toten Stein.
Der Herbarianer blätterte gleichgültig um und ein neuer schwarzer Wirbel löste sich. Er war größer als der Vorherige.
Doch Jolie wusste plötzlich, was sie tun konnte.
Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, als sie eine Handvoll Steine aufhob und aufstand. Bei jedem Schritt, den der Herbarianer näher trat, schleuderte sie einen auf ihn. Der Wirbel zerrte jeden Stein ins Buch und der Herbarianer musste mit jedem Schritt umblättern.
Das Kamel zitterte, während das Buch sich füllte. Sie tötete gerade ihre eigene Fantasie ...
Nein - sie rettete sie. Sobald es voll war, konnte sie es sich gefahrlos schnappen und alles befreien.
Dann waren die Steine plötzlich aufgebraucht. Doch es gab noch leere Seiten.
Jolie wich zurück, bis das Wasser des Sees über ihre Schuhe schwappte. Verzweifelt sah sie sich nach weiteren Wurfgeschossen um. Der Umhang lag zu weit weg. Hier gab es nichts zum Werfen.
Der Herbarianer schlug eine neue Seite auf und kam auf sie zu.
"Jolie!"
Was immer Jack für Wurfgeschosse verwendet hatte, sie hatten ihre Wirkung entfaltet - die Geier waren fort.
Jack bremste abrupt, als der Herbarianer sich umdrehte und der schwarze Wirbel gefährlich nah vor ihn zischte.
"Halt, Jack!" Jolie wollte ihn in ihren Plan einweihen, doch es war zu riskant, ihn zu sagen.
Während der Herbarianer ihr den Rücken zuwandte, gestikulierte sie also wild, wie bei einem Pantomime-Spiel, bei dem die Zeit verrann.
Der Herbarianer drehte sich wieder um und Jolie wurde ruhig. Jack runzelte kurz die Stirn, dann stellte er eine Wurfbewegung nach.
Jolie nickte.
Ihr Freund warf dem Herbarianer einen Zapfen an den Kopf. Als dieser sich genervt umdrehte, nutzte Jolie die Chance und rannte zur Seite, wo noch Steine lagen.
"So meinte ich es zwar nicht, aber danke", sagte sie zu Jack, als sie sich trafen. Die nächsten Worte flüsterte sie kaum hörbar. "Wir füllen sein Buch."
Jack, der den Herbarianer im Blick behalten hatte, drehte den Kopf ruckartig. "Das wäre Mord!"
"Alles andere wäre Selbstmord! Wir holen es danach doch zurück - so kommen wir wenigstens nah genug ran, ohne selbst eingesaugt zu werden."
Jack presste den Kiefer aufeinander, dann nickte er. "Okay."
Gemeinsam schleuderten sie alles auf ihren Gegner. Steine, Zapfen, Äste und Kekse, die an den Bäumen gewachsen waren. Der schwarze Wirbel schnappte sie sich und zog sie ins Herbarium.
Jolie hatte das euphorische Gefühl, zu gewinnen. Der Herbarianer musste weiterblättern, immer schneller.
Bis er die letzte Seite erreichte. Er betrachtete das volle Buch irritiert und ließ es sinken.
Jolie jubelte. "Auf ihn!"
Zu zweit warfen sie sich auf ihn. Sie rangen ihn zu Boden und Jack hielt die verhüllte Gestalt im Griff, während Jolie das Buch wie eine Trophäe in die Höhe hob und aufsprang.
"Hab es!"
"Sehr gut! Sieh nach, ob du alles befreien kannst!", rief Jack und verlagerte sein Gewicht, um den Herbarianer besser halten zu können. Dieser wehrte sich nicht.
Jolie schüttelte das geschlossene Buch. Nichts passierte. Vorsichtig drehte sie es und schüttelte erneut. Keine gefangene Fantasie fiel raus.
Ein Lachen ertönte. Der Herbarianer lachte und murmelte etwas Unverständliches.
"Wie war das?" Jack lehnte sich misstrauisch näher, um seine Worte zu verstehen.
Jolie schlug vorsichtig das Buch auf - war sie bereit zu sehen, wie viel tote Fantasie drin steckte?
Jacks Stimme rückte in den Hintergrund. "Was meinst du mit Trick? JOLIE!"
Das Buch verselbständigte sich. Es blätterte rasend schnell gegen ihren Willen weiter, bis es auf der letzten leeren Doppelseite ankam, die der Herbarianer absichtlich überblättert haben musste.
Ein Trick.
Der schwarze Wirbel stürzte sich auf Jolie, um sie zu töten.
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