6. Kapitel - Gut geplant ist halb gewonnen

"Weißt du, wie mächtig ein Gedanke ist? Ein Gedanke kann ganze Welten erschaffen - oder vernichten. Es ist deine Entscheidung, was du denkst, Lili. Gib Acht, dass es stets zum Wohle aller ist."

"Was tun wir? Was tun wir?", klagte der Teppich, als sie am Rand der Stadt landeten. Das graue Wasser schwappte sanft über die Haut des Kamels und Jolie wich zurück. Ein Büschel Gras löste sich auf und floss in den Ozean.

Eine Sekunde später wusste sie nicht mehr, warum sie den kahlen Boden so traurig ansah.

"Hier fehlt etwas von der Stadt, oder?", fragte sie und sah die letzte Häuserreihe an, die wie bunte und schiefe Vogelhäuschen dort stand.

"Ja, du hast doch gesehen, wie etwas verschwunden ist", sagte der Teppich.

"Habe ich das?"

Jack legte seine Hände auf ihre Schultern und führte sie den Höcker-Berg nach oben. "Du weißt es nur nicht mehr", sagte er mit schmerzverzerrtem Gesicht. "Weil es der Ozean des Vergessens ist."

"Oh."

Jolie sah über die Schulter zurück. Das Einzige, was sie fühlte, war Leere.

"Also Jolie, die Stunde ist um." Jack stoppte und der Teppich flog flehend neben ihn. Im Hintergrund blickten die Kakao-Kaninchen und Lebkuchen-Luchse schüchtern aus dem Gebüsch. Alle sahen Jolie erwartungsvoll an, die ihren Blick über ihr Kamel gleiten ließ. Über die Welt, die sie in ihren jungen Jahren hauptsächlich mit ihrer Oma aufgebaut hatte - die Entscheidung war nicht schwer. Ihr Herz hing zu sehr an der Stadt. "Ich gehe erst, wenn ich gehen muss."

"Das heißt, du bleibst?", fragte der Teppich hoffnungsvoll.

Jolie lächelte. "Sicher."

"Ich wusste es!" Er zischte euphorisch um sie und brachte sie zum Taumeln, eh er sie fest umwickelte - was vermutlich eine herzallerliebste Umarmung sein sollte.

"Ist ja gut!" Sie streichelte lachend seine Fransen. "Wir brauchen einen Plan. Erzählt mir mehr über den Ozean. Was ist darin?"

"Weiß niemand. Niemand, der eingetaucht ist, ist je zurückgekehrt", erklärte Jack.

"Deshalb heißt er der Ozean des Vergessens", ergänzte der Teppich hilfreich und löste sich von Jolie. "Oder Erwachsenentragödie, wie einige ihn noch nennen."

"Teppich! Es gibt auch viele erwachsene Städte, die nicht untergegangen sind. Einige waren kurz davor, aber dann lernten sie das Fliegen. Sie haben sich in Wale und Delfine verwandelt und schweben glücklich durch die Luft."

"Also muss mein Kamel umdrehen oder fliegen lernen?", überlegte sie. "Kommt schon, ich brauche Fakten, etwas Greifbares! Etwas, woraus ich einen soliden Plan machen kann!"

Jolies Gedanken ratterten. Sie hatte das Gefühl, süß-saure Luft zu atmen, als sie durch ihre Stadt marschierten. Sie war wunderschön und bedrückend zugleich.
"Was wisst ihr über die Herbarianer?"

"Die Herbarianer gab es schon immer. Jeder Mensch hat seine eigene Stadt, aber sowie die Tagtraum- und Nachttraum-Fabrik für alle arbeitet, arbeiten die Herbarianer gegen alle. Sie vernichten Träume, indem sie sie in ihre Bücher, ihre Herbarien, einsaugen", erklärte Jack.

Jolie kannte Herbarien, Mehrzahl von Herbarium: Sie hatte früher mit ihrer Oma Blumen gesammelt und in einem solchen Buch gepresst. Dass die Herbarianer Träume fingen, darin pressten und … töteten, kam ihr falsch vor. Und doch hatte sie gesehen, wie ein Kakao-Kaninchen gestohlen wurde.

"Warum erinnere ich mich noch an das Kaninchen?"

"Weil Stehlen etwas anderes als Vergessen ist", sagte Jack. "Beim Vergessen bleibt nichts übrig, beim Stehlen dagegen bereichern sie sich an deiner Fantasie. Wie Parasiten. Weißt du noch, dass alle Fantasie Energie ist? Sie vernichten sie und kanalisieren diese tote Energie - und schaffen daraus die Buntglasgeier."

"Die Boten der Vernichtung", flüsterte der Teppich nah neben Jolies Ohr. Sie zuckte zusammen.

"Genau. Die Geier fliegen über die Städte und suchen sich die nächsten Opfer raus. Dann kommen die Herbarianer, saugen etwas in ihr Buch und verschwinden zurück in den Nebel. Keiner weiß, was dort unten ist, weil niemand sich dorthin gewagt hat. Es wäre ein Todesurteil."

Jolie schüttelte sie. "Deshalb hat Sherlock mich aus Miles Stadt geworfen - er hatte Angst, dass ich die Herbarianer anlocke."

"Ich weiß zwar weder, wer Sherlock noch Miles sind, aber ja."

Sie kamen am Rand des Höcker-Berges an, zwischen beiden Bergen. Hier trafen beide von Jolies Welten zusammen. Links war der fantastische, einst quietschbunte und diabetes-süße Kindheitswald, rechts lag die gradlinige und ordentlich angelegte Logik-Stadt mit weißen Würfelbauten. Sie ließen sich am Übergang nieder. Jack setzte sich in den Kakao-Strand und legte seinen Umhang neben sich. Der Teppich rollte sich darauf zusammen. "Damit ich nicht dreckig werde", meinte er und klopfte mit seinen Fransen Kakao-Staub von seiner roten Struktur.

Jolie stellte sich auf die Grenze und stemmte nachdenklich die Hände in die Hüfte. "Warum läuft meine Stadt in den Ozean? Warum ist sie nicht bei den anderen im Zentrum?"

Jack siebte gedankenverloren Kakao durch die Finger. "Wenn die Herbarianer einen gewissen Anteil deiner Fantasie vernichtet haben, dreht deine Stadt durch. Sie verlässt die Pfade und steuert blind in den Ozean. Hier arbeiten die Buntglasgeier und Herbarianer verstärkt, bis die Stadt verschwindet und alles zerstört ist, was die Fantasie des Menschen ausgemacht hat."

Jolie wurde eines klar: Wenn ihre Stadt unterging, starben nicht nur das Kamel, Jack, der Teppich und die gesamte Wunderwelt, die sie sich als Kind ausgedacht hatte. Ein bedeutender Teil von ihr würde sterben und sie mit einer tiefen Leere zurücklassen, die nichts auf der Welt füllen konnte.

Sie musste ihre Stadt retten. Jolie marschierte umher, von den weißen Straßen auf den Kakaostrand und zurück. Dann stoppte sie. "Ich weiß, was wir tun", beschloss sie. "Wir gehen zu den Herbarianern und holen zurück, was sie mir gestohlen haben."

"Du willst was?", schrie der Teppich und Jack drückte sofort seine Hand vor die entsetzten Fransen, als ein Geier in der Ferne schrie. "Du kennst die Herbarianer nicht!", nuschelte er trotzdem weiter. "Das ist eine miese Idee."

"Es ist keine Idee, es ist Mathe. Seht her." Jolie drehte sie um und ging grinsend einige Schritte in den logischen Stadtteil. An der Rückwand eines Würfel-Hauses war eine grüne Tafel und sie nahm die Kreide in die Hand. Jolie war in ihrem Element. "Ihr habt gesagt, dass die Stadt durchdreht, wenn ein gewisser Anteil herbariumiert wurde."

"Das Wort gibt es nicht", überlegte der Teppich.

"Doch, es ist meine Fantasie. Dann habe ich es mir eben ausgedacht - Tada! Jetzt gibt es es."

Jack zuckte mit den Schultern. "Da hat sie recht."

"Also …" Jolie zeichnete ein Koordinatensystem auf die Tafel. Sie beschriftete gewissenhaft die x-Achse als Zeitverlauf und die y-Achse als Fantasie-Energie. Dann malte sie die rechte Hälfte eines U's als Graphen ins System und zeichnete ans Ende ein Todeskreuz. "Das ist die geraubte Fantasie." Sie tippte den Graphen an und Jack nickte, als er ahnte, worauf sie hinaus wollte.

Der Teppich dagegen stöhnte. "Ich komme aus deiner frühesten Kindheit, noch vor Jack und der Schule. Ich sollte Spaß machen und nicht Mathe können!"

Jolie schmunzelte und legte die Kreide weg. "Je mehr die Herbarianer stehlen, desto näher läuft die Stadt in den Tod", erklärte sie ohne den Graphen. "Wenn wir die Fantasie zurückholen, läuft der Prozess sozusagen rückwärts ab - und meine Stadt läuft rückwärts aus dem Ozean."

"Das ist … klug. Und riskant", überlegte der Teppich.

"Das ist Mathe", konterte Jolie glücklich.

"Im Land der Fantasie?"

Sie stockte, blieb aber bei ihrem Plan. "Kommt schon! Ich will die Stadt - ich will euch - nicht aufgeben. Ich gehe."

Jack stand auf und klopfte sich den Kakao von der Hose. "Ich gehe dahin, wo immer du auch hingehst", beschloss er.

"Wirklich?" Der Teppich schwirrte ängstlich zwischen sie. "Zu den Herbarianern?! Das meinst du nicht ernst."

"Doch." Jack hob seinen Umhang auf und legte ihn um. Er sah aus wie ein Held aus all ihren früheren Lieblingsbüchern und Filmen gemischt - was er gewissermaßen auch war. "Auch wenn ich glaube, dass Jolie nicht zu den Herbarianern in den Nebel meinte. Du meintest, dass wir hier in deiner Stadt warten, wo wir uns auskennen, bis einer kommt und ihm sein Buch über den Kopf ziehen, und es so lange schütteln, bis wir alles zurückhaben, oder?"

Jolie wandte den Blick von der gruseligen Nebelmasse ab. "Genau so meinte ich das", hauchte sie erleichtert. Hier zu bleiben sorgte für wesentlich weniger Gänsehaut ihrerseits und klang sogar sinnvoller.

Der Teppich atmete geräuschvoll ein. "Und ich- muss ich-?"

"Nein, du musst nicht mit uns die Herbarianer angreifen", sagte Jolie sanft.

"Na dann." Er entspannte sich. "Aber seid ja vorsichtig! Ich will nicht, dass ein Herbarianer euch erwischt und …"

"Werden wir", versprach sie, eh er den Satz vollendete. "Kannst du uns einen Gefallen tun?"

"Ja - kommt darauf an, was."

"Kannst du eine Runde um die Stadt fliegen und uns warnen, wenn ein Herbarianer kommt? Dann greifen wir an, eh er uns überrascht."

Der Teppich nickte. "Na gut", meinte er und erhob sich in die Luft. "Aber nur, weil ich auch etwas zur Rettung beitragen will! Nicht, dass du deinen Enkeln später erzählst, ich wäre ängstlich."

"Würde ich niemals", sagte Jolie. Sie fragte sich, welche Art von Geschichten sie ihren Enkeln erzählen würde. Von fantastischen Welten und Wesen? Oder von der Realität?

Jack und sie sahen dem Teppich hinterher, der murmelnd davonflog. Doch schon nach einigen Metern drehte er um und zischte wie vom Blitz getroffen zurück. "Da ist gerade einer gelandet!", schrie er. "Es geht los!"

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