19. Kapitel - Wenn Legenden enden

"Altes muss verschwinden, damit etwas Neues, viel Besseres, kommen kann. In diesem Sinne ist jedes Ende ein Neuanfang, Lili."

Die wandernden Träume hoben die Köpfe und blickten erstaunt nach oben, als eine leuchtende Stadt gemächlich brummend in Richtung Zentrum flog. Ihre kleinen Flügel bewegten sich schneller als jeder Herzschlag und hielten den schweren Körper, der eine ganze Stadt auf sich trug, in der Luft.

Jolie stand am Rand der Stadt und blickte in den regenbogen-schillernden Himmel. Sie fühlte sich irreal, ungläubig und gleichzeitig beflügelt. Tausend Emotionen überfluteten sie innerlich, so viele, dass sie sie weder greifen noch in Worte fassen konnte.

"Du hast es geschafft!", rief Jack und rannte zu ihr. Der Wind wehte seine Haare in einer sanften Welle nach hinten und Jolie brauchte keine Buntglasscherbe, um zu sehen, dass er vor Leben leuchtete. Sein Lachen sprach für sich, als er die Arme in den Himmel streckte, als könnte er selber fliegen. "Wuhuu!"

Dann ließ er die Arme sinken. "Warum weinst du?"

Jolie schniefte und fächerte sich Luft zu, als sie noch mehr Tränen lachte. "Es ist so schön", brachte sie hervor. "Und gleichzeitig absurd! Wusstest du, dass Hummeln zu viel Masse und zu wenig Flügel-Tragfläche haben, sodass sie gar nicht fliegen können dürften?"

Jack grinste. "Gut, dass wir im Land der Fantasie sind. Komm her."

Jolie warf sie sich in seine Arme und er drückte sie ganz fest. "Ich wusste, dass du es schaffst", flüsterte er ihr ins Ohr.

Jolie spürte eine so tiefe Verbundenheit, dass ihr Herz anschwoll. "Danke, Jack", hauchte sie. "Tut mir leid, dass ich dich und Teppich zwischenzeitlich vergessen habe."

"Das ist nichts, wofür du dich entschuldigen musst", sagte er.

"Doch. Ihr seid und bleibt meine besten Freunde", fuhr sie fort. "Ich bin so froh, dass ich mir euch damals ausgedacht habe."

Jack lachte. "Und wir erst."

Etwas Weiches schlang sich um ihre Schultern und schloss sich der Umarmung am Rand des fliegenden Traumes an. Jolie blickte auf, als Fransen sie kitzelten. "Teppich!"

"Ich habe euch auch sooooo lieb!", schniefte er.

Dann lachten sie alle gemeinsam.

Jolie fühlte sich so frei, wie sie sich in ihrem Leben noch nie gefühlt hatte. Sie atmete tief ein und blickte über ihre Stadt.

Sie war nicht mehr geteilt. Zuckerwattenbäume neigten sich entlang der geradlinigen Straßen zueinander und bildeten ein Dach aus Zucker und Blättern. Daneben standen würfelförmige Häuser, deren Schornsteine wie Sinuskurven zu anderen Häusern wuchsen und sich über die ganze Stadt spannten. An ihnen wuchsen die buntesten und exotischsten Blumen und Schmetterlinge flatterten um sie herum.  Pythagoras rannte bellend über die Straßen zum Baum-Palast und ein Kakao-Kaninchen hoppelte ihm hinterher. Ein Lebkuchen-Luchs schmiegte seinen Kopf an Jolies Bein, eh er in seinen perfekt zylinderförmigen Bau huschte.

Ihre Welt hatte sich vereint. Sie war perfekt.

Nur eine Sache fehlte. "Jack", stellte Jolie fest. "Kann ich etwas versuchen?"

"Nur zu." Trotzdem sah er überrascht aus, als sie vor ihn trat und ihre Hände auf seine Schultern legte. Beim Träumen war alles möglich.

"Mein Umhang!", rief Jack begeistert, als der blaue Stoff sanft auf seinen Schultern erschien.

"Ich habe keine Ahnung, wo ich deinen alten verloren habe", entschuldigte sich Jolie.

Jack grinste. "Der Neue ist definitiv besser."

Vor allem, weil Jolie ihn gerade einfach mit Gedankenkraft erschaffen hatte - ihre Fantasie, ihre Regeln.

"So cool", staunte der Teppich. "Und du wolltest erwachsen werden!"

"Das kann sie auch", meinte Jack. "Erwachsen, genial, fantastisch, grenzenlos, ... Jolie, wenn deine Oma dich jetzt sehen könnte, wäre sie stolz auf dich."

Jolie traten die Tränen in die Augen und sie dachte an Oma Marthas Geschichten. Und daran, was der Herbarianer gesagt hatte: Sie war auch einst hier gewesen und hatte ihre Stadt beflügelt.

"Sie wusste vom Land der Fantasie bescheid. Ich glaube, sie hat mich extra so fantasievoll erzogen, um sicherzustellen, dass meine Stadt niemals untergeht", verstand sie. Gleichzeitig dachte Jolie an ihren Vater, der das komplette, unfantastische Gegenteil war. Warum hatte sie ihren Sohn nicht mit genauso viel Fantasie großgezogen?

Vermutlich hatte sie es, aber sie wusste, dass ihr Vater für fünf Jahre ins Ausland studieren gegangen war - in der wichtigsten Zeit des Erwachsenwerdens. Er musste die Verbindung verloren haben.

Oma Martha hatte versucht, wenigstens die Stadt ihrer Enkelin zu bewahren. Sie hatte ihr das größte Geschenk gemacht, was eine Oma ihrer Enkelin geben konnte.

Sie hatte sie dazu ermutigt, zu träumen.

Nachdenklich glitt Jolies Blick über die Welt und fiel auf die Traum-Baum-Manufaktur in der Ferne. Sie erinnerte sich an eine letzte unerledigte Aufgabe, bevor sie…

"Ich will nicht zurück", flüsterte sie und schluckte schwer. Der Kontrast zur Realität war übermächtig.

Der Teppich flog sanft vor sie. "Du weißt, dass wir jederzeit bei dir sind?", fragte er. "Wie früher. Wann immer du an uns denkst, sind wir da. Wann immer du dich hierher denkst, bist du hier. So funktioniert Fantasie."

"Aber es ist nicht dasselbe." Konnte sie nicht einfach hier bleiben und für immer träumen?

"Fantasie hat keine Grenzen", fügte Jack zu. "Alles ist möglich, wenn du träumst."

Jolie biss sich auf die Lippe und nickte. Sie wusste, dass sie früher oder später gehen musste.

"Eine letzte Sache muss ich noch tun", bat sie. "Statten wir ein paar früheren Kontrahenten einen Besuch ab."

-★-★-★-

Die Überraschung des Häuptlings war selbst unter seiner Kapuze zu sehen, als sie direkt vor seinen Füßen landeten. Kein Buntglasgeier hatte sie angekündigt und der Teppich stoppte über dem dunklen Boden.

"Wie ist das möglich?", fragte der Häuptling und starrte Jack und den Teppich an. Dann sah er zu Jolie. "Deine Stadt sollte längst untergegangen sein! Damit hätte alles verschwinden müssen."

Die Hummel drehte extra laut brummend eine Runde durch den Himmel. Jolie zuckte lächelnd mit den Schultern. "Ich schätze, ich habe meine Fantasie neu beflügelt."

Der Häuptling sagte nichts. Er war baff.

Dann neigte er respektvoll den Kopf. "Ich hätte nicht gedacht, dass das noch möglich ist. Du überraschst mich, Jolie - im positiven Sinne. Verzeih, dass ich deine Stadt versenken wollte."

Sie nickte. "Letztendlich hast du mich dazu gebracht, zu erkennen, dass ich mein Schicksal selbst in der Hand habe."

Wie aufs Stichwort sah sie eine blaue Bewegung im Augenwinkel. Das legendäre Taxi erschien und hupte eine glückliche Siegesmelodie. 

"Du!", rief der Häuptling, als es neben Jolie landete. "Du hast dich mir widersetzt!"

Das Taxi gab einen gedehnten und genervten Ton von sich. Es leuchtete Jolie glücklich an, als hätte es immer gewusst, dass sie es schaffte.

Dann öffnete es einladend die Tür.

Doch Jolie wandte sich dem Häuptling und den versammelten Herbarianern zu. Sie musste einen letzten Fehler gutmachen. "Ich muss mich bei euch entschuldigen", sagte sie. "Mittlerweile habe ich verstanden, dass ihr nicht böse, sondern eine Art Ökosystem für das Land der Fantasie seid. Ich hätte eurer Lager nicht vernichten dürfen. Ich will helfen. Woher bekommen wir neue Herbarien?"

Der Häuptling blieb einen erschreckenden Moment ruhig. "Da unser Lager fort ist - gar nicht", antwortete er. "Sie haben sich in den Regalen vermehrt - du würdest es als 'Zellteilung' bezeichnen. Aber jetzt …"

"Könnt ihr keine neuen Regale bauen?", fragte Jolie.

"So einfach ist das nicht", widersprach er. "Sie waren magisch."

"Dann träumt sie einfach her", schlug Jack hilfsbereit vor und ließ seinen Blick neugierig über den dunklen Boden im Land der Fantasie gleiten, wo sich früher das Lager wie eine Kuppel erhoben hatte.

Der Teppich nickte euphorisch. "Das ist das Land der Fantasie. Tada! Problem gelöst."

Doch der Häuptling blickte weg. "Wir können nicht träumen."

Jolies Augen wurden groß. Sie sammelten Träume, konnten aber selber nicht träumen?

"Ich kann träumen", sagte sie.

"Jeder kann nur etwas für seine Stadt träumen. Hier draußen hilft das nicht."

"Und wer kann für das Land der Fantasie träumen?"

Stille breitete sich aus, selbst die Buntglasgeier verharrten tonlos.

Die Herbarianer lebten hier. Wenn einer für das Land der Fantasie träumen konnte, dann sie.

Jolie atmete tief durch und bot ihm ihre Hand an. "Ich habe genug Fantasie für uns beide", sagte sie. "Meine Oma hat mir Fantasie geschenkt. Wenn hier alles möglich ist, dann kann ich sie mit dir teilen, oder?"

Sie hatte keine Ahnung, ob oder wie es gehen sollte. Aber das wie war nicht ihre Aufgabe. Ihre Aufgabe war es, fantastisch zu sein.

Der Häuptling starrte ihre Hand aus, als wollte sie ihm einen Schicksalsschlag verpassen. Er zögerte.

Dann griff er ihre Hand.

"Stell es dir einfach vor", flüsterte Jolie. Sie selbst stellte sich vor, dass ihre Fantasie ein Strahl aus Licht wäre und über ihre kribbelnden Finger in den Häuptling floss. Dass sie so die Grenzenlosigkeit teilte. Dass sie so ein Lager erschufen.

Es war tatsächlich magisch. Ihre verbundenen Hände leuchteten kurz auf. Dann schossen um sie herum Wände wie Pilze aus dem Boden und verbanden sich zu einem kuppelförmigen Lager. Es ging so schnell, dass selbst Jolie überrascht zurückstolperte.

Der Häuptling ließ ihre Hand sofort los und wich zurück, als die Kuppel jegliches Licht von draußen abschirmte. Es sah exakt so aus, wie davor, als wäre es nie weg gewesen.

Er atmete schwer. "So ist es also, zu träumen", murmelte er kaum hörbar. Jolie sah sein Gesicht unter der Kapuze nicht, doch sie meinte, im Schatten ein sanftes Lächeln zu sehen.

Ein Herbarianer stellte ein Herbarium ins Regal und murmelte etwas. Alle hielten abwartend den Atem an. Das Buch wurde dicker. Dann geschah die 'Zellteilung' und ein zweites Herbarium ploppte daraus hervor.

"Wahnsinn", staunte Jack, der das Geschehen mit großen Augen verfolgte. "Das ist irgendwie skurril."

Der Teppich gab Jolie ein High Five mit den Fransen, auch wenn er aussah, als würde er gleich losheulen.

Sie wussten, dass es Zeit für den Abschied war - Jolie drückte ihn fest an sich.

"Denk daran", flüsterte Jack und schloss sich ihnen an. "Du kannst jederzeit in Gedanken hier sein."

Am liebsten würde sie ihre Freunde niemals loslassen. Am liebsten würde sie länger hier bleiben. Aber das Taxi hupte und fuhr näher. Sie wusste, dass es Zeit war.

"Wenn ich mein Schicksal selbst in der Hand habe, kann ich das Schicksalstaxi später selber rufen?", fragte sie den Häuptling leise.

Er schüttelte langsam den Kopf. "Du gehörst in deine Welt", sagte er. "Wir setzen unsere Arbeit hier fort und beschützen die Fantasie. Du, Jolie, bist dazu eingeladen, die Arbeit in deiner Welt fortzusetzen. Deine Oma hat dir die Fantasie geschenkt. Bist du bereit, dieses Geschenk weiterzutragen?"

"Es weitertragen?", wiederholte sie verblüfft. Der Gedanke war ihr bisher noch nicht gekommen … aber er gefiel ihr. Er löste ein vorfreudiges und begeistertes Kribbeln in ihr aus.

"Wie du es machst, ist deine Sache. Beflügle die Fantasie von Menschen in der echten Welt und die Städte hier werden nicht untergehen."

Jolie wusste nicht, was die Zukunft brachte, wie ihr Mathematikstudium werden würde und was sie an ungeplanten Variablen im Leben erwartete, aber eines wusste sie sicher: Fantasie würde für immer ein bedeutender Teil von ihr sein.

Sie legte die Hand auf die Tür des Schicksalstaxis und sah ein letztes Mal zu Jack und dem Teppich, die beide lächelten und winkten. Mit einem fliegenden Traum hoch über ihren Köpfen, wusste sie, dass sie sich dieser Aufgabe gerne annahm. "Das werde ich", versprach sie lächelnd.

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