1. Kapitel - Die ungeplante Variable

"Die Gleichung des Lebens hat viele Variablen - ich habe sie durchgerechnet, bis ich das optimale Ergebnis hatte. Das ist das Schöne an Mathematik: Mein Leben verläuft nach Plan, ohne Überraschungen, weil Mathe logisch ist."

Pünktlich, als die Uhr zwölf schlug, ließ Jolie ihren Stift fallen.

Fertig? formte sie mit den Lippen über die Tischreihen hinweg zu ihrer Freundin Mara, die von ihrem Zettel aufblickte, als wäre er verflucht.

Mara verzog gequält das Gesicht und schaute erst wieder normal, als der Professor ihr Blatt einsammelte. Er lief weiter durch die stillen Reihen, bis er bei Jolie ankam. Zufrieden reichte sie ihm ihre Unterlagen und sortierte ihre Stifte nach Farbe in ihr Federmäppchen. Alle waren gleichlang, perfekt angespritzt, und sie schob den grünen Stift etwas zurück, damit er in die Reihe passte. Dann legte sie die übrig gebliebenen, leeren Blätter akkurat aufeinander und wartete.

"Sie haben es für heute geschafft, herzlichen Glückwunsch", sprach der Professor laut, als er wieder vorne ankam. "Sie erhalten die Auswertung gegen Ende des Monats per E-Mail und erfahren, ob Sie in die nächste Stufe des Bewerbungsverfahrens eingeladen werden. Bis dahin - haben Sie noch einen schönen Tag."

Erleichtertes und einzelnes verzweifeltes Seufzen ertönte aus den Reihen. Jolie konnte es nicht verstehen - ja, einige Gleichungen waren wirklich fies gewesen, aber Stochastik lief überdurchschnittlich gut. Alles in allem war sie sehr zufrieden mit ihrem Ergebnis. Ihr Studiumsplatz an der Hochschule für angewandte Mathematik war schon so gut wie sicher.

Stühle knarrten auf dem Boden. Die siebzehnjährige Zwölftklässlerin zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu und folgte der Menge nach draußen, um Mara zu suchen.

"Jolie! Hier drüben!"

Sie schob sich auf dem kürzesten Weg zu ihrer Freundin. "Wie war es?", fragte sie.

Mara neigte den Kopf, zögerte und zuckte schließlich mit den Schultern. "Wenn es meine Erstwahl gewesen wäre, hätte ich vorher mehr gelernt. So hat die Zeit nicht gereicht - die letzte Seite mit den Brüchen konnte ich gerade anfangen, da war es schon vorbei."

Jolie legte ihr mitfühlend einen Arm um die Schultern. "Weißt du, was du unten auf die Seite hättest schreiben müssen?"

"Was denn?"

"Um zu zeigen, dass ich Brüche verstanden habe, habe ich nur die Hälfte gemacht."

Mara verdrehte die Augen. Sie traten nach draußen und Jolie verzog das Gesicht bei den dunklen Wolken. Der leichte Nieselregen zeigte ihr, dass sie sich heute früh mit der Regenwahrscheinlichkeit verrechnet hatte - sie hätte ihren Schirm mitnehmen sollen.

"Ich brauche jetzt definitiv etwas zum Essen", teilte Mara ihr mit. "Die Pizzeria da vorne sieht gut aus. Kommst du mit?" Sie schnappte überdramatisch nach Luft. "Oder hast du deinen Tag schon komplett verplant?"

Jolie zog ihr Handy hervor und hakte den Bewerbungstest auf ihrer To-Do-Liste ab. Der Bus kam erst in einer halben Stunde, danach hatte sie ihren Nachmittag in unterschiedlichen Zeitblöcken getaktet. "Du weißt, dass ich mein ganzes Leben genau durchgeplant habe. Das heute war ein wichtiger Meilenstein - ich finde, den sollten wir feiern. Also ja, ich habe noch etwas Zeit, bevor ich los muss."

Die Pizzeria war voll und Jolie und Mara verglichen ihre Ergebnisse, bis sie endlich an der Reihe waren.

"Ich hätte gerne ein Stück Margarita mit der Größe von dreiunddreißig Komma drei Periode Prozent", sagte Jolie gut gelaunt und schmunzelte innerlich, als der Verkäufer irritiert blinzelte. "Bitte runden Sie eher auf als ab."

Mara verdrehte die Augen. "Sie will ein Drittel", übersetzte sie. "Ich nehme dasselbe."

"Ach, sei doch nicht so ein Spaßverderber", lachte sie auf dem Weg zu einem freien Tisch. "Ich weiß, dass ein Großteil der Bevölkerung Mathe nicht versteht, aber ich finde es lustig - genau deshalb."

Mara genoss ihr Mittagessen. "Du bist manchmal komisch -"

"Irrational", korrigierte Jolie und zog den Käse zu langen Fäden.

"- aber genau deshalb meine beste Freundin. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass wir wahrscheinlich an unterschiedlichen Hochschulen lernen werden."

Jolie seufzte. "Ja, oder? Das ist zwar noch ein paar Monate hin, es kommt mir aber trotzdem vor, als wäre es nächste Woche."

Mara stupste sie an. "Kopf hoch. Wir meistern das."

Mara? Definitiv. Ihre Freundin würde das mit Leichtigkeit schaffen.

Sie selbst? Jolie war zwar organisiert und meist auch etwas zu perfektionistisch, aber in einem neuen Studium? Sie liebte Mathe, aber das änderte nichts daran, dass es ein Neustart wäre. Würde sie im Stoff mitkommen? Würde sie Freunde finden? Sie war auch jetzt die Jüngste in ihrer Stufe, da sie eine Klasse übersprungen hatte.

Jolie hob den Kopf und blickte optimistisch in die Zukunft. "Auf dass jeder von uns seinen Platz findet?"

Mara stieß ihr Pizzastück gegen ihres, weil sie keine Gläser hatten, und beide Mädchen kicherten, als der Käse verschmolz und lange Fäden zwischen ihnen zog, die auch nicht rissen, egal wie sehr sie schüttelten.

So würde auch das Band ihrer Freundschaft niemals reißen.

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Jolie musste durch den Regen bis zur Bushaltestelle rennen. Ihr Handy zeigte ihr, dass der Bus in zwei Minuten kommen sollte. Erleichtert, dass alles nach Plan lief, setzte sie sich unter die Überdachung.

Doch der Bus kam nicht.

Sie wartete fünf Minuten, dann breitete sich das unwohle Gefühl in ihrem Bauch aus. Jolie googelte, ob er eher gekommen war und sie ihn bereits verpasst hatte, wurde jedoch nicht fündig. Weitere fünf Minuten später wippte sie unruhig mit den Füßen und sah zum siebten Mal auf die Uhr. Ihr Zeitplan sah weder Busausfälle noch einen Spaziergang nach Hause vor, erst recht nicht bei dem Wetter.

Jolie ging zum Fahrplan. "In einer Stunde!", rief sie erschrocken, als sie die nächste Verbindung sah. Auf keinen Fall würde sie so lange hier sitzen.

Unzufrieden stemmte sie die Hände in die Hüfte. Auch wenn sie eine Wenig-Busfahrerin war, hätte sie das Risiko einplanen müssen. Mara hatte sich längst zum Bahnhof verabschiedet. Jolies Eltern waren noch auf Arbeit.

Da ihr keine andere Option blieb, wagte sie sich auf die Straße. Sofort spürte sie die Wand aus zu hoher Luftfeuchtigkeit und die sanften Regentropfen, die sich in ihrem blonden Haar sammelten. Bereits nach drei Minuten war ihr Pullover halb durchnässt. Vielleicht sollte sie einen kleinen Umweg in einen Laden machen und sich einen Regenschirm kaufen.

Oder ... Ein Taxi fuhr um die Ecke. Jolies Mund klappte auf, eh sie schweigend weiter joggte. Ihr Taschengeld bot definitiv keinen Raum für eine Taxifahrt über die Strecke.

Davon abgesehen war das Taxi auf kuriose Weise schimmernd hellblau, wie aus einem schlechten Zeichentrickfilm.

Reifen rollten durch Pfützen und quietschten über die Straße, ein Stück hinter ihr. Jolie beschleunigte ihre Schritte und joggte an der Straße entlang, wo normalerweise viele Leute unterwegs waren. Doch der Regen hatte sie in den Schutz der Häuser vertrieben.

Das Taxi beschleunigte und folgte ihr. Verfolgte es sie etwa? Es rollte direkt neben sie. Jolie blieb schlagartig stehen und wendete. Das Taxi musste bremsen. Sie lief mit einem schadenfrohen Grinsen - was nur dazu diente, ihre aufkeimende Angst zu unterdrücken - in die entgegengesetzte Richtung.

Doch als sie über die Schulter blickte, klappte ihr Mund auf. Wie hatte das Taxi so schnell gewendet? Es rollte mit blinkenden Vorderlichtern auf sie zu und kam direkt neben ihr zum Stehen.

Die hintere Tür ging einladend auf.

Die kalten Regentropfen durchnässten Jolies Haare und sie sah sich sprachlos um, ob jemand anderes das sah. Aber niemand schien sich für ein Teenager-Mädchen neben einem leuchtend blauen Taxi zu interessieren.

Das war noch nicht der Höhepunkt.

Jolie sammelte ihren Mut und trat näher an die Tür. "Ich habe kein Taxi gerufen", rief sie mit Sicherheitsabstand ins Innere.

Niemand antwortete. Die Tür schwenkte, als würde sie winken.

Jolie wich irritiert zurück und lugte durch das Fenster auf den Fahrersitz, um zu sehen, wer sich mit ihr einen Spaß erlaubte.

Er war leer.

"Das ist nicht normal", murmelte sie. "Das ist gegen alle Regeln der Logik und eine erklärbare optische Täuschung. Und das ... auch?"

Ein roter Teppich rollte aus der hinteren Tür, kaum einen Meter lang, und stoppte vor ihren Füßen. Als Jolie rückwärts lief und sich endgültig entschied, zu verschwinden, wurde er immer länger.

Niemand außer ihr schien das komisch zu finden. Niemand schien das zu sehen.

Das musste der Stress sein, entschied sie und rannte die Straße entlang. Ihre Schritte trommelte über den Asphalt, genauso schnell wie ihr klopfendes Herz. Für alles gab es eine logische Erklärung, weil alles nach den Naturgesetzen funktionierte, die auf Mathe basierten, und Mathe immer logisch war.

Sie bog an der Kreuzung nach links - und bremste abrupt, als das Taxi mit geöffneter Tür vor ihr stand. Der Teppich rollte vor ihre Füße, doch dieses Mal formten die Fransen ein einzelnes, schwer entzifferbares Wort. Es jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

Schicksal.

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