Einsam

Es war eisig kalt. Der Winter, der sich vor ein paar Wochen schon mit eisigen Böen und bitterem Frost bemerkbar gemacht hatte, hatte nun endgültig die Herrschaft über das Land an sich gerissen und sein weißes Tuch über die Wälder und Felder gelegt.

Noctus fröstelte. Da war zum Einen der schneidende Wind, der durch sein Fell wehte und ihn mal hierhin, mal dorthin schwanken ließ. Und dann war da noch diese tiefe Trauer in ihm. Was hatte er nur getan? Betrübt ließ er den Kopf hängen. Wo sollte er jetzt nur hin? Wie sollte er in dieser Kälte überleben? Aber war das im Grunde nicht schon egal? War es nicht egal, ob er lebte oder starb? Er hatte nichts mehr. Er hatte alles verloren. Er wusste nicht, wo er überhaupt hingehen sollte, niemand würde ihn willkommen heißen und ihn mit offenen Pfoten empfangen- weder ein anderes Rudel noch die Tiere des Waldes, geschweige denn sein eigenes Rudel.

Der schwarze Wolf kämpfte gegen die eisigen Böen an und stapfte weiter durch den kniehohen Schnee. Noctus hob seinen Kopf leicht an und sah sich um. Er hatte in diesem unendlichen Weiß völlig die Orientierung verloren. Vor ihm ragte ein riesiger Baum in die Höhe. Seine schweren Äste ächzten leicht unter der Last des Schnees, doch im Gegensatz zu den Bäumen um ihn herum, deren Äste und Zweige unter der Last der weißen Pracht teilweise abgeknickt waren, hielten sie dem eisigen Gesellen stand.

Das braune, knorrige Wurzelwerk des Baumes ragte aus dem weißen Glanz und erstreckte sich mehrere Meter über den schneebedeckten Boden. Noctus kämpfte sich auf den Baum zu und sank erschöpft zwischen den Wurzeln nieder. Ein paar kleine Vögel schossen aus dem Baum hervor und flatterten davon. ‚Ein Vogel müsste man sein', dachte der schwarze Wolf, bevor er die Augen schloss und in einen traumlosen Schlaf glitt.

Als Noctus erwachte, hatte sich der Schneesturm etwas gelegt. Sein Magen knurrte gewaltig, er hatte nun schon zwei Tage nichts zwischen die Zähne bekommen. Es war eine Woche vergangen seit er aus seinem Rudel geworfen worden war. In den ersten paar Tagen hatte er noch einige Beeren gefunden, die er aus der Not heraus gegessen hatte. Doch er brauchte Fleisch, wenn er wieder zu Kräften kommen wollte. Doch wollte er das überhaupt?
Ein Geräusch unterbrach seine Gedanken. Noctus blickte sich mit gespitzten Ohren um und erspähte einige hundert Meter entfernt ein Kaninchen auf einer Lichtung. Es war ein dicker, kräftiger Rammler mit braunem Fell und Schlappohren. Er hoppelte einige Meter weiter, den ihn mit wachsamen Augen verfolgenden Wolf nicht beachtend.

Langsam schlich Noctus sich an. Er hatte noch nie ein Tier erbeutet, weder ein großes Reh, die Nahrung seines Rudels, noch ein so kleines Tier wie ein Kaninchen. Doch er hatte es oft bei den Erwachsenen gesehen, so schwer konnte es ja nicht sein. Er versteckte sich in geduckter Angriffshaltung hinter einem jungen Baum, dessen Äste unter der Last des Schnees so tief hingen, dass Noctus sie mit seiner Schnauze berühren hätte können. Sie boten ihm einen guten Sichtschutz vor dem Rammler. Langsam schlich er sich an, machte sich bereit zum Sprung... und trat auf einen Ast. Es knackte leise, das Kaninchen hob den Kopf und raste davon, wilde Haken schlagend. Enttäuscht erhob sich der schwarze Wolf aus seiner Angriffshaltung und ließ den Kopf hängen. Was war er nur für ein Tollpatsch!

Betrübt und mit knurrendem Magen machte er sich wieder auf zu seinem Schlafplatz. Die alte Eiche von letzter Nacht würde ihm wohl noch länger als Lager dienen -bis er in diesem elendigen Winter sein grausames Ende finden würde. Diese wunderschöne, glitzernde, weiße Pracht würde ihm zum Verhängnis werden. Hier würde er also sterben. Allein.

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