Vor langer Zeit


Der Junge mit den dunklen Haaren und den fast schwarzen Augen wälzte sich ruhelos auf einigen Fellen hin und her. Die Wunde an seinem Bein schmerzte. Verursacht vom Schnitt, der zwei Kinder des Dorfes getötet hatte. Eine Technik, die nur wenige Grisha beherrschten. Seine Mutter war eine von ihnen.

Er rollte sich auf den Rücken und starrte die Holzdecke der Hütte an, in der sie hausten. Schon bald würden sie wieder unterwegs sein, von einem Ort zum nächsten ziehen. Um ihr Geheimnis zu bewahren. Ein Schluchzer entwich ihm. Wieso hatte sie es nur getan? Er hatte geglaubt, endlich eine Freundin gefunden zu haben. Jemanden, der ihn mochte und nicht wegen seiner Gabe fürchtete. Doch sie hatte ihn hintergangen, wie seine Mutter es vorausgesagt hatte. Der Schmerz, den der Verrat in seinem Herzen hinterlassen hatte, schmerzte fast noch mehr als die Wunde.

„Eryk? Wie geht es dir?" Eine Heilerin trat ein. Eine der wenigen Frauen in diesem Camp, die dunkelbraune Haare und braune Augen hatten. Sie wirkte freundlicher als die Grisha, die ihn betrogen hatten. Doch das war alles nur Schein. „Ich schaue mir dein Bein gern an, um es zu heilen."

„Meine Mutter hat die Wunde bereits versorgt", beeilte er sich zu sagen. Undenkbar, wenn noch jemand erfuhr, dass er ein Kräftemehrer war. Misstrauisch betrachtete er die Frau. Würde sie ihn ebenso töten wollen oder es den Dorfältesten die Entscheidung überlassen, wer seine Knochen bekam?

„Lena ist eine mächtige Grisha, Eryk, aber keine Heilerin." Die dunkelhaarige Frau trat bedächtig näher. Der Junge rückte auf seinem Lager von ihr weg. Ein greller Schmerz schoss in sein Bein, erinnerte ihn an die Dummheit, die er begangen hatte. Freundschaft und Vertrauen waren nicht für ihn vorbestimmt. Er wandte den Blick zur Seite, weg von der Heilerin. Ein Zittern lief durch seinen Körper. „Ich möchte dir doch nur helfen, Eryk."

Ihre sanfte Stimme, dicht an seinem Ohr, ließ ihn nach Luft schnappen. Wie wenige Stunden zuvor als Annika und Lev ihn fast ertränkt hatten. Vor seinem inneren Auge blitzte der in zwei Hälften geteilte Leib von Ulles Sohn auf. Der Stürmer, der Schwächere verspottet hatte. Daneben die sterbende Fluterin, die ihn unter einem falschen Vorwand zum Teich gelockt hatte. Die Gier hatte beide das Leben gekostet.

Der Junge berührte seinen Kopf, strich über die dünne Schicht, die die Platzwunde bedeckte. Verursacht von einem Stein in der Hand eines verzweifelten Mädchens, das die Mutter durch Drüskelle verloren hatte. Er seufzte schwer. Annika hatte ihn nur verraten, um ihre Familie zu beschützen. Eines Tages würden die Verfolgungen aufhören und die Grisha friedlich mit den Otkazat'sya zusammenleben. Doch das lag fern in der Zukunft. Vorläufig würde er aufpassen müssen und niemandem vertrauen dürfen, so wie seine Mutter es ihm immer vorgebetet hatte. „Ich brauche keine Hilfe", erwiderte er schließlich. „Es wird schon so abheilen."

„Madraya!" Ein dunkelhaariges Mädchen stürmte in die Hütte, zupfte die Frau am Ärmel. „Du wirst gebraucht. Levin hat sich beim Baumfällen verletzt."

Die Heilerin warf dem Jungen noch einen bedauernden, mitleidigen Blick zu, dann huschte sie hinaus. Er atmete erleichtert durch. Die Gefahr war gebannt. Vorläufig.

„Hallo Eryk." Die Kleine, vielleicht acht oder neun Jahre alt, setzte sich auf den Rand seines Bettes und betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen. Dann berührte sie blitzschnell seine Schulter. Ein Stups, mehr nicht, doch genug, um ihn erneut in Angst und Schrecken zu versetzen. Hatte das Kind etwas bemerkt? Er lauschte in seinen Körper. Es fühlte sich nicht an, als ob es an seinen Kräften gezehrt hatte. Nachdenklich musterte er das Mädchen. Braune Haare, die zu zwei Zöpfen geflochten waren, die ihn an Mäuseschwänze erinnerten. Augen so grün wie Moos nach anhaltendem Regen. Das Gesicht mager, die Wangen eingefallen. Kein Grishakind, das vom Herbeirufen der eigenen Gabe von innen heraus strahlte. Otkazat'sya. Wie Sylvie, die durch sein Zutun ihre Schwester verloren hatte. Er schluckte schwer. Er wusste, dass seine Mutter nur tötete, um zu überleben. Denn ihr Leben war ständig bedroht. Von den Menschen und den Grisha. Aus Angst oder aus Gier. Dennoch tat es ihm leid, dass seine Unvorsichtigkeit den Tod zweier Heranwachsender heraufbeschworen hatte. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.

„Annika und Lev haben es nicht anders verdient", flüsterte das Kind, wie um ihn zu trösten. Verwirrt sah er wieder in die moosgrünen Augen, die die Kleine aufmerksam auf ihn gerichtet hatte. „Es ist gerecht, dass du überlebt hast", fuhr das Mädchen fort. „Eines Tages wirst du als Anführer die Grisha aus der Dunkelheit führen und ihnen Schutz bieten. Vergiss nur nie, wer du bist, Aleksander."

*****

Dahin meine Vorsätze, doch noch ein paar Kapitel auf Vorrat zu schreiben. Aber was soll's.

Uploads immer Mittwoch. Ergo am Mittwoch geht es weiter, nicht lange bevor Kirigan die Sonnenkriegerin findet.

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