Kapitel 9
Sie jagten ihre Pferde den Weg entlang, den die Kutsche mit der Sonnenkriegerin genommen hatte. Je weiter sie sich vom Militärlager in Kribirsk entfernten, desto größer wurde die Unruhe, die sich in Kirigans Körper ausbreitete wie die Schattenflur am Tag ihrer Erschaffung.
Ein dichter Wald ragte vor ihnen auf, perfekt für einen Hinterhalt. Er verkrampfte sich und trieb seinen Hengst noch härter an. Katharina wich ihm mit ihrem Schimmel nicht von der Seite. Er knurrte ungehalten. Falls sie plante, ihn im Notfall zu beruhigen, konnte sie sich die Mühe sparen. War seiner Ebenbürtigen ein Unheil zugestoßen, würde er nicht eher ruhen, bis das Blut der Schuldigen den Boden so sehr tränkte, dass dort nie wieder etwas wuchs.
Der Wind wehte Kampfgeräusche zu ihnen. Kirigan folgte dem Lärm, lenkte seinen Rappen zielsicher zu dem Scharmützel zwischen Drüskelle und Grisha. Alina war nicht unter ihnen. Sein Atem stockte. Fiebrig suchte er mit seinem Blick das Gebiet ab, trieb sein Pferd dann rasch weiter. Weg von den Kämpfenden, die Unterstützung in der kleinen Gruppe bekamen, die ihn hierher begleitet hatte. Katharina tötete einen der Widersacher mit der fließenden Handbewegung eines Entherzers.
Auf mehr achtete er nicht. Seine Gedanken kreisten einzig darum, seine Sonnenkriegerin zu retten. Er ließ die Bäume hinter sich, preschte auf die offene Flur. Schon von Weitem sah er die junge Frau schutzlos auf dem Gras liegen, einen der widerwärtigen Fjerda über ihr, die Klinge erhoben. Kirigan sprang im Galopp vom Pferd und riss die Arme hoch. Der Schnitt formte sich mühelos, trennte den Feind in zwei Hälften. Blut spritzte, doch es war nicht das seiner Ebenbürtigen. Sie schien unverletzt zu sein. Er half ihr auf seinen Hengst und preschte mit ihr davon. Ihre Sicherheit hatte vor allem Vorrang. Das würden seine Grisha ebenso sehen. Auf dem schnellsten Weg brachte er sie nach Os Alta, hinter die schützenden Mauern des Kleinen Palastes, wo er sie in der Obhut seiner Untergebenen ließ. Um den ersten Teil seines Plans in die Tat umzusetzen, schickte er nach Genya.
„Moi Soverenyi?" Die hübsche Bildnerin, eine seiner treuesten Grisha, eilte umgehend zu ihm. „Was wünscht Ihr?"
„Wir haben die Sonnenkriegerin gefunden. Ich habe sie in die Zvesta-Gemächer bringen lassen." Er beobachte die Reaktion der jungen Frau. Wie sie die Augenbrauen ein wenig hochzog, wie sich brennende Neugierde in ihren Blick schlich.
„Soll ich mich ihrer annehmen?" Es war offensichtlich, woher ihre Hilfsbereitschaft stammte. Das machte es ihm leichter, sie für den Auftrag zu ermutigen. Es war eine Sache, für ihn im Großen Palast zu spionieren. Ganz anders, eine Grisha, noch dazu die Sonnenkriegerin zu manipulieren. Mit Katharinas Hilfe wäre es einfacher, doch die Idee hatte er schon vor der Ankunft verworfen. So ganz traute er der Heilerin und ihren Kräften nicht. Sie wechselte so mühelos zwischen den Fähigkeiten der Korporalki, dass er nicht mehr mit Sicherheit sagen konnte, ob sie nicht in Wahrheit eine Entherzerin war, die lieber den mühsamen Weg des Heilens auf sich nahm, um keine Menschenleben zu nehmen.
„Das würde ich sehr schätzen", beantwortete er Genyas Frage nach einem Moment der Stille. „Sie hat erst vor kurzem erfahren, dass sie eine Grisha ist. Sie benötigt Unterstützung, um sich hier zurechtzufinden."
Die Bildnerin neigte respektvoll den Kopf. „Ich werde Zeit freimachen, um unserer Sonnenkriegerin zu dienen. Die Zarin wird hoffentlich die Bedeutsamkeit meiner neuen Aufgabe verstehen."
Kirigan stöhnte innerlich auf. Genya erinnerte ihn daran, dass sie sein wichtigstes Pfand in einem strategischen Spiel war, um den Zaren zu schwächen und Informationen über seine Pläne zu sammeln. „Wir sollten es dennoch auf ein Minimum beschränken. Doch wenn Miss Starkov länger bei uns weilt und ihrer Rolle gerecht wird, könnte deine im Großen Palast überflüssig werden." Ein versteckter Hinweis, dass er sie schon bald von ihrem Auftrag als Spionin entbinden würde, wenn sich alles nach seiner Zufriedenheit entwickelte. Ihm entging nicht, wie ein Hoffnungsschimmer in ihren Augen aufflackerte. Die anderen Grisha sahen auf sie herab, weil sie keinem ihrer Orden angehörte. Doch nach erfolgreicher Mission würde sie die Kefta der Korporalki tragen. Ein Wunsch, auf dessen Erfüllung sie seit Jahren hoffte.
„Und der Zar?" Ihr Blick spiegelte kurz wider, wie sehr sie den unfähigen Herrscher Ravkas verabscheute. Doch schnell wies ihr Gesicht wieder den gewöhnten höflichen Ausdruck auf, den man von ihr als persönliche Untergebene der Zarin erwartete. Sie war perfekt für die Rolle, die er für sie vorgesehen hatte.
„Das ist dir überlassen, sofern sich alles unseren Wünschen entsprechend entwickelt."
„Moi Soverenyi." Sie verneigte sich respektvoll, ein Lächeln umspielte ihre Lippen. „Welche Erwartungen habt Ihr in Bezug auf mein Verhalten zu unserer Sonnenkrieggerin?"
„Sie ist ein Waisenkind aus Keramzin. Halb-Shu und dementsprechend ähnlich abweisend behandelt wie Grisha. Von ihrer Gabe hat sie erst jetzt erfahren. Demnach glaubt sie vermutlich noch den Worten der Otkazat'sya, dass wir alle Hexer sind." Kirigan brachte seine Fingerspitzen aneinander, beugte sich zur Bildnerin vor. „Gewinne ihr Vertrauen. Du weißt, wie es sich anfühlt, als Ausgestoßene behandelt zu werden." Er beobachtete, wie ein Anflug von Schmerz über Genyas Gesicht huschte. „Außerdem sollten wir alle Briefe abfangen, die sie verschickt oder die für sie bestimmt sind. Ich vermute, dass wir dadurch mehr über sie erfahren werden. Ebenso ist es wichtig, damit ihre Kontakte zu ihrer alten Welt abzubrechen, wenn sie ihre Gabe akzeptieren und sich hier einleben soll." Gerade Letzteres erschien ihm unerlässlich, wenn er sie nach seinen Vorstellungen formen wollte.
„Wünscht Ihr sonst noch etwas?" Auf sein Kopfschütteln hin verließ die junge Frau den Raum und ließ ihn mit seinen Gedanken zurück. Er stand vom Schreibtisch auf und wanderte ans Fenster. Lange starrte er hinaus, bevor er sich abwandte und widerwillig die Dokumente zur Hand nahm, die auf seine Rückkehr gewartet hatten. Unsinnige Forderungen der Otkazat'sya, die in seinen Grisha nur Marionetten sahen, die man in beliebige Positionen bringen konnte. Er seufzte. Vorläufig würde er sich weiterhin mit diesen Aufgaben herumärgern müssen.
Am Abend erschien er wie üblich nicht zu der gemeinsamen Mahlzeit im Kuppelsaal. Auch das Essen, das ihm eine Dienerin auf einem silbernen Tablett brachte, ignorierte er anfangs. Bis Müdigkeit und ein dumpfes Gefühl im Magen ihn zu einer Pause zwangen. Widerwillig aß er etwas. Erst jetzt, hinter den dicken Mauern und in der Abgeschiedenheit seiner Gemächer, drang zu ihm durch, dass er abermals durch den Hass der Otkazat'sya junge Frauen und Männer verloren hatte. Und dass, obwohl er seit Jahrhunderten versuchte, ihre Position in Ravka zu verbessern. Sein Blick wanderte zum Fenster. Dunkelheit begrüßte ihn wie eine alte Vertraute. Die Furcht vor ihr seit langem verschwunden, war sie seine Verbündete, die ihm Kraft spendete.
Er wandte sich abrupt, verließ eiligen Schrittes seine Gemächer. Schatten tanzten in den spärlich beleuchteten Gängen, folgten ihm wie treue Soldaten auf seinem Weg. Die Wachen am Eingang grüßte er mit einem Kopfnicken, bevor er an die frische Luft trat und mit der Dunkelheit verschmolz. Ziellos wanderte er über das Gelände des Kleinen Palastes. Ein Lichtpunkt huschte unter dem weit entfernten Tor hindurch, zog seine Aufmerksamkeit auf sich wie eine Lampe die Motte. Kräftige Hufe schlugen auf den Weg, sodass der Kies aufspritzte. Das Schnauben eines erschöpften Pferdes, das sich über die Rückkehr in den heimischen Stall freute, hallte zu ihm.
Energischen Schrittes lief er auf den einsamen Reiter zu, der sein Tier vor den Stallungen zum Stehen brachte und von den Strapazen des langen Ritts im Sattel schwankte. Instinktiv ergriff Kirigan die Zügel des im Mondlicht gespenstisch schimmernden Schimmels. Seine Reiterin rutschte vom Pferderücken, packte im letzten Moment den Knauf, um nicht vor Müdigkeit in sich zusammenzusacken. „Ivan hat mich geschickt, damit ich Bericht abliefere." Nur mit Mühe hielt sie sich auf den Beinen.
„Willkommen zurück, Katharina", brummte er der Heilerin ins Ohr und schlang einen Arm um sie. „Das kannst du mir morgen erzählen." Sie lehnte sich erschöpft an ihn. Ihre Haut leuchtete ebenfalls sanft in den Strahlen des Mondes. Fast so, als hätte sie sein Licht gerufen. Kirigan schmunzelte über den Gedanken. Es gab keine Mondbeschwörerin. Nur eine müde junge Frau, die an ihn gelehnt einzuschlafen drohte.
„Lasst mich das Pferd übernehmen, General." Ein Stallbursche, dessen Haare vom Schlafen zerzaust waren, nahm ihm die Zügel ab und führte den Schimmel zum Stall.
Kirigan sah ihm einen Augenblick nach, dann hob er Katharina hoch und trug sie ins Gebäude. Ihre gleichmäßige Atmung verriet, dass die Erschöpfung ihren Tribut gefordert hatte. Zweifelnd schaute er den Gang hinunter, der ihn zu ihrem Zimmer im Trakt der Korporalki bringen würde. Ihr Kopf lehnte an seiner Schulter und ihr Atem strich sanft über seinen Hals. Ein Gefühl von Ruhe breitete sich in seiner Brust aus. Kurzentschlossen wandte er sich ab und trug die Heilerin zu seinen Gemächern. Behutsam legte er die schlafende Frau auf sein Bett. Er zog sich einen Stuhl heran und beobachtete, wie sich ihr Brustkorb langsam hob und senkte. Eine Strähne ihrer langen braunen Haare hing ihr in die Stirn. Vorsichtig strich er ihr diese hinters Ohr. „Warum schenkt mir deine Nähe nur so viel Entspannung?", murmelte er. „Du bist nicht meine Ebenbürtige und doch zieht es mich zu dir. Warum? Ich verstehe es nicht." Er stand auf, um in den anliegenden Raum zu wechseln. Bei der Tür hielt er inne, drehte sich noch einmal zu Katharina um. „Schlaf gut, Ina. Ich werde heute Nacht über dich wachen."
Am Morgen weckte ihn ein Klopfen. Ächzend erhob er sich aus dem Sessel, in dem er nach langem Nachdenken eingeschlafen war. Egal, wie sehr er sich den Kopf zerbrach und die Ursache für diese unerklärliche Anziehungskraft zu ergründen suchte, er fand keine Antwort.
Ivan, wie es schien gerade eingetroffen, trat mit einer besorgten Miene ein. „Moi Soverenyi", grüßte er höflich. „Ich habe einen großen Fehler begangen."
Kirigan hob eine Braue. War etwas nach seinem überstürzten Aufbruch vorgefallen?
„Ina." Ivan stocke. „Ich meine Katharina. Ich hatte sie vorgeschickt, damit sie Euch berichtet, doch wie es aussieht, ist sie nicht auf ihr Zimmer zurückgekehrt." Der Entherzer straffte die Schultern. „Ich wollte nach meiner eigenen Rückkehr sehen, wie es ihr geht, doch ich habe sie nicht angetroffen und ihr Bett ist unberührt."
Kirigan erlaubte sich ein Schmunzeln. „Sie kam spät in der Nacht hier an. So übermüdet, dass sie fast im Stehen einschlief. Es geht ihr gut. Dafür habe ich Sorge getragen."
„Moi Soverenyi?" Ivan runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht."
„Was unser General damit sagen will. Er hat mir sein Bett überlassen." Die Heilerin lehnte sich an den Türrahmen zum Schlafzimmer und gähnte verhalten. „Ich weiß zwar nicht, wie ich hierher gekommen bin, aber ich nehme mal an, dass unser General mich getragen hat." Sie wandte sich Kirigan zu. „Bitte verzeiht die Umstände, die ich Euch bereitet habe."
Da war sie wieder. Die höfliche Seite, die sich zeigte, wenn jemand Weiteres im Raum war. Er beschloss, sie auf die Probe zu stellen. „Wie du siehst, kannst du dich beruhigt ausruhen, Ivan. Ich erwarte deinen Bericht später. Du kannst dich jetzt zurückziehen." Der Entherzer grüßte respektvoll und wandte sich zum Gehen. Die Heilerin wollte ihm hinterhereilen. „Du bleibst noch hier, Katharina. Setz dich doch bitte." Er wies auf einen Stuhl. „Vorerst kannst du mir berichten, was vorgefallen ist."
„Wie Ihr wünscht, moi Soverenyi."
*****
Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich bin stinkig, dass Netflix Shadow&Bone abgesetzt hat ...
Mal schauen. Der Darkling fühlt sich also zu Katharina hingezogen. Na das hat doch eh keine Zukunft.
Armer Ivan, der war völlig fix und fertig, weil er Katharina nicht finden konnte. Und dann kommt sie ausgerechnet aus dem Schlafgemach seines Generals.
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