Kapitel 8


Das Zelt füllte sich mit Grisha, die sehnsüchtig auf die Rückkehr des Skiffs warteten. Jeder erwartete angespannt die Ankunft der Sonnenkriegerin. Getuschel war aus den Reihen der Wartenden zu vernehmen. Manche stellten Mutmaßungen an, wer die unbekannte Grisha war und woher sie kam. Sie waren sich einig, dass sie nicht aus Ravka stammte, weil man sie sonst eher gefunden hätte. Eine Suli, die mit ihren Eltern von einem Ort zum nächsten zog und dadurch den Testern entgangen war, hielten wenige für wahrscheinlich. Vereinzelte Stimmen wurden laut, dass sie möglicherweise aus Shu-Han geflüchtet war, doch der Großteil tippte auf eine Bewohnerin Fjerdas, die auf wunderliche Weise den Drüskelle entronnen war. Nicht zuletzt wegen der Geschehnisse vor einigen Wochen in den Ausläufern des Petrazoj.

Kirigang ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Ivan und Fedyor hielten sich ein wenig abseits von dem Pulk aus roten, blauen und den vereinzelten purpurnen Keftas. Seine Grisha redeten gleichzeitig aufeinander ein, brachten Argumente für ihre jeweiligen Theorien. Doch jemand fehlte. Katharina. So sehr ihn ihr Verhalten irritierte, so wenig Zeit hatte er, um sich damit persönlich zu befassen. Es gab nun Wichtigeres als eine einzelne widerspenstige Frau, die seine Befehle missachtete. Er hatte bereits geahnt, dass er sich nicht auf sie verlassen konnte. Zu schade, könnte er ihre Gabe gut gebrauchen, um die Sonnenkriegerin für sich zu vereinnahmen. Doch womöglich gestaltete sich das weitaus müheloser, als er erahnte.

Erneut trat jemand ein. Kirigans Mundwinkel zuckten kurz. Selbst die störrische Heilerin konnte sich der allgemeinen Aufregung nicht entziehen und war ihrer Neugierde gefolgt. Er beobachtete, wie sie sich hektisch umsah und sich dann einen Weg durch die Menge zu ihren Freunden bahnte. Die Dringlichkeit, mit der sie auf Ivan einredete, missfiel ihm. Etwas stimmte da nicht. Als der Entherzer ruckartig den Kopf in seine Richtung wandte, winkte er ihn zu sich heran.

Dieser packte die Heilerin am Arm und zog sie hinter sich her. „Moi Soverenyi. Katharina glaubt in Erfahrung gebracht zu haben, wer die Sonnenkriegerin ist."

„Ist das wahr, Katharina?" Voller Erwartung richtete er die Aufmerksamkeit auf die junge Frau, die seinem Blick mühelos und selbstbewusst standhielt. „Erzähl", forderte er sie auf.

„Eine der Kartografinnen, Alina Starkov, scheint schwächer und kränklicher zu sein als der Rest ihrer Einheit. Es spricht dafür, dass sie ihre Gabe unterdrückt."

Das war durchaus eine in Betracht zu ziehende Möglichkeit, wenn da nicht die Informationen wären, die er erhalten hatte. Er wandte sich Ivan zu, der bei Katharinas Worten das Gesicht verzog. „Was ist deine Einschätzung dazu?"

„Völlig ausgeschlossen. Sie stammt wie der Fährtenleser aus einem Waisenhaus in Keramzin. Unsere Tester sind dort regelmäßig vor Ort, um die Kinder zu prüfen." Er verschränkte die Arme vor der Brust.

„Es gibt Möglichkeiten, das Ergebnis des Tests zu manipulieren", warf sie als Gegenargument ein.

Kirigan sah sie scharf an. Hatte sie ihm doch etwas mit dem Mädchen im Wald verschwiegen? Wie hieß es noch gleich? Er kam nicht auf den Namen. Impulsiv packte er Katharina am Handgelenk. Ihre Gabe reagierte auf ihn, drängte an die Oberfläche. Eine angenehme Energie strömte durch seinen Körper. Seine Atmung und seine Muskeln entspannten. Gelassen betrachtete er die Grisha, deren Haut in einem sanften Licht zu glühen schien. Er blinzelte verwirrt. Der Glanz war weg. Möglicherweise nur eine optische Täuschung durch seine Verstärkung ihrer Gabe. Sie war nicht die stärkste und erfahrenste Heilerin, aber ihre Fähigkeit, Menschen durch Berührung zu entspannen, faszinierte ihn. Wenn sie doch nur loyaler und zuverlässiger wäre. Er atmete tief aus.

„Darf ich jetzt weitersprechen?" Sie sah zu ihm auf, ein verschmitztes Lächeln umspielte ihre Lippen. Kirigan nickte nur, hielt sie weiterhin fest. „Alina Starkov ist zur Hälfte Shu. Welcher Otakazat'sya achtet schon auf jemanden, der wie der Feind aussieht? Die sind höchstens froh, dass sie schwach ist. Daher schenkt ihr niemand Beachtung. Außerdem scheint sie mit dem Fährtenleser befreundet zu sein, der zuvor schon für die Überfahrt mit dem Skiff eingeplant war."

„Und um ihm nahe zu sein, hat sie die Karte von West-Ravka zerstört", führte Ivan Katharinas Erklärung fort, die Augen weit vor Überraschung. „Sie hatte durch ihre Tätigkeit Zugriff darauf."

Kirigan runzelte die Stirn. Hatten sie die Entdeckung der Sonnenkriegerin einzig ihrer Loyalität zu diesem Fährtenleser zu verdanken? Wenn ihr Freundschaft so wichtig war, würde er auf jeden Fall Genyas Hilfe benötigen. Fedyors ebenfalls, denn mit seiner herzlichen Art nahm der Entherzer jeden für sich ein. Ivan war mit seiner abweisenden Art nicht geeignet, um das Vertrauen von jemandem zu gewinnen. Katharina wäre nützlich, doch ihr vertraute er nicht völlig. Zu kurz lebte sie im Kleinen Palast, zu unbeständig war ihr Verhalten.

„Es würde zumindest die Vorkommnisse erklären." Die Heilerin zuckte mit den Achseln. „Ich muss wieder raus. Es gibt bestimmt Verletzte auf dem Skiff." Sie versuchte, ihr Handgelenk aus Kirigans Umklammerung zu befreien. „General? Ich würde gern den Menschen helfen."

Er betrachtete sie nachdenklich. „Ich brauche dich möglicherweise hier. Ivan, du passt auf, dass sie hierbleibt." Ihr entrüstetes Schnauben ignorierend, gab er dem Entherzer ein Zeichen, sich mit ihr zurückzuziehen.

Dieser schlang einen Arm um sie und führte sie zu Fedyor, der ihnen freundlich lächelnd entgegensah. Kaum stand sie vor ihm, zog er sie an seine Seite und verstrickte sie in ein Gespräch. Kirigan beobachtete alles wohlwollend. Auf seine zwei Entherzer war Verlass. Die Heilerin war vorläufig beschäftigt. Sie würde weder weglaufen, noch die Sonnenkriegerin zur gemeinsamen Flucht überreden. Zugegeben, Katharina hatte für ihn Informationen über die Frau besorgt, die möglicherweise seine langerhoffte Ebenbürtige war. Doch sein Gefühl verriet ihm, dass sie nicht völlig selbstlos handelte. Was hoffte sie damit zu erreichen? Dass sie ihm entkommen konnte, wenn er seine Aufmerksamkeit auf diese Alina Starkov verlagerte? Was, wenn Katharina gelogen hatte? Er betrachtete sie scharf, fing dabei den fragenden Blick Ivans auf. Sein getreuer Untergebener hätte ihm berichtet, wenn die Heilerin ihnen eine Lüge aufgetischt hätte.

Er atmete tief durch, bemühte sich um eine nonchalante Körperhaltung. Niemand brauchte zu erfahren, wie aufgewühlt er vor der bevorstehenden Ankunft seiner Sonnenkriegerin war. Von dem Holzanleger bei der Schattenflur hallten aufgeregte Rufe zu ihnen. Er wandte sich ab. Erst wenn man sie zu ihm brachte, würde er sich wieder umdrehen.

„Ina." Fedyors Ruf hallte durch das Zelt. Möglicherweise, weil die Heilerin sich abermals aus dem Staub machte. Kirigan atmete einmal tief durch. Er hoffte für Katharina, dass sie den allgemeinen Aufruhr nicht zu einer Flucht nutzte, sondern nur zum Skiff lief, um den Verletzten zu helfen. Sie wusste, was er von ihr erwartete und dass sie es besser nicht wagte, ihn zu enttäuschen.

Schritte näherten sich. Aufgeregtes Gemurmel erklang vor dem Zelt. Licht fiel hinein, das flüsterten ihm seine Schatten zu, als man die Sonnenkriegerin zu ihm führte. Endlich nach einer Ewigkeit des Wartens würde sie sich ihm anschließen und gemeinsam mit ihm das Leben aller Grisha in Ravka verbessern. Er harrte noch einen Moment mit dem Rücken zu ihr aus und sammelte seine Gedanken. Er forderte seine zwei Oprichniki, die die Frau begleiteten, dazu auf, sie näher heranzuführen. Erst dann drehte er sich zu ihr um. Halb Shu, wie Katharina gesagt hatte. Alina Starkov, eine unauffällige Kartografin, die ihre Gabe vor der Welt versteckt gehalten hatte. Sie wirkte verwirrt, weil man sie zu ihm brachte. Zu ihm, den sagenumwobenen Anführer der Zweiten Armee. Die Otkazat'sya hielten ihn für einen direkten Nachfahren des Schwarzen Ketzers. Wenn sie nur wüssten. Vielleicht würde er es sie erfahren lassen, jetzt wo seine Ebenbürtige endlich den Weg zu ihm gefunden hatte.

Er ließ erneut seinen Blick über sie gleiten. Ihre Haut glühte von dem Gebrauch ihrer Gabe noch ein wenig nach. Die verschmutzten Wangen und die lächerliche Kleidung der Ersten Armee taten ihrer natürlichen Schönheit keinen Abbruch. Es wunderte ihn, dass die Otkazat'sya nicht bemerkt hatten, was für eine außergewöhnliche Frau mitten unter ihnen lebte. „Näher", forderte er sie auf. Zögernd kam sie dem nach. Fürchtete sie ihn etwa? Ihn, der dafür sorgen würde, dass sie nie wieder solch minderwertige Kleidung zu tragen brauchte. Der ihr ein Leben in Luxus bot und dafür sorgte, dass man sie sah.

„Was bist du?" Er fragte absichtlich nicht, wer sie war. Das wusste er bereits. Ihn interessierte vielmehr, ob sie ihre Gabe verheimlicht hatte, um unerkannt unter den Otkazat'sya zu leben.

„Alina Starkov. Hilfskartografin. Königliche Landvermesserin." Sie babbelte weiter, ihre Stimme zitterte. Armes Ding. So hilflos. Er wiederholte seine Frage. Ihre gestammelte Antwort brachte die Anwesenden zum Lachen. Es schien ihr wirklich nicht bewusst zu, welche Macht in ihr geschlummert hatte. Erkannte sie diese durch den Schock nicht an? Er beschloss, Zoya nach den Ereignissen zu fragen.

Die Stürmerin nahm Haltung an. Wie immer erpicht darauf, bei ihm einen guten Eindruck zu hinterlassen. „Jemand entzündete eine Laterne. Die Volcra stürzten sich zuerst auf die Schützen und unsere Inferni. Und dann erschien ein gleißendes Licht."

Seine Muskeln entspannten sich. Es bestand kein Zweifel mehr, dass man ihm seine Sonnenkriegerin gebracht hatte. Er hakte nach, ob sie diejenige war, die das Licht heraufbeschworen hatte. Sie schüttelte sprachlos, fast schon ängstlich den Kopf. „Wo bist du aufgewachsen?" Die nächste Frage, auf die er die Antwort bereits kannte.

„Keramzin."

„Und wann wurdest du geprüft?" Er beobachtete sie genau. Ihre Augenlider flatterten und sie schaffte es kaum, den Blickkontakt zu halten. Immer wieder wanderte er ab, zeigte zu deutlich, dass sie angestrengt überlegte. Suchte sie nach einer Ausrede oder plante sie, ihn anzulügen? Als sie weiter zögerte, trat er auf sie zu und steckte seinen persönlichen Testerring vom kleinen Finger auf den Daumen. Der Aufforderung, ihren Ärmel hochzuschieben, kam sie nur halbherzig nach. Er sah ihr an, wie gern sie sich davonmachen wollte, wie ihr die Situation Angst einjagte. Doch sie brauchte niemanden mehr zu fürchten. Nicht mit der Macht, über die sie verfügte.

Seine Schatten schwärmten durch das Zelt, verdunkelten es immer weiter. Behutsam ritzte er ihren Oberarm an. Aus der Wunde schoss ein greller Lichtstrahl empor, durchbohrte das Zeltdach. Ihre Pupillen waren vor Schreck und Erstaunen geweitet, ihr Mund stand zu einem lautlosen O geöffnet. Seine Sonnenkriegerin. Er hatte sie endlich gefunden.

Wenig später sah er ihr hinterher, als zwei seiner Oprichniki sie zu seiner Kutsche führten. Er gab Ivan und Fedyor einen Wink. Seine treuen Entherzer sollten sie begleiten und auf der Reise nach Os Alta vor jeglicher Gefahr beschützen. Hinter den dicken Mauern des Kleinen Palastes war sie in Sicherheit. Sie musste erst noch lernen, mit ihrer Gabe umzugehen. Das gab ihm Zeit und Gelegenheit, um sein weiteres Vorgehen zu planen.

Die Gespräche seiner Grisha drehten sich nach ihrer Abreise nur noch um die Sonnenkriegerin. Kirigan vertiefte sich in die Arbeit, besprach einige Dinge mit Offizieren der Ersten Armee. Alinas Übertritt zur Zweiten musste protokolliert werden. Einige Formalitäten, nichts Weltbewegendes. Doch je länger er mit diesen Formsachen beschäftigt war, desto mehr wünschte er sich, bei ihr in der Kutsche zu sitzen, um ihr Vertrauen zu gewinnen. Nach einer Weile trat er an die frische Luft.

„General." Katharina schritt eilig auf ihn zu. „Wäre es nicht klüger, wenn Ihr ebenfalls zum Palast zurückkehrt? Das Licht war weithin sichtbar. Sollten sich Drüskelle oder Spione der Shu in der Nähe aufhalten, ist das Leben der Sonnenkriegerin in Gefahr."

Seine Augen weiteten sich. „Lass meinen Hengst satteln."

„Längst passiert." Die Heilerin begleitete ihn zu den Pferden. Neben seinem Rappen stand ihr Schimmel. Einige Grisha warteten ebenfalls mit ihren Tieren auf den Aufbruch. Hatte Katharina sie zusammengerufen? Ungewöhnlich, aber nicht undenkbar. Sie schien sich in den letzten Tagen einiges im Verhalten von Ivan abgeschaut zu haben und da sie sich meist in der Gesellschaft des Entherzers zeigte, respektierten die Frauen und Männer sie ebenfalls.

„Du kehrst mit uns zurück?" Er wandte sich zu ihr um, musterte sie mit gerunzelter Stirn.

„Die Kinder vermissen mich vermutlich längst." Sie warf einen Blick aufs Lager und fügte verschwörerisch flüsternd hinzu: „Und ich fühle mich ohne meine Freunde hier nicht wohl." Ohne auf seinen Befehl zu warten, saß sie auf.

Kirigan unterdrückte ein Schmunzeln. Katharina bewies, dass jeder eine Schwäche hatte, mit der man eine Person gefügig machen konnte. In ihrem Fall waren es die zwei Entherzer. Die Sonnenkriegerin würde er ebenfalls nach seinen Vorstellungen formen können. Daran bestand kein Zweifel.

*****

Böse Katharina. Liefert sie ihm einfach so benötigte Informationen. Hättet Ihr das erwartet?

Und was haltet Ihr davon, dass sie Kirigan dazu bringt, Alina und ihren Begleitern zu folgen? Will sie wirklich nur zum Kleinen Palast zurück?

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