Kapitel 5
„Wie gefällt dir dein neues Zuhause, Katharina?" Fedyor lächelte breit und wies auf den Kleinen Palast.
Kirigan beobachtete die Heilerin, wie sie eine Grimasse schnitt. Sie schien wenig beeindruckt, eher angewidert. Konnte sie nicht einmal etwas schätzen? Irritiert lief er an ihr vorbei in die Eingangshalle und begrüßte einige Grisha, die ihm entgegenkamen. Eine junge Stürmerin hieß ihn mit einem Leuchten in den Augen willkommen. Zoya. Oft hatte sie für kurzweilige Ablenkung gesorgt, doch jetzt konnte er sie nicht gebrauchen. Er winkte ab, stiefelte weiter durch die Gänge des bemerkenswerten Gebäudes, das ihnen allen Schutz bot. Ohne abzuweichen, geradewegs auf die Türen seiner Gemächer zu. Er benötigte Ruhe, um über die verschwundene Sonnenkriegerin nachzudenken.
Er stützte sich auf der Platte des riesigen runden Tisches ab, der ihm für die visuelle Darstellung der Grenzen und der Front diente. Ausführlich studierte er die Gegebenheiten. Wohin war sie geflohen? Weiter in den Süden. Katharina hatte ihn davon überzeugt, dass die Gesuchte sich niemals freiwillig noch länger im Grenzgebiet zu Fjerda aufhalten würde, wenn sie nicht ihr Leben in Gefahr bringen wollte. Sein Blick fiel auf das Gebilde aus schwarzen Stäben, das die Schattenflur darstellen sollte. Davor kleine Boote mit Segeln für die Skiffs. Würde sie versuchen, Ravka durch die Flur zu verlassen? War sie deswegen so weit oben im Norden? Um einen Weg aus ihrer Heimat zu finden? Wie konnte sie es wagen, sich ihm zu entziehen? So lange hatte er auf sie gewartet und nun das.
Er ballte die Fäuste. Die Haut spannte über seinem Kiefer. Jetzt, wo niemand seiner Untergebenen anwesend war, brauchte er das Bild des stoischen Anführers nicht aufrecht zu erhalten. Immer so tun, als ob. Immer das Ansehen des tadellosen Generals bewahren. Es ermüdete ihn. Er hatte es satt, dem verschwenderischen fetten Zaren zu dienen, der die Grisha nur duldete, solange sie ihm nützlich waren.
Kirigan war davon überzeugt, dass, sowie die Notwendigkeit der zweiten Armee verschwand, die Grisha aus dem Kleinen Palast vertrieben werden würden.
General Kirigan. Er schnaubte leise. Den Namen war er ebenso leid. Würde er jemals wieder Aleksander Morozova sein dürfen? Der Enkel des Knochenschmieds? Nicht, dass die Verwandtschaft zu dem alten Irren ihm etwas bedeutete. Doch sich immer neu zu erfinden, zehrte an seiner Geduld. Tausende Rollen hatte er gespielt. Auf der Flucht vor Verfolgung und Verrat. Und jetzt floh seine Sonnenkriegerin vor ihm. Nein, sie verriet ihn.
Er umrundete den Tisch, versuchte, über verschiedene Einfallswinkel ein stimmigeres Gesamtbild zu bekommen. Wo steckte sie?
Jemand klopfte an der Tür. „General?"
Ivan. Kirigan trat einen Schritt zurück, strich seine Kefta zurecht und konzentrierte sich auf seine Haltung. „Komm herein, Ivan." Zufrieden stellte er fest, dass seine Stimme nichts von seinem inneren Aufruhr verriet. So sollte es sein. Der unerschütterliche Anführer, der immer ein offenes Ohr für seine Untergebenen hatte.
Der hochgewachsene Entherzer mit der meist ernsten Miene trat ein und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. „Moi Soverenyi."
„Was führt dich zu mir, Ivan?" Er neigte den Kopf ein wenig fragend zur Seite, signalisierte Interesse, ohne neugierig zu wirken. „Gibt es Neuigkeiten in Bezug auf die Sonnenkriegerin?"
„Leider nein, General." Der Mann räusperte sich. „Es ist wegen Katharina."
Kirigan hob eine Braue. War die Heilerin bei dem Versuch, vom Gelände des Kleinen Palastes zu türmen, erwischt worden? „Was sollte mit ihr sein?"
„Fedyor dachte, Ihr möchtet ihr eventuell die Grisha-Schule zeigen und sie mit ihrer Arbeit vertraut machen. Da sonst nie erwachsene Grisha zu uns stoßen." Er zuckte mit den Achseln.
Ah, daher wehte der Wind. Seit langem zogen Prüfer durchs Land, um begabte Kinder zu finden. Diese wurden den Betreuern übergeben. Doch niemand wusste, wie man sich in diesem Präzedenzfall verhielt. Daher suchte man seine Führung. „Normalerweise wäre das nicht notwendig, aber ich wollte Katharina noch einige Fragen zu dem Licht im Wald stellen. Es klingt zu unwahrscheinlich, dass sie nichts gesehen hat. Folge mir, Ivan."
„Sehr wohl, moi Soverenyi." Der Entherzer folgte ihm auf dem Fuße und würde herausfinden, ob Katharina sie alle in Bezug auf die Sonnenkriegerin belog.
Sie stand zusammen mit Fedyor vor dem Gebäude, in dem die Schule untergebracht war. „Sie haben gleich Pause. Das wäre der geeignete Moment, dich vorzustellen", hörte Kirigan ihn sagen.
„Fedyor, bitte. Ich gehöre hier nicht her." Ihre sanfte Stimme ein Flehen, als ob der Mann vor ihr die Entscheidungsgewalt darüber hätte, ob sie blieb oder ging.
Kirigan unterdrückte ein Knurren. Sie hatte sich auf dem langen Ritt bereits als wichtiges Mitglied erwiesen, indem sie den Entherzer vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Und dennoch wollte sie verschwinden. Aus welchem Grund? Aufgrund ihres Wissens? „Und warum nicht?"
Die Heilerin fuhr zu ihm herum, schien einen Augenblick mit sich zu kämpfen. „Weil ich hier nicht aufgewachsen bin, moi Soverenyi. Zu viele Menschen, die ich nicht kenne."
„Es mag wahr sein, dass Kinder sich schneller eingewöhnen, doch das ist auch nicht immer der Fall. Wir haben hier Jungen und Mädchen, die aufgrund ihrer Gabe von ihren Eltern verstoßen wurden. Sie fühlen sich nirgends sicher, wurde ihnen doch das Wichtigste genommen, als sich ihre Kräfte offenbarten." Er trat vor, fasste die Heilerin sanft am Oberarm. „Deswegen bist du hier. Um sie zu trösten, sie zu halten. Wie du es bei Kim getan hast. Ich nehme es dir nicht übel, wenn du dich in deiner Freizeit vom Trubel zurückziehen möchtest. Die unterschiedlichen Orden bleiben meist untereinander. Entherzer und Heiler bilden die Korporalki. Fedyor wird dir alles zeigen, damit du dich zurechtfindest. Ich sehe also keinen Grund, weshalb du uns verlassen solltest."
Sie wich seinem Blick aus, benetzte ihre Lippen. Ihr Unbehagen manifestierte sich überdeutlich. Er hatte keine Zeit, sich damit aufzuhalten.
„Doch weswegen ich mit dir sprechen wollte. Was genau ist im Wald vorgefallen? Hast du die Sonnenkriegerin gesehen?" Akribisch studierte er ihre Miene, suchte dort die Antwort auf seine Fragen.
„Das habe ich Euch doch bereits erklärt. Die Drüskelle haben Kim und ihre Familie angegriffen, die beiden Erwachsenen getötet. Jemand tötete daraufhin die Drüskelle und rettete damit Kim. Ich habe nicht gesehen, dass eine Sonnenkriegerin es getan hat. Als ich dort ankam, hielt sich dort keine Sonnenkriegerin auf. Ich weiß nicht, wo sich eine Sonnenkriegerin befindet."
Er warf einen Blick zu Ivan. Dieser nickte kaum merklich. Katharina sagte die Wahrheit. Abermals. Kirigan ließ ihren Arm los. Als er sich zum Gehen wandte, sah er, wie sie sich über die Stelle rieb. Er krümmte sich innerlich. Im Verlauf des Gesprächs hatte er den Druck erhöht. Ein Fehler, der ihm nicht unterlaufen durfte, wenn er von seinen Untergebenen bedingungslos geliebt werden wollte. „Ich bitte um Entschuldigung, Katharina. Die Sonnenkriegerin zu finden, ist für Ravka von äußerster Wichtigkeit."
„Das verstehe ich, moi Soverenyi." Erneut wich sie seinem Blick aus. Sie schien sich in seiner Gegenwart unbehaglich zu fühlen. Nur warum? Er vermochte es, mit seiner Ausstrahlung jede Frau um den Finger zu wickeln. Mal abgesehen von Baghra. Wieso wehrte die Heilerin sich gegen seine Anziehungskraft? So etwas konnte für Probleme sorgen.
Er trat erneut auf sie zu und schenkte ihr ein Lächeln. Gleichzeitig bot er ihr seinen Arm zum Einhaken an. „Dann wird es jetzt Zeit, dass die Kinder dich kennenlernen." Sie hakte sich ein und er legte seine Hand auf ihren Unterarm. Die Nähe eines Mannes, vor allem eines mächtigen Generals wie ihm, verunsicherte junge Frauen. Ein wenig Aufmerksamkeit und sie würde schon bald all seine Befehle widerstandslos befolgen. Wie all seine Grisha im Kleinen Palast. Sie alle verdankten ihm viel. Sicherheit, Schutz vor Verfolgung, ein gemeinsames Zuhause. Die Heilerin würde sich bald fügen. Sie konnte gar nicht anders.
Die Glocke, die die Pause einläutete, tönte über den Platz. Gleich darauf quetschte sich ein wilder bunter Haufen zwischen den Türen hindurch, stürmten nach draußen. Die älteren Kinder grüßten ihn höflich, bevor sie einen neugierigen Blick auf Katharina warfen. Die Jüngeren hielten mitten im Lauf inne, die kleinen Münder voller Verwunderung geöffnet. Ein etwa sechsjähriges Mädchen stolperte, fiel hin. Die Heilerin löste sich von Kirigan, eilte zu dem Kind, das krampfhaft versuchte, die Tränen zu unterdrücken. Sie nahm die Kleine auf den Schoß, flüsterte ihr etwas ins Ohr. Einen Moment wiegte sie das Mädchen in ihren Armen, dann schickte sie sie zurück zu den Freunden. Dort angekommen drehte das Kind sich um und winkte Katharina lächelnd zu. Das nahmen die anderen Schulkinder zum Anlass, sich um die für sie fremde Frau zu scharen. Die Mutigeren feuerten eine Frage nach der nächsten auf sie ab. Wie sie hieß. Wie alt sie sei. Woher sie kam. Warum sie nicht eher zum Kleinen Palast gekommen war.
Kirigan wandte sich schmunzelnd ab. Diese Aufgabe würde die Heilerin schon von weiteren Gedanken an eine Flucht abhalten. Die Kinder würden es ihr ermöglichen, ihre Angst vor der Gemeinschaft zu überwinden. Vermutlich war sie zu viele Jahre allein umhergezogen und hatte sich immer vor einem Angriff auf ihr Leben fürchten müssen. Das würde ihre Scheu erklären. „Fedyor. Sorge dafür, dass Katharina angemessene Kleidung erhält. Kläre mit ihr, ob sie ein Gemach in der Nähe der Kinder wünscht oder in eurem Flügel im Palast." Er wandte sich dem anderen Entherzer zu, der die Kinder mit einer unergründlichen Miene beobachtete. „Ivan, mit mir."
Zusammen mit einem seiner engsten Vertrauten kehrte er an den Tisch zurück. Gemeinsam überlegten sie, ob sie auf der Suche nach der Sonnenkriegerin etwas im Grenzgebiet übersehen hatten. Da sie nichts fanden, drehte sich ihr Gespräch alsbald um die Kriege und die Aufgaben, die der Zar den Grisha stellte.
„Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf, General." Ivan wies auf die Skiffs vor der stilisierten Schattenflur. „In zwei Monaten soll ein neuer Prototyp durch die Flur nach Novokribirsk reisen. Es wäre ein deutliches Zeichen an die erste Armee, wenn Ihr vor Ort wäret."
„Eine ausgezeichnete Idee. Wir müssen den Otkazat'sya unsere Verbundenheit und Stärke demonstrieren. Es gibt noch zu viele Soldaten, die einer Zusammenarbeit mit der Zweiten Armee missbilligend entgegensehen. Dabei sind wir es, die dafür gesorgt haben, dass die Kriege nicht längst zu Gunsten von Fjerda oder Shu-Han entschieden wurden."
Und sie würden es nie begreifen. Ein anderer Weg musste beschritten werden, doch dafür benötigte er die Sonnenkriegerin. Er ließ den Blick erneut über den Tisch gleiten, über die Stützpunkte und Grenzen. Wo versteckte sie sich nur?
*****
Ups, Katharina will da nur weg und der Dunkle jault noch immer herum, weil er die Sonnenkriegerin nicht gefunden hat.
Was meint Ihr, wird Katharina versuchen, aus dem Kleinen Palast zu fliehen?
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