Kapitel 25
Die Bewohner des Bauernhauses kehrten nicht zurück. Aleksander tat sich gütlich an ihren Vorräten und versorgte seine Wunden mit den selbstgemachten Kräutersalben der Bäuerin. Er vermisste die Fertigkeiten seiner Heiler, die ihm den Schmerz in Minuten hätten nehmen können. Stattdessen musste er die Zähne aufeinanderbeißen, wenn tausende Stiche wie von heißen Nadeln durch seine Lungen rasten und ihm den Atem nahmen. Ihn reizten, bis er schwarzes Blut aushustete.
Wenigstens sah Ina ihn nicht in diesem Zustand.
Polternd schlug er mit der Faust auf den Küchentisch. Es war alles Alinas Schuld. Sie und ihre unerklärliche Weigerung den Grisha, ihren eigenen Leuten zu helfen, hatten ihm Hindernisse in den Weg gelegt und all seine bisherigen Bemühungen zunichtegemacht.
Er würde nicht eher ruhen, bis er die Lantsovs beseitigt und den Grisha einen neuen Zufluchtsort gebaut hatte. Vielleicht in zwei oder drei Generationen konnte er auch wieder den Kleinen Palast nutzen.
Ein Knurren drang aus seiner Brust. Was dachte er da? In spätestens einem Jahr saß er als rechtmäßiger König auf dem Zarenthron und führte Ravka in eine glorreiche Zukunft. Vorbei die Kriege mit Fjerde und Shu-Han. Vergangenheit die Zeiten, in denen Grisha zwangsverpflichtet wurden. War er erst Herrscher, würden sie sich freiwillig melden. Aus Dank für seine unermüdlichen Bemühungen um ihre Sicherheit.
Abrupt stand er auf und starrte finster nach draußen. In der Ferne ragte sein Werk empor. Blitze durchzuckten die Masse aus düsteren Schatten, die seine erste geschaffene Armee beherbergte. Wesen, die sich gegen ihn gerichtet hatten wie zuvor König Anastas, für den er einen Krieg gewonnen hatte. Nur ein weiterer Verrat in seinem langen Leben, in dem er zu viele Verluste hatte einstecken müssen. Doch jetzt würden sie dafür bezahlen.
Mit einer kräftigen Armbewegung wischte er das Geschirr und alles andere vom Tisch. Er benötigte es nicht mehr. Sowie er sich einen Überblick über die Umgebung verschafft hatte, zog er weiter. Anhand des einzelnen Bauernhauses konnte er nicht seinen genauen Aufenthaltsort bestimmen. Mit einer Karte sah das anders aus.
Mit weit ausholenden Schritten lief er in die gute Stube der Bauernfamilie. Eine liebevoll mit geklöppelten Deckchen verzierte Kommode, die er am Vortag nach brauchbaren Utensilien durchforstet hatte, verbarg eine grobe, auf Pergament gefertigte Skizze der Landschaft. Von bevor er die Flur ausgedehnt hatte.
Seine Mundwinkel zuckten. Oh, er würde sein Werk noch weiter über Ravka wandern lassen. Als Zeichen, dass sie sich mit dem Falschen angelegt hatten. Angst und Schrecken würden die einfachen Bewohner verscheuchen, ihnen keine Ruhe gönnen. Wer sollte die Felder bestellen, wenn die Bauern panisch flohen, bevor die Schatten das Land einnahmen? Wer die Waren zum Markt und in die Städte karren?
Die Zarenfamilie würde schon bald erkennen, dass ihre Zeit gekommen war. Der König vergiftet, der Kronprinz ein spielsüchtiger Frauenheld und dessen jüngerer Bruder ein Herumtreiber, der seit Jahren mit Abwesenheit glänzte. Sie würden ihn und seine Grisha nicht aufhalten können, sowie Aleksander seine Truppe neu aufgestellt hatte.
Er breitete die Karte auf dem Küchentisch aus und fuhr den Rand der mit schwarzer Kohle dilettantisch eingezeichneten Schattenflur mit dem Zeigefinger nach. Wo fing er am besten an? Auf dieser Seite? Oder kehrte er auf dem schnellsten Wege zurück nach Ost-Ravka?
Die gefährlichsten Gegner – allen voran Zlatan – hatte er zusammen mit Novokribirsk ausgelöscht. Seiner entlaufenen Sonnenkriegerin in diesen unruhigen Zeiten hinterherzujagen – so sehr er sich auch danach sehnte, ihren Fährtenleser vor ihren Augen mit dem Schnitt in zwei Hälften zu teilen – kam nicht in Frage. Mit dem König schachmatt gesetzt, bestand die große Wahrscheinlichkeit, dass sein schwachsinniger Sohn und Thronfolger Vasili die Erste Armee gegen die Zweite aufhetzte. Die Grisha in ganz Ravka schwebten in Gefahr und brauchten in mehr denn je.
Die Grisha-Kinder!
Aleksander sackte zurück auf den Küchenstuhl. Die Otkazat'sya würden mit Sicherheit die Jüngsten töten, ihren Hass an den Kindern auslassen, wenn sie von seinem Versagen in der Flur vernahmen. Er würde niemals rechtzeitig im Kleinen Palast ankommen, um sie zu beschützen. Und diejenigen, die eine Evakuierung in Gang setzen konnten, waren über das Land verstreut.
Wie sollte er Katharina unter die Augen treten und ihr mitteilen, dass ihre Schützlinge ermordet worden waren? Weil die Sonnenkriegerin ihn, sie und alle anderen Grisha im Stich gelassen hatte. Wut floss durch seine Adern. Lodernder Hass für ihren Verrat. Wie hatte seine Ebenbürtige ihn nur so hintergehen können?
Die Nichevo'ya, die sich in der ersten Nacht in seinen Körper zurückgezogen und dort bisher verweilt waren, spürten seine Unruhe. Forderten, freigelassen zu werden. Sie warteten nur darauf, sich auf seine Feinde zu stürzen.
„Bald", knurrte er und erhob sich. Mit ausholenden Schritten ließ er das Bauernhaus hinter sich. Kurz überlegte er, es mit dem Schnitt dem Erdboden gleichzumachen. Nur die Schmerzen in seiner Brust und das Stechen in seiner Hand, wo einst das Stück Geweih vom Hirsch war, hielten ihn davon ab. Eine qualvolle Erinnerung, dass er sich seine Kräfte vorläufig einteilen musste. Bis er einen fähigen Heiler aufspürte. Oder Katharina fand.
Energisch lief er auf die Schattenflur zu, wappnete sich für die dunklen Schwaden, die er geschaffen hatte und wo seine Monster auf ihn warteten. Um ihn in der Luft zu zerfetzen. Er verzog die Lippen zu einem hämischen Grinsen. Es war den Volcra beim letzten Mal schon nicht gelungen, sich für den Fluch zu rächen. Jetzt würde es ihnen erst recht nicht gelingen.
Noch einmal atmete er tief durch, dann trat er ein in die Finsternis. In der Ferne hörte Flügelschläge. Grelles Kreischen der hungrigen Biester, die ihn entstellt hatten. Aleksander ballte seine zitternden Hände. Unruhig richtete er den Blick in die Höhe. Erwartete, dort jeden Moment einen Volcra zu erblicken, der gekommen war, um sich an ihm zu rächen. Für die Erschaffung seiner Spezies, der Flur, die Gefangenschaft hier drinnen.
„Sie können mir nichts anhaben", murmelte er. Furcht mischte sich mit dem Unbehagen, das er seit dem Betreten der Schattenwelt zu verbannen suchte. Ohne Erfolg. Er erinnerte sich, wie Baghra ihn wegen seiner Angst vor der Dunkelheit gescholten hatte, statt ihn liebevoll in den Arm zu nehmen und zu trösten. Um ihn zu einem starken, unabhängigen Mann zu erziehen, der sich nicht von Gefühlen leiten ließ. Er hatte ihre Lehren verinnerlicht, dementsprechend verhalten. Und doch hatte sie sich gegen ihn gestellt.
Madraya.
Wo war die Frau geblieben, die ein ganzes Dorf ausgelöscht hatte, nur um seine Tat zu vertuschen? Die danach hartnäckig mit ihm geübt hatte, bis er den Schnitt mühelos in jeder Situation beherrschte. Ihr Verrat schmerzte vielleicht noch mehr als Alinas.
Aleksander knurrte bedrohlich. Beide Frauen würden für ihre Hinterlist bezahlen und mit ihnen jeder, der sich ihm in den Weg stellte. Ob Otkazat'sya oder Grisha. Die ihm treu waren, würde er dagegen vor allen Gefahren mit seinem Leben und all seiner Macht beschützen.
Er richtete die Aufmerksamkeit wieder auf die Abscheulichkeiten, die er geschaffen hatte. „Ihr könnt mir nichts anhaben." Sein Schrei wurde vom Blut gerinnenden Kreischen der Volcra beantwortet. Die Monster ließen ihn wissen, dass sie nur auf ihn warteten, um ihn endlich in ihre Krallen zu bekommen.
Doch das würde ihnen nicht gelingen, heute nicht und auch an keinem anderen Tag.
Er stürmte vorwärts, kämpfte sich voran auf dem Boden, der bis vor kurzem noch mit Leben gefüllt war. Bevor er die Flur über Novokribirsk hereinbrechen ließ. Er bereute es nicht. Eine erste, unbeugsame Demonstration seiner Macht. Ein Vorgeschmack auf das, was diesen Bauerntrampeln und dem fetten Kind auf dem Thron noch bevorstand.
Immer stärker – zahlreicher - erklangen die Flügelschläge der gefräßigen Kreaturen, die schon so manchen Reisenden verschlungen hatten. Sie, die ihn seit Jahrhunderten davon abhielten, die Dunkelheit zu durchqueren. Die Monster, durch die erst auf die Sonnenkriegerin aufmerksam geworden war. Und die ihn den Biestern zum Fraß vorgeworfen hatte. Zum Sterben zurückgelassen. Als ob alles, was zwischen ihnen passiert war – die sanften Berührungen, die erst zaghaften, dann fordernden Küsse – rein gar nichts zählte. Wer hatte hier wen manipuliert?
Sein Schrei hallte durch die Finsternis. Um Alina würde sich einen anderen Tag kümmern.
Die Volcra umzingelten ihn, kurz davor, zu ihm hinabzustoßen. Alexander schluckte die aufsteigende Übelkeit hinunter und nahm Haltung an. Wie man es von einem General erwartete. „Kommt her, holt mich doch, ihr nichtsnutzigen Viecher. "
Wind von kräftigen Flügelschlägen strich über ihn hinweg. Ein Kreischen – viel zu dicht an seinem Ohr – ließ fast sein Trommelfell platzen. Eiskalter Schweiß rann seinen Nacken hinab. Seine Sinne richteten sich auf mögliche Fluchtwege. Weg von den scharfen Krallen, die ihn vor Tagen verunstaltet und zum Äußersten getrieben hatten. Er allein war ihnen nicht gewachsen. Und doch verharrte er auf der Stelle. Wartete geduldig ab, dass eines der Biester bei ihm landete, ihn packen wollte.
Ein Beben erfasste sein Innerstes. Die Nichevo'ya brachen aus ihm hervor, zerrissen jeden Volcra in der Luft, der sich ihm näherte. Schon bald bedeckten ihre Überreste den kargen Sand.
Aleksanders Lungen brannten, und doch stieß er ein grausames Lachen aus. Niemand konnte ihn mehr aufhalten. Die Tage der Lantsovs auf dem Thron waren gezählt.
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