Kapitel 24
Endlich erreichte er das Ende der Schattenflur. Wieder einmal hatte er allen Widrigkeiten getrotzt, sich stärker als der Tod gezeigt. So einfach wurden diese Verräter ihn nicht los.
Er taumelte vorwärts. Das Licht blendete ihn nach der langen Zeit in der Dunkelheit. Am Ende seiner Kräfte stürzte er in den fahlen Sand. Er hatte überlebt. Wieder einmal. Doch zu welchem Preis? Seine Lungen brannten wie Feuer. Er benötigte einen Heiler.
Oder jemanden, der sich mit Merzost auskannte.
Mühsam stemmte er sich hoch und schwankte einige Schritte vorwärts, die Hand auf seine linke Seite gepresst. Schmerzen rasten durch seinen Körper. Er blieb stehen, sah über seine rechte Schulter.
„Folgt."
Zwei Gestalten aus Schatten brachen aus der Flur hervor. Aleksander atmete durch, setzte seinen Weg unbeirrbar fort. Ein Unterschlupf. Nahrung. Etwas, um seine Wunden zu versorgen. Notfalls nutzte er die Schattenflur, um Otkazat'sya zu vertreiben. Sie hatten es nicht anders verdient. Niemand tat es.
Alina.
Naives, dummes Ding. Ihrem Fährtenleser maß sie mehr Bedeutung zu als den Grisha, die wie sie von den Bauerntrampeln, Soldaten und Adeligen gleichermaßen verfolgt wurden.
Zoya.
Die Stürmerin hatte sich gegen ihn gestellt, seine Befehle mutwillig missachtet. Aus welchem Grund? Plötzliches Mitleid mit denen, die ihr nichts als Leid zugefügt hatten? Das ergab keinen Sinn.
Der Krüppel und seine Krähen. Sie würden dafür büßen, dass sie ihm in die Quere gekommen waren. Selbst wenn er ganz Kerch in Schutt und Asche legen musste. Die Schattenflur konnte er bedauerlicherweise nicht für diesen Zweck nutzen. Diese über die wahre See zu verschieben, gehörte in den Bereich des Unmöglichen.
Er warf einen Blick über seine Schulter. Die zwei Nichevo'ya folgten ihm auf Schritt und Tritt. Wachsam. Schützend. Sie würden jeden Feind für ihn zermalmen, den sie in die Klauen bekamen. Und er würde dafür sorgen, dass sie ausgiebig Gelegenheit dazu erhielten. Um seinen Krieg zu führen und diejenigen zu schützen, die es wert waren.
Aleksander beschleunigte seine Schritte. Schmerzhaft die tiefen Wunden, doch die Stiche in sein Herz quälten ihn mehr.
Ivan zu verlieren hatte er nicht erwartet. Doch das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Die Grisha, die wegen dem Verrat und der Insubordination der Sonnenkriegerin nun um ihre Leben fürchten mussten, verdienten seine volle Aufmerksamkeit.
Fedyor.
Hatte der Entherzer es geschafft, Nina Zenik aufzuspüren und in Sicherheit zu bringen? Oder hatten die Drüskelle mittlerweile beide in ihre Gewalt gebracht? Dann würde es schwierig werden, sie zu retten.
Er schüttelte den Kopf. Wenn sie in Fjerda auf ihren Prozess warteten, musste er sie opfern. Die Ressourcen reichten für eine Befreiung nicht aus.
Genya.
Die Bildnerin leistete ihm seit langem treue Dienste als Spionin im Großen Palast. Doch er hatte sie nicht vor dem widerwärtigen Zaren beschützen können. Daher gehörte die Rache an dem Fettwanst ihr. Das brachte sie gleichzeitig in Lebensgefahr. Kam heraus, dass sie ihn über einen andauernden Zeitraum vergiftet hatte, bedeutete es ihren Tod. Wie sehr sie die Jahre im Dienste seiner Ehefrau gelitten hatte, würde keine Bedeutung zugemessen werden. Blieb zu hoffen, dass sie rechtzeitig aus dem Lager der Ersten Armee flüchtete.
David.
Der Durast fühlte sich einzig in den vier Wänden seiner Werkstatt sicher. Wenn die anderen Grisha ihm nicht zur Flucht verhalfen – ein Sturm auf den Kleinen Palast stand wegen des Versagens in der Flur bevor – würde er sich trotz des Selbstverteidigungstrainings nicht verteidigen können. Zu sensibel war er für Kampfhandlungen.
Katharina.
Wie Genya war sie im Armeelager in Kribirsk zurückgeblieben. Die sanfte Heilerin, die ihre Kräfte gleichfalls als tödliche Waffe einzusetzen vermochte. Trotz ihrer Abscheu in Bezug aufs Töten war sie eine ernstzunehmende Gegnerin. Klug und gewitzt würde sie ihren Verfolgern entgehen und in einfacher Bauernkleidung untertauchen. Während andere Grisha den Schutz der Kefta nicht ablegen würden, wäre das Kleidungsstück das erste, von dem sie Abschied nahm. Damit man ihr nicht ansah, über welche Kräfte sie verfügte.
Aleksander ballte die Fäuste. Ina musste einfach schlauer als die Otkazat'sya sein. Nicht auszudenken, wenn ihr etwas zustieß, bevor er sie zu sich holen konnte. Wenn er schon seine Ebenbürtige nicht haben konnte, dann zumindest Katharina. Für eine viel zu kurze Zeit, die ihnen blieb.
Er hasste die Ungerechtigkeit, die sein langes Leben mit sich brachte. Immer wieder dazu verdammt, die Menschen sterben zu sehen, die ihm am Herzen lagen. Wie oft hatte seine Mutter ihn nicht gescholten, ein dummer Junge zu sein? Wegen seiner Visionen, die Grisha zu einen und ihnen ein sicheres Zuhause zu geben. Unzählige Male hatte sie ihn bekniet, mit ihr Ravka zu verlassen. Die Sterblichen ihrem Schicksal zu überlassen. Oft genug war sie alleine losgezogen, hatte ihn und sein Anliegen im Stich gelassen. Und immer wieder war sie zu ihm zurückgekehrt. Weil sie über die Jahrhunderte nur einander hatten.
Er blieb abrupt stehen. Das Blut kochte in seinen Adern. Seine Mutter hatte Alina nicht aus Mitleid vor ihm gewarnt, ihr seine Geschichte erzählt. Sondern wieder einmal aus purem Eigennutz.
Dieses bösartige, alte Weib. Ein Knurren ließ seine Kehle vibrieren. Baghra fürchtete, ihn zu verlieren, wenn er eine ebenbürtige Grisha zur Frau nahm. Nie hatte es ihr gefallen, wenn er jemanden Aufmerksamkeit schenkte. Seine Zeit für eine Person vergeudete, die in ihren Augen nicht mehr als Staub war. So viel hatte seine Mutter ihn über die Jahrhunderte gekostet. Freundschaften. Das Gefühl, dazuzugehören. Immer hatte er sich im Schatten gehalten. Weil er anders war. Gefürchtet als Schattenbeschwörer. Einst als Kräftemehrer gejagt. Von Beschwörern, die aus Angst um ihr Leben seine Knochen wollten, um ihre Kräfte zu steigern.
Seine Mutter hatte immer gefordert, dass er sich von allen fernhielt. Zu seinem Schutz. Er schnaubte genervt. Vielleicht war es auch in ihrem Interesse. Weil er dadurch von ihr abhängig war. Der kleine Junge, der auf ein Lob von ihr wartete. Ja, sie hatte ihm einmal ihre Anerkennung ausgesprochen. Als er zwei gleichaltrige Kinder tötete, um sich zu retten. Doch sonst war er in ihren Augen töricht. Seine Liebe zu Luda? Dumm, oh so dumm.
Sein Schrei zerriss die Stille. Die Nichevo'ya surrten um ihn herum, suchten die Ursache für seinen Gefühlsausbruch. Instinktiv schienen die Nichtwesen ihn vor Gefahren abzuschirmen.
Interessant.
Aleksander holte tief Luft und ignorierte den stechenden Schmerz in seiner Seite. Er konzentrierte sich auf seine Atmung, dann auf seine eigenen Schatten, bis sie völlig still bei ihm verweilten. Erst danach suchte er Kontakt zu den Schattenwesen, die in der Flur aus Merzost entstanden waren, um ihn vor den Volcra zu retten. Beides seine Schöpfungen. Nur dass die einen Wesen ihm nach dem Leben trachteten und die anderen ihn beschützten. Doch eines hatten sie gemein, sie ließen sich nicht von ihm steuern, wie er feststellte. Die Nichevo'ya zogen sich nicht zurück. Ein weiteres Problem, dass er lösen musste. Nachdem er einen Unterschlupf gefunden hatte.
Unermüdlich stapfte er vorwärts. Weder Grisha noch Otkazat'sya begegneten ihm. Alle schienen das Gebiet, das an die Schattenflur grenzte, fluchtartig verlassen zu haben. Ob sich die Nachricht von seinem Versagen bereits herumsprach? Hatte Alina ihn und seinen richtigen Namen schon verraten? Wussten alle, dass er der Enkel des Knochenschmieds war? Dass er die Flur erschaffen hatte?
Er seufzte. Was kümmerte es ihn noch? Wieder musste er alles von Neuem aufbauen, den Grisha ein sicheres Zuhause geben.
Er richtete den Blick auf den Horizont. In der Ferne entdeckte er die Silhouette eines Gebäudes. Ein Bauernhaus, wenn er sich nicht täuschte. Besser als nichts. Er steuerte darauf zu. Wohnten Otkazat'sya dort, würde er sie töten, wenn sie sich weigerten, ihm zu helfen.
Nein, er schüttelte grimmig den Kopf. Die Menschen mussten auch so sterben. Niemand durfte wissen, wo er sich aufhielt. Noch nicht.
Als die Dämmerung hereinbrach, erreichte er das Bauernhaus. Er betrachtete es einen Augenblick stumm. Die Tür stand sperrangelweit offen. Nichts rührte sich. Keine Gardine, die an einem der Fenster zur Seite gezogen wurde. Die Menschen waren geflohen. Vor ihm oder vor der Kunde von der Schattenflur, die sich bewegt hatte. Umso besser. Hier konnte er seine Wunden versorgen und sich stärken, bevor er wieder die schwere Last auf seine Schultern nahm, die er seit Jahrhunderten trug. Die Rettung seiner Grisha.
Mit energischen Schritten lief er nach drinnen. Seine Nichevo'ya würden ihm helfen, falls sich hier doch jemand versteckt hielt. Systematisch suchte er das Haus ab, die Nichtwesen stetig auf seinen Fersen. Wie erwartet fand er das Gebäude leer vor. Nach den umgeworfenen Stühlen und den verstreut liegenden Sachen zu urteilen, waren sie Hals über Kopf aufgebrochen. Selbst der Tisch in der Küche war gedeckt, Brot und Käse lagen bereit. Er bediente sich, stärkte sich an der Nahrung, die man ihm gelassen hatte.
Was für ein starker Verbündeter doch die Angst war. Das konnte er nutzen. Indem er die Flur verschob, mit ihrer Hilfe ganze Dörfer verschluckte, würde er die Menschen auf dem Land immer mehr in Panik versetzen. Ihre Schreckensnachrichten würden sich wie ein Flächenbrand nach Os Alta verbreiten. Ankündigen, dass er auf dem Weg war. Die Tage der Zarenfamilie waren gezählt. Der Thron gehörte ihm.
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