Kapitel 23


„Alle Länder werden sich uns beugen. Denn wer wagt es noch, sich uns zu widersetzen?" Er weidete sich an den entsetzten Blicken der Reisenden. Endlich begriffen sie, dass die Grisha die wahren Mächtigen waren und ihren rechtmäßigen Platz an der Spitze einnehmen würden.

Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da stürmte ein junger Mann aus dem hinteren Teil des Skiffs und schoss mit einer Pistole auf die Oprichniki.

„Mal!" Alinas verzweifelter Ruf hallte über das Deck.

Kirigan nickte seinem treuen Entherzer zu. Ivan hob ohne die Miene zu verziehen die Arme und stoppte den entflohenen Fährtenleser, dem die Waffe entglitt. Mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht sackte er in sich zusammen. Die Sonnenkriegerin kroch über die Planken zu ihm. Wie rührend.

„Lass ihn leben. Er könnte uns noch nützlich sein." Um Alina zur Kooperation zu zwingen. Er beobachtete, wie sie sich vorwärts zog. Genau auf die Pistole zu. In einer fließenden Bewegung hob er die Schusswaffe auf und warf sie in die Finsternis der Flur. Niemand würde freiwillig über Bord springen, um sie zu holen. Nicht einmal die Sonnenkriegerin war so töricht. Zu schade, dass sie ihm nicht so ergeben war wie diesem nutzlosen Otkazat'sya. Seinetwegen vernachlässigte sie ihre Aufgabe, das Skiff vor den Volcra zu schützen. Immer nur an sich selbst denkend. Unfähig, das große Ganze zu betrachten. Wie ein kleines Kind musste er sie an ihre Pflichten erinnern, sie darauf hinweisen, dass ihr geliebter Freund aus dem Waisenhaus an Bord sterben würde, wenn sie die Kuppel aus Licht nicht aufrecht erhielt.

Sie nahm wieder ihre Position ein, drängte die Finsternis und damit die Volcra zurück. Nur einen Augenblick später stürzte sie schluchzend auf die Planken. Sie sollte ihm ebenbürtig sein? Ein übler Scherz der Heiligen. Katharina, eine einfache Heilerin, war ihr bei Weitem überlegen.

Ivan hielt den Fährtenleser weiterhin am Boden, indem er seinen Herzschlag verlangsamte. Blut sickerte aus dem Mundwinkel des Mannes, der seinerseits versuchte, die Sonnenkriegerin zu berühren.

„General Kirigan." Eine Frau mittleren Alters trat vor. „Ihr werdet die ganze Welt gegen Euch und alle Grisha aufbringen." Er wandte sich zu ihr um, hörte geduldig ihren Worten zu. „Sie wird Euch nicht als Erlöser betrachten, sondern als Ketzer."

Ivan warf ihm einen fragenden Blick zu. Er gab ihm mit simplen Augenkontakt die Zustimmung.

Andere Reisende stürmten vor, zogen ihre Waffen. Doch der Entherzer stoppte sie mit seiner Gabe. Er ließ ihre Herzen aufhören zu schlagen. Ächzend sanken die Otkazat'sya auf das Holz, hauchten dort ihre letzten Atemzüge aus.

„Schade." Er betrachtete die Toten ohne eine Emotion. Zu oft hatten Menschen Grisha kaltblütig umgebracht und auch ihm nach dem Leben getrachtet. So sinnlos. „Nun muss ich die Ansprache wiederholen."

Das große Segel des Skiffs blähte sich, das Schiff schoss voran, dem Ende der Flut entgegen. Was hatte das zu bedeuten? Kirigan lief auf den Großmast zu. „Zoya." Sie ignorierte ihn, brachte sein Blut zum Kochen. Was bildete sie sich ein, sich seinem ausdrücklichen Befehl zu widersetzen? „Zoya!"

Ein Pistolenschuss. Ivan stürzte aufs Deck.

Kirigan wehrte eine weitere Kugel mit dem Schnitt ab, doch der Schütze wurde von einem zweiten Mann rechtzeitig zur Seite weggerissen. Ein stechender Schmerz durchfuhr seine Brust. Kirigan sah an sich herab. Ein Messergriff ragte hervor. Geworfen von der Frau, die oben bei Zoya stand.

Kaz Brekker und seine Krähen. Er hätte sie alle töten sollen, bevor er Alina nachjagte. Eine kleine Unachtsamkeit.

Kirigan konzentrierte sich auf die Macht, die in ihm seit der Erschaffung der Schattenflur schlummerte. Merzost färbte seine Blutgefäße schwarz. Er zog die Klinge aus seiner Brust. „Es braucht schon mehr als das!", spie er seinen Feinden entgegen. Klirrend fiel die Waffe aufs Deck. Er benötigte sie nicht. Seine Schatten würden die Arbeit für ihn verrichten, indem sie den Volcra Schutz vor dem Licht boten.

„Ihr bleibt im Dunkeln." Die Monster bemerkten, dass der hintere Teil des Skiffs ihnen nicht länger vorenthalten war. Sie griffen kreischend an. Kirigan hörte Metall durch die Luft sirren. Die kleine Messerwerferin schien sich zu wehren. Sollte sie nur. Es würde ihr nichts nützen.

Gemächlich lief er zu seiner auf den Planken liegenden Sonnenkriegerin. Vielleicht überzeugte er sie jetzt, dass sie an seine Seite gehörte. „Nun sind es nur wir beide, Alina. Und wir brauchen niemand anderen." Er streckte den Arm aus. Wartete, dass sie die dargebotene Hand nahm und sich von ihm aufhelfen ließ. Endlich berührten ihre Finger sacht seine Haut. Er kostete den Moment aus. Nach so vielen Zweifeln schloss sie sich ihm an.

„Ihr habt vielleicht mich gebraucht", fing sie sanft an. „Aber ich brauchte Euch nie." Sie sprang auf, stieß ihm die Klinge, die er achtlos zur Seite geworfen hatte, in die Handfläche. Ein unerträglicher Schmerz schoss von dort durch seinen Arm bis zur Schulter. Durch die Kraft ihres Stoßes wirbelte er herum, sah aus dem Augenwinkel, wie das Stück des Kräftemehrers hoch in die Luft flog. Ein erneuter Verrat der Sonnenkriegerin.

„Eure ersten Worte zu mir waren: Was bist du?" Sie richtete sich auf. „Das hier ist das, was ich bin." Sie tauchte das Skiff in gleißendes Licht, verscheuchte die Finsternis, die er aufgerufen hatte.

Kirigan zog die Klinge aus seiner Handfläche. „Woher hast du nur diese Macht?" Er atmete gegen die Schmerzen in seiner Brust und in seiner Hand an. Wieso bekam er keinen Zugriff mehr auf ihre Gabe? „Ich habe den Hirsch getötet."

„Ich hatte es bis eben nicht verstanden. Jetzt schon. Ihr könnt nicht haben, was Euch nicht gegeben wurde. Der Hirsch hat mich gewählt." Der Kräftemehrer verschmolz mit ihrem Körper. Nicht länger standen die Geweihstücke empor. Die offenstehende Haut schloss sich.

„Du hast dich entschieden." Gegen ihn, gegen die Grisha. Die Wut gab ihm die Kraft, aufzustehen. Er würde es jetzt ein für alle Mal beenden, die Sonnenkriegerin töten und danach Katharina suchen, damit die sanfte Heilerin nicht einem wütenden Mob in die Hände fiel.

Der Fährtenleser stürzte sich auf ihn, fiel mit ihm vom Skiff in den Sand. Sie rappelten sich gleichzeitig auf. Schlag um Schlag parierte Kirigan, traf den weitaus jüngeren Mann mit gezielten Hieben. Glaubte er wirklich, dass er es mit ihm aufnehmen konnte? Mit jemandem, der Jahrhunderte und unzählige Kriege überlebt hatte?

Der Fährtenleser versuchte, ihm ein Messer in den Hals zu jagen. Kirigan schüttelte ihn ab, schickte ihn erneut in den Staub. Die Volcra kreischten, flogen um das nun in Dunkelheit liegende Skiff herum. Er sah sich nach ihnen um. Sollte er doch durch eine seiner Kreaturen den Tod finden? Niemals!

Er formte den Schnitt, um sich endgültig des Otkazat'syas zu entledigen, aber die Schatten gehorchten ihm nicht. Die Wunde in seiner Hand machte es ihm unmöglich, die Kontrolle zu bewahren. Der Schmerz zwang ihn einen Moment in die Knie. Er musterte den Mann, der still dalag. Hatte er ihn doch schon getötet? Er drehte ihn um.

Eine Pistolenkugel ließ ihn rückwärts taumeln. Weitere Geschosse trafen seine Kefta. So würde es nicht mit ihm zu Ende gehen. „Ich habe Jahrhunderte überlebt. Hast du wirklich gedacht, du könntest mich töten?"

„Ich muss Euch nicht töten, Dunkler. Das tut Eure Vergangenheit für mich." Er wies in die Finsternis.

Ein Volcra stürzte sich auf Kirigan. Messerscharfe Krallen durchschnitten seine Kefta, bohrten sich in seinen Körper. Der Volcra zog ihm die Fänge quer über das Gesicht. Schmerzen nahmen ihm die Sicht. Hilflos war er den Geschöpfen der Flur ausgeliefert. Der Tod lauerte auf ihn.

Nicht so.

Merzost raste durch seine Adern, loderte wie eine unlöschbare Flamme in seinem Innern. Worte in der alten Sprache Ravkas kamen über seine Lippen. Schatten wirbelten auf, stießen den Volcra weg und zerfetzten ihn.

Kirigan blieb schwer atmend am Boden liegen. Sah zu, wie seine neuen Schöpfungen ihm weitere Angreifer vom Hals hielten.

Nichevo'ya.

Unzerstörbar und einzig dazu bestimmt, ihn zu beschützen. Er rappelte sich auf, kämpfte sich unter Schmerzen zurück auf die Beine. Jeder Atemzug brannte in seinen Lungen. Jeder Schritt schickte Höllenqualen durch seinen Körper, doch er stapfte unbeirrbar durch den Sand. Gefolgt von seinen neuen Wächtern.

Der Krieg war noch nicht vorbei.

Die Otkazat'sya, die Erste Armee und allen voran die Lantsovs würden ihm den Verlust seiner Grisha büßen. Zu viele Getreue hatte er über die Jahrhunderte verloren. Jetzt auch noch Ivan, der sich nie einem Befehl widersetzt hatte. Wieder jemand, der sinnlos gestorben war. Ausgerechnet wegen einer naiven jungen Frau, die glaubte, dass Grisha und Otkazat'sya friedlich miteinander auskommen könnten.

Kirigan kämpfte sich weiter durch die Flur. Nein, Aleksander. Der Enkel des Knochenschmieds. Die Maskerade war nicht mehr notwendig. Man wusste, wer er war. Die ganze Welt sollte es erfahren. Das Versteckspiel war vorbei.

Aleksander Morozova würde seine Untergebenen retten und mit ihnen endgültig den Zaren stürzen.

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