Kapitel 22
Sie sah hinreißend aus. Genya hatte vorzügliche Arbeit geleistet. Kirigan ließ den Blick einen Augenblick länger auf der Sonnenkriegerin weilen. Das goldene Kleid mit den schwarzen Stickereien betonte ihre Figur. Die dunklen, seidigen Haare hatte die Bildnerin kunstvoll hochgesteckt, so dass der exquisite Haarschmuck noch mehr zur Geltung kam. Die Otkazat'sya würden ihr zu Füßen liegen.
Zu schade, dass die Menschen Ravkas ihm nicht ebenso ergeben waren. Doch wozu Liebe, wenn Furcht ein viel beeindruckenderes Machtmittel war? Dunkelheit, Schatten als Waffe. Als Zeichen der Macht. Kein pompöses Gold und freizügige Kleider aus Seide, die den Staat an den Rand des Bankrotts getrieben hatte. Bald. Schon bald. Er erlaubte sich ein kleines Lächeln. „Der Umhang."
Genya nickte gehorsam und legte der Sonnenkriegerin den schwarzen Stoff um, verhüllte den auffälligen Kräftemehrer. Erst die Zuschauer auf dem Skiff sollten ihn sehen. Bevor er ihnen erst Alinas und dann seine Gabe demonstrierte. Nicht mehr lange und die Welt erfuhr, dass Grisha keine Menschen zweiter Klasse, gefühllose Werkzeuge oder brave Haustiere waren.
Die Sonnenkriegerin starrte stumm geradeaus. Sie vermied es, ihn anzusehen. An ihrem Mienenspiel erkannte er, wie sehr sie um Beherrschung kämpfte. So jung und unerfahren darin, ihre Gefühle zu verstecken. Ein Leichtes, sie zu manipulieren.
Kirigan wusste genau, was er gegen sie einsetzen würde, damit sie ihm gehorchte. „Komm jetzt", forderte er sie auf. „Bitte", schob er hinterher, um den Anschein zu wahren. Er ließ ihr den Vortritt beim Verlassen des Zeltes und genoss, wie die Gespräche um sie herum verstummten. Alle richteten sie die Blicke auf Alina. Auf die Hoffnung des Volkes, die die Schattenflur vernichten sollte. Seine Schatten, vor Jahrhunderten bei dem Versuch, Grisha zu beschützen, erschaffen. Er würde nicht zulassen, dass man ihnen diesen Schutz nahm.
Sie liefen Richtung Dock, wo die Besatzung des Skiffs auf sie wartete. Ivan folgte ihnen. „Der Fährtensucher bleibt hier unter Bewachung", teilte er Alina beiläufig mit, die sich im Gehen ihm zuwandte. „Tu, was von dir erwartet wird, und er wird freigelassen." Eine ausgezeichnete Vertuschung der Umstände, dass er bereits geflohen war.
An Bord band Ivan sie mit einem reißfesten Seil an einem Metallring auf dem Deck fest. Alle sollten wissen, dass die Sonnenkriegerin wie jeder andere auch seiner Gnade unterworfen war.
„So erzeugt Ihr keinen guten Eindruck", spie die junge Frau aus, als er sich ihr von hinten näherte. „Jedermann sieht, dass Ihr mich gefangen haltet."
Oh, das sollten sie auch. Er griff um ihren schlanken Körper herum und packte den Umhang, der ihr neues Selbst vor allen verhüllte. Doch nicht mehr lange. Sie gehörte ihm, war ein Werkzeug in seinen Händen. „Ich bezweifel, dass man dir auf die Füße schaut", wisperte er ihr ins Ohr und riss den schützenden Stoff weg.
Die abrupte Bewegung hatte den gewünschten Erfolg. Die Aufmerksamkeit der Mitreisenden verlagerte sich auf Alina. Die Otkazat'sya stellten die Gespräche ein. Nicht zu früh, denn gleichzeitig setzten die Stürmer das Skiff in Gang. Wind blähte das Segel.
Kirigan hob den Kopf. Sie näherten sich den düsteren Schwaden, die ein Teil von ihm waren und die seine Kreaturen beherbergten. Die Wesen, die sich von ihm angezogen fühlten und es ihm bisher unmöglich gemacht hatten, die Flur zu durchqueren. Es kam ihm vor, als ob sie sich für das Leid ihrer Vorfahren an ihm rächen wollten. Funktionierte sein Plan nicht, würden die Volcra sich auf ihn stürzen, um ihn zu zerfetzen. Er schauderte innerlich bei dem Gedanken, durch die scharfen Krallen der Bestien zu sterben, die er einst erschaffen hatte, damit sie ihm als Soldaten dienten. Doch Merzost war unberechenbar. Wie die Schattenflur und ihre Bewohner.
Er richtete wieder den Blick auf die wabernden Schatten. Wartete darauf, von ihnen verschluckt zu werden. Das Brüllen dieser Monstrosität ließ sein Herz schneller schlagen. Stoisch starrte er geradeaus. Hoffend, dass seine Untergebenen nichts von seiner Furcht bemerkten.
Törichtes Wunschdenken.
Sein treuer Entherzer wusste längst, wie unbehaglich es ihm zumute war. Ivan konnte er nicht täuschen. Wohl aber den Rest der Reisenden. Kirigan straffte den Rücken. Zeigte sich bewusst von seiner unerschütterlichen Seite. Wie man ihn kannte. Was man von ihm erwartete.
Ina.
Einen Augenblick erlaubte er sich, an die junge Heilerin mit der sanften Stimme zu denken. Ihre Anwesenheit allein würde ausreichen, seinen rasenden Puls zu beruhigen. Doch es war die richtige Entscheidung, sie in Kribirsk zu lassen, sie keiner Gefahr auszusetzen. Und es gab einen weiteren Grund. Etwas in ihm widerstrebte es, ihr zu zeigen, wie gewissenlos er vorzugehen gedachte. Die Demonstration seiner Macht würde ihr missfallen.
Er unterdrückte ein Seufzen. Was kümmerte es ihn, was Katharina von ihm dachte? Weshalb fühlte er sich zu ihr genauso hingezogen wie zu Alina, die ihm ebenbürtiger war?
Das Grollen der Flur nahm zu, lenkte ihn von seinen Gedanken ab. „Kannst du sie fühlen?" Kirigan kämpfte gegen seine innere Unruhe an.
„Ich spüre noch keine Herzschläge", erwiderte Ivan. Der Entherzer vernachlässigte nicht einen Augenblick seine Aufgabe. Konzentriert forschte er nach den Schreckgespenstern, die diese Finsternis bewohnten.
Flügelschläge. Kreischen.
„Sie kommen. Ich sollte alles jetzt zerstören." Die Sonnenkriegerin klang nervös. Zu Recht. Das naive Ding war der Situation nicht gewachsen, verstand den großen Plan nicht.
„Was kannst du allein schon erreichen?" Nichts. Sie war auf ihn angewiesen. Auf seine Macht. Alinas Miene spiegelte Erkenntnis wider. Die junge Frau begriff, dass es ihm nicht darum ging, die Schattenflur zu zerstören. Dass er es nie vorgehabt hatte. „Abgesehen davon," er ließ eine Pause fallen, „wäre es eine gewaltige Kraftverschwendung." Misstrauisch, abwartend richtete er den Blick wieder zum Himmel. Es kam einem Wunder gleich, dass die Biester sich noch nicht auf das Skiff stürzten. Immer mehr Volcra umkreisten sie, kamen näher und näher.
Alina wandte sich ihm zu. „Tut doch etwas." Verzweiflung, Angst einer Person, die schon einmal ein Massaker ansehen musste. Sie machte sich bereit, um ihr Licht zu rufen.
Kirigan kam ihr zuvor, packte sie hart an der Schulter. „Oh nein. Vergiss nicht, wer das Sagen hat." Er nahm die Kontrolle über ihre Gabe, erschuf einen Tunnel aus Licht. Ungestörter von den Volcra setzten sie die Fahrt fort. Zum ersten Mal seit der Erschaffung der Flur fühlte er sich dem Schattenwerk gewachsen. „Deine Macht gehört jetzt mir." Er machte sich nicht mehr die Mühe, ihr vorzugaukeln, dass er etwas für sie empfand. Sie hätte an seiner Seite regieren, den Grisha eine sichere Heimat schenken können. Doch sie hatte sich dazu entschieden, ihn zu verraten. Sie verdiente ihn nicht.
„Warum macht Ihr halbe Sachen?" Hatte sie es noch immer nicht verstanden? „Warum schneidet Ihr nur einen Tunnel?" Alina trat vor, um ihn zu konfrontieren. Um ihn dazu zu bringen, die Schattenflur zu vernichten. Lächerlich.
„Und wieso sollten wir die Flur zerstören?" So wie es aussah, musste er das naive junge Ding mit der Nase auf die Fakten stoßen. Sie hatte er als seine Ebenbürtige an seiner Seite gewünscht? Jahrhunderte von Ignoranz und dem ewigen Kampf gegeneinander? Lieber wählte er nach Katharinas Tod wieder die Einsamkeit, die ihm ein wohlbekannter Vertrauter war, als sich mit der Sonnenkriegerin einzulassen. Sie würde es nie verstehen, wofür er kämpfte. „Sie ist die mächtigste Waffe, die wir besitzen."
Dem hatte die junge Frau nichts entgegenzusetzen. Stumm starrte sie auf die Stadt, die man am Ende des Tunnels erst erahnen und schließlich sehen konnte. Wie gewünscht stoppte Zoya das Skiff.
„Wieso halten wir an?", fragte eine der adeligen Reisenden. Jetzt war der Moment für die Vorführung seiner Macht gekommen.
„Eine weitere Demonstration. Was die Sonnenkriegerin kann, habt ihr gesehen. Nun werdet ihr Zeuge dessen, was ich kann. Mit ihrer Macht", fügte er leise hinzu. Er hob die Arme, ließ die Schatten auf Novokribirsk zurasen. Die Schreie der dort Wartenden klangen wie Musik in seinen Ohren, als sie die Gefahr erkannten. Zlatan und die anderen Abtrünnigen würden heute sterben. Büßen für den Anschlag auf die Sonnenkriegerin. Für all die Grisha, die sie an Drüskelle verraten oder an Kerch in die Sklaverei verkauft hatten.
Die Schattenflur breitete sich aus, verschlang die Docks und ersten Gebäude. Mit ihr stürzten sich die Volcra auf die Bewohner der Stadt. Panik, Angst auf der Seite von West-Ravka. Genugtuung für ihn.
Alina erweiterte den Tunnel aus Licht. Ein törichter Versuch, Leben zu retten, denen ihres immer egal gewesen war. Die nie etwas anderes als Hass für Grisha empfanden.
„Nein, das tust du nicht." Er drückte ihren Arm runter, ließ die Finsternis wiederkehren. Kirigan zwang Alina in die Knie, weidete sich an ihren panisch geweiteten Augen. Sie hatte noch viel zu lernen. „Das sind Verräter", zischte er. „Und sie wollten dich töten. Und nun büßen sie es." Wann begriff sie endlich, wohin sie gehörte? Er ließ sie los. Sah zu, wie sie kraftlos auf das Deck fiel. Nicht mehr als ein Werkzeug und auf keinen Fall seine erhoffte Ebenbürtige. Nur ein naives Kind, das an Ideologien festhielt, die es in der Kindheit gelernt hatte.
Kirigan wandte sich wieder den Reisenden zu. „Heute werden wir die Landkarten neu gestalten. Mit der Macht der Sonnenkriegerin in meinen Händen, kontrolliere ich die Schattenflur." Und niemand konnte ihn mehr aufhalten. Endlich, nach all der langen Zeit, würde er eine sichere Heimat für seine Grisha aufbauen. Ein Zuhause, das weder Abtrünnige aus West-Ravka, Soldaten aus Shu-Han oder Drüskelle aus Fjerda bedrohen würden. Die Angst war ein mächtiger Verbündeter, den er gezielt einzusetzen wusste. Das ließ er auch die Auffahrenden wissen und trug ihnen auf, die Information in ihren Heimatländern zu verbreiten. Die Unterdrückung der Grisha hatte mit dem heutigen Tag sein Ende gefunden.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top