Kapitel 2


Kirigan ritt mit einem kleinen Trupp gen Norden. Ein Bote hatte ihm die Nachricht überbracht, dass Drüskelle im Grenzgebiet zu Fjerda ihr Unwesen trieben. In den Ausläufern des Petrazoj jagten sie Grisha-Familien, die dort ihre begabten Kinder vor den Prüfern versteckten. Um zu verhindern, dass man sie hinter die schützenden Mauern des Kleinen Palastes brachte. Er schnaubte in sich hinein. Bei ihm wäre der Nachwuchs in Sicherheit vor Verfolgung. Vor dem Aberglauben und den Hass der Otkazat'sya.

Ivan schloss zu ihm auf. Den Blick grimmig auf die Straße gerichtet, ritt der Entherzer schweigsam wie immer neben ihm her. Er diente ihm treu und ohne Befehle in Frage zu stellen. Ein loyales Mitglied seiner Grisha, die er alle vor Verfolgung und Tod gerettet hatte. Nur dank ihm hatten sie in dem kleinen Palast ein sicheres Zuhause gefunden.

Eine Scheinsicherheit, erwartete der Zar dafür, dass sie seine Kriege führten. Inferni, Fluter, Stürmer und Entherzer starben auf den Schlachtfeldern, während dieser unfähige Monarch in seinem Palast saß und immer fetter wurde. Der Thron stand ihm nicht zu. Kirigan schnaubte. Wie lange musste er noch diese Scharade spielen, bis er endlich eine Sonnenkriegerin fand? Sein Volk litt, sein Land verdorrte, und statt ein für alle Mal mit den Feinden Ravkas kurzen Prozess zu machen, dackelte er wie der Schoßhund der Zarin von Ost nach West und von Süd nach Nord. Ein Hündchen, das man von der Leine ließ, wenn man es benötigte.

„Moi Soverenyi?" Fedyor schloss zu ihnen auf. Nicht so geschickt und mächtig wie Ivan, war er doch ein ausgezeichneter Entherzer, der ihm wie sein Gefährte treu ergeben war. Beides fähige Männer, denen er sein Leben anvertrauen würde. Aber nicht die Wahrheit über seine Herkunft. Diese würde er eines Tages mit in den Tod nehmen, wie seine Mutter es ihn von klein an gelehrt hatte.

Vertraue niemandem, verrate nie jemandem deinen wahren Namen.

Er hatte früh gelernt, dass sie recht hatte. Eine Unachtsamkeit, übermäßiges Vertrauen, hatte ihn als Kind fast sein Leben gekostet. Damals, an der Grenze zu Fjerda, wo die Grisha aus nackter Angst zu grausamen Taten gezwungen fühlten. Er schüttelte kaum merklich den Kopf. Er trug es Annika noch immer nicht nach, was sie damals versucht hatte. Er verstand ihren Beweggrund – heute mehr als zu dem Zeitpunkt.

„Fedyor? Was gibt es?"

„Wir sollten eine kurze Rast einlegen. Die Pferde sind erschöpft", erwiderte der Entherzer in einem ruhigen Tonfall. „Wir sollten unsere Tiere tränken und ein wenig ausruhen lassen, bevor wir weiterziehen. Wir nähern uns jetzt dem Gebiet, aus dem wir die Berichte von Übergriffen erhalten haben."

Wie wahr. Es war immer besser, im Vollbesitz seiner Kräfte in eine Schlacht zu ziehen, selbst wenn es nur ein belangloses Scharmützel war. Mehr erwartete er nicht von einem kleinen Trupp Drüskelle, die sich ohne Verstärkung auf feindlichem Boden fortbewegten. Er gab das Zeichen zum Halten. Seine Grisha schienen froh über die Verschnaufpause, sprangen sie allesamt schnell aus dem Sattel und streckten sie ihre vom langen Ritt steifen Glieder. Eine Stürmerin ließ eine leichte Brise über die Gruppe hinweggleiten, während ein Fluter mit dem Wasser des nahen Baches spielte. Wassertropfen, die aufstiegen, und in einem Sprühregen über seine Gefährten niederging.

Kirigan schmunzelte, ließ ihnen den Spaß. Das Aufrufen der kleinen Künste verfolgte einen weiteren Zweck. Es half ihnen, sich zu entspannen und wieder zu Kräften zu kommen. Er selbst benötigte es nicht, bedeutete der Ritt keine Anstrengung für ihn. In seinem langen Leben hatte er weitaus Schlimmeres überstanden. Er streckte seine Beine durch und wandte sich dem Wald zu, der in einiger Entfernung vor dem Himmel aufragte. Lauerten dort Fjerdan auf sie? Diese selbsternannten Hexenjäger, die aus reiner Angst und tiefstem Hass auf Grisha handelten?

Sie jagen uns, weil sie uns nicht verstehen.

Furcht war eine mächtige Waffe, ein Verbündeter, den er willig einsetzte. Wenn seine Schatten alles um die Drüskelle herum verdunkelten, sie hilflos wie kleine Kinder werden ließ, und sein Name geflüstert über ihre Lippen drang, fühlte er sich stark und unbezwingbar. Doch es war nie genug. Die Fjerdan stoppten nicht mit ihren Angriffen. Genau wie die Shu Han weiterhin versuchten, in Ravka einzudringen. Innerlich seufzend wandte er sich vom Wald ab, richtete seine Aufmerksamkeit auf seine Grisha. Für sie würde er ewig weiterkämpfen. Für sie und die Anerkennung, die ihm zustand.

Still stand er eine Weile da, beobachtete und lauschte. Obwohl er der Mächtigste von ihnen war, fühlte er immer einen Abstand. Seine Macht war selbst für sie zu fremd, als dass sie ihn verstanden. Doch das bedauerte er nicht. Wenn er niemanden an sich heranließ, erfuhr nie jemand von den Geheimnissen, die er seit Ewigkeiten mit sich herumtrug. Vertrauen ließ einen unvorsichtig werden. Ein Fauxpas, den er sich nicht leisten konnte, der alles ins Wanken bringen würde.

„Was ist das?" Ein Inferni wies mit weit aufgerissenen Augen auf den Wald in der Ferne. Der Blick starr und gleichzeitig voller Bewunderung. Kirigan drehte sich abrupt um, sah das Licht in den Himmel schießen. Nicht die Flammen eines Inferni, kein natürliches Feuer, das ihm den Weg wies. Wortlos sprang er in den Sattel, trieb sein Pferd in einem gnadenlosen Galopp auf die Quelle des Lichts zu. Donnernde Hufe hinter ihm zeigten, dass seine Grisha ihm auch ohne expliziten Befehl folgten. Sie alle wollten das seltsame Phänomen ergründen. Zu naturnah für eine Waffe der Drüskelle wies es ihnen den Weg.

Das Licht verblasste, doch er lenkte sein Pferd zielsicher in die Richtung, wo der Ursprung liegen musste. Angespannt ließ er seinen Blick vorauseilen. Der Geruch von verbranntem Fleisch stieg ihm in die Nase. Seine Augen weiteten sich vor Schreck. Kam er zu spät? Verlor er seine Sonnenkriegerin, bevor er sie gefunden hatte? Ein erneuter Fehlschlag, für den seine Mutter ihn auslachen würde? Schon lange teilte sie nicht mehr seine Überzeugung. Seit dem bedauerlichen Vorfall im Tula-Tal. Er hatte nie geplant, solch eine Abscheulichkeit zu kreieren. Und doch war sie es, die den Grisha Rechte gesichert hatte. Weil man ihre Gaben benötigte. Sonst wäre Ravka längst gefallen. Doch all dies verblasste vor dem Hintergrund, dass er erneut einen Fehler begangen hatte. Ohne die Rast wären sie rechtzeitig im Wald gewesen.

Der Gestank des Todes nahm zu, drang unbarmherzig in seine Nasenlöcher ein, verätzte ihm die Lunge. Doch es war nichts im Vergleich zu der gnadenlosen Stimme in seinem Kopf, die ihm zuflüsterte, dass er zu spät kam. Der Wald lichtete sich, zeigte einen sonnenüberfluteten Platz inmitten der hohen Bäume. Sein Blick fiel auf die festgebundenen verkohlten Leichen, von denen noch Rauch aufstieg. Über und über mit Ruß bedeckt, die Haare vom Kopf gefressen, konnte er nicht sagen, ob es Männer oder Frauen waren. Die schwelende schwarze Haut warf Blasen, platzte auf. Eine rötliche Flüssigkeit sickerte aus den Wunden. Blut, das noch nicht durch die Hitze des Feuers verkocht war.

Hinter ihm hörte er eine der jüngeren Grisha würgen. Niemand wagte es, vom Pferd zu steigen. Der Anblick, der sich ihnen bot, ließ jeden wie versteinert im Sattel ausharren. Kirigan ließ seinen Blick weiter schweifen, entdeckte eine Gruppe Männer verstreut auf dem Boden liegen. Die Kleidung typisch für Drüskelle, die Augen vor Überraschung oder Angst weit aufgerissen. Jeder einzelne von ihnen war sauber in zwei Hälften geteilt. Der Schnitt. Nur wer hatte ihn angewandt?

Ein Wimmern richtete seine Aufmerksamkeit auf zwei Gestalten, die ein wenig abseits – halb verdeckt von den Blättern eines Busches – auf dem Waldboden hockten. Eine junge Frau, die sich um ein Mädchen kümmerte, das kaum älter als sechs war. Die Frau bewegte geisterhaft ihre Hände über dem Arm des Kindes, heilte die Verletzungen, die es erlitten hatte. Die Kleine war seine sehnsüchtig erwartete Sonnenkriegerin, daran bestand kein Zweifel. Die erwachsene Grisha zu unscheinbar, um seine Ebenbürtige zu sein.

Er räusperte sich, stieg vom Pferd. Doch bevor er auch nur einen Schritt setzen konnte, huschte Fedyor an ihm vorbei und half der Fremden mit dem Mädchen. Ihr sanft gesprochener Dank ließ ihn innehalten und die Stirn runzeln. Die Stimme kam ihm seltsam vertraut vor. Er schüttelte den Gedanken ab. Er kannte sie nicht, diese Grisha, die es vorzog, ohne die schützenden Mauern des Kleines Palastes zu leben. Mit ihr würde er sich später befassen, das Kind hatte Vorrang. Eiligen Schrittes lief er auf die drei Personen am Boden zu, Ivan stetig auf seinen Fersen. Fedyor sprang auf, machte ihm mit ehrfürchtig geneigtem Kopf Platz. Die Frau ignorierte ihn, kümmerte sich weiter um das Mädchen, das ihn mit einem angstverzerrten Gesicht ansah. Sein Herz zog sich einmal krampfhaft zusammen, dann hatte er seinen Körper wieder unter Kontrolle. Kein Grishakind sollte in Furcht leben. Er hockte sich neben die Kleine, die vor ihm zurückzuckte.

„Er wird dir nichts tun", murmelte die Frau, die dem Kind sanft über den Unterarm strich. Sie nutzte Entherzerfähigkeiten, um den Herzschlag des Mädchens zu beruhigen. Um ihr die Angst zu nehmen.

„Ich werde dich in Sicherheit bringen", sprach er in ruhigem Tonfall zu der Kleinen. „Ich sorge für alle Grisha."

„Ich bin keine Grisha", stammelte das Kind und drängte sich enger an die Fremde, die tröstend über die zerzausten schwarzen Haare strich.

Kirigan runzelte die Stirn. Hatte man dies dem Mädchen eingeredet, um es vor den Fjerdan zu schützen? Er betrachtete es einen Augenblick still. Die bronzefarbene Haut einer Suli und doch war es keine Angehörige des reisenden Volkes, das durch Ravka zog und bekannt für seine akrobatischen Künste war. Es schien aus einem ferneren Gebiet zu stammen, möglicherweise mit Elternteilen aus unterschiedlichen Kulturen. Er warf einen Blick auf die verbrannten Personen, die von seinen Grisha losgeschnitten wurden. Einige Männer hoben ein Grab für sie aus. Andere sammelten Holz und schichteten es mit den getöteten Drüskelle ein wenig abseits zu einem Scheiterhaufen. Zu schade, dass man die Hexenjäger nicht mehr lebendig verbrennen konnte, so wie sie es mit ihren hilflosen Opfern taten. „Haben deine Eltern das zu dir gesagt?"

Das Mädchen wimmerte erneut und er schalt sich innerlich für sein Vorgehen. Umso erstaunter und erleichterter war er, als die Frau das Kind sanft in ihren Armen wiegte und beruhigend auf sie einredete. „Er möchte wissen, ob du das Licht hervorgerufen hast, das uns zu Hilfe hat eilen lassen." Sie wandte sich ihm zu. „Das ist es doch, was Euch hergebracht hat."

„Das ist wahr. Wir haben angenommen, eine Sonnenkriegerin zu finden." Es war zwecklos, den Grund für ihr Erscheinen zu leugnen. Die Fremde hatte das Licht ebenfalls gesehen.

„Wer auch immer es ausgelöst hat, es war nicht das Mädchen. Ich hätte es sonst anders vorgefunden." Sie meinte das Strahlen, das jede Grisha nach dem Ausüben ihrer Gabe hatte. Etwas, das er bei der Frau vorfand, doch nicht beim Kind.

„Du bist eine Heilerin?" Zu unglaubwürdig wirkte es auf ihn, dass sie den Lichtstrahl ausgesendet und die Drüskelle getötet hatte.

„Das bin ich." Sie neigte den Kopf, sah ihn aus ihren sanften grünen Augen mitfühlend an. Als ob sie fühlte, wie ihn die Zweifel und die Gier nach Sicherheit für alle Grisha stetig näher an den Abgrund brachte. Doch sie konnte es nicht wissen. Sie war nur eine Korporalki.

*****

Von wem stammt das Licht? Und wo ist die Person hin?

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