Kapitel 19


Friedlich lag sie am nächsten Morgen neben ihm, als er erwachte. Er lächelte zufrieden. Sie hatte sich nicht heimlich aus dem Staub gemacht, sondern war bei ihm geblieben. Ein deutliches Zeichen, dass sie sich in seiner Gegenwart genauso wohlfühlte wie er in ihrer.

Nachdenklich ließ er den Blick umherschweifen. Hier konnte er ihr keinen großen Luxus bieten, aber zurück im Kleinen Palast würde sie die Vezda Suite erhalten. Die Sonnenkriegerin würde mit einer bescheideneren Bleibe auskommen müssen. Zumindest bis er seinen rechtmäßigen Platz auf dem Thron des Zaren eingenommen hatte. Nur ein mächtiger Grisha konnte das Volk schützen. Nicht die dekadente, fette Qualle, die seine Macht ausnutzte, um sich junge Frauen wie Genya zu unterwerfen.

Kirigan ballte die Fäuste. Schon bald würde es keine sexuellen Belästigungen mehr geben. Übergriffige Adelige würden sich nicht lange mehr ihres Lebens erfreuen. Die Zeit, in der seine Grisha für ein wenig Schutz leiden mussten, neigte sich dem Ende zu. Er trug für sie die Verantwortung. Es war seine Aufgabe, sie aus den Klauen der raffgierigen und opportunistischen Otkazat'sya zu befreien.

„Schon so verspannt am frühen Morgen?" Katharina drehte sich zu ihm um und musterte ihn eindringlich. „Die Last, die du auf deinen Schultern trägst, ist zu groß für eine Person. Lass dir dabei helfen."

Ihr mitfühlender Blick verscheuchte für den Moment die Dämonen, die Zweifel, die ihn plagten und ihm oft den Schlaf raubten. Doch nicht in der vergangenen Nacht. Die Nähe der Heilerin schenkte ihm die ersehnte Ruhe. Gleiches sucht Gleiches, schoss es ihm durch den Kopf. Obwohl sie nicht seine Ebenbürtige war, reagierte sein Körper dermaßen auf sie. Ein Wink des Schicksals? Ein Hinweis, dass sie seine Einsamkeit vertreiben konnte?

Sie streckte sich. „Wir sollten aufstehen. Sonst scheucht Ivan uns gleich aus dem Bett, weil alle auf uns warten."

Kirigan lachte leise. „Oh, das traut er sich nicht. Aber er dürfte mittlerweile Alina unsanft geweckt haben." Und es tat ihm nicht einmal leid. Wäre die Sonnenkriegerin nur nicht so störrisch, würde sich sein Plan müheloser verwirklichen lassen. Aber sie musste sich wie ein trotziges kleines Kind verhalten, sich gegen ihre eigenen Leute stellen. Und wofür? Einen einfachen Otkazat'sya, dessen Leben weitaus kürzer als das ihre sein würde. Lächerlich.

Vor dem Zelt räusperte sich jemand. Ivan. „Moi Soverenyi? David hat alles vorbereitet. Wollt Ihr es jetzt hinter Euch bringen oder wenn wir bei der Flur ankommen?"

Kirigan stand auf. „Jetzt wäre dafür ein ausgezeichneter Augenblick. Ich komme gleich." Dann konnte er während der Weiterreise beobachten, welche Auswirkungen die Verbindung – sollte sie tatsächlich zustande kommen – auf Alina hatte. Gleichzeitig konnte er ein wenig üben, ihre Gabe aufzurufen. Seine Gabe. Er lächelte zufrieden. Schon bald besaß er die Macht über Schatten und Sonne. Zwei Kräfte in seinen Händen vereint, für das Wohl aller Grisha.

Katharina setzte sich auf und musterte ihn kritisch. „Worum geht es?"

Kirigan zweifelte. Sollte er es ihr sagen? Warum eigentlich nicht? Wenn er sie zur Frau nehmen wollte, benötigte er ihre bedingungslose Unterstützung. Eine Gefährtin, die in stürmischen Zeiten an seiner Seite stand und nicht wegrannte wie ein verschrecktes Reh. „Wie Ivan dir gestern berichtet hat, haben wir Morozovas Hirsch gefunden."

„Und getötet. Ein mächtiger Kräftemehrer, wenn man den Sagen und Geschichten Glauben schenken mag." Sie schlüpfte aus dem Bett. „Doch wozu wird David benötigt? Und wozu benötigst du die Macht des Tieres, Aleksander? Auch so kann es niemand mit dir aufnehmen."

„Oh, er ist nicht für mich. Nicht nur", fügte er mit einem verschmitzten Lächeln hinzu. „Als ich Alina vor Monaten entdeckte, wollte sie ihre Gabe loswerden. Und jetzt hat David einen Weg gefunden, wie ich ihre Kraft nutzen kann."

Katharina atmete scharf ein. „Merzost?"

Er lachte leise. „Glaubst du wirklich, dass ich Merzost benutzen würde?"

Sie senkte kurz den Blick, dann schaute sie ihn unverwandt an. „Du hast das bereits einmal getan. Vor langer Zeit."

Kirigan trat einen Schritt auf sie zu. „Du weißt, wer ich bin?"

Die Heilerin stand auf und lief langsam auf ihn zu. „Du bist der Mann, der die Flur erschaffen hat und den Kleinen Palast zum Schutz der Grisha hat erbauen lassen. Doch außerhalb der Mauern sind ihre Leben weiterhin in Gefahr. Bedroht von Drüskelle, den abergläubischen Menschen und dem Zaren selbst. Du bist uralt und dennoch sorgst du dich noch immer um jene, die unter den Otkazat'sya leiden." Sie hob eine Hand und berührte ihn sacht an der Wange. „Ja, ich weiß, wer du bist."

Und sie rannte nicht vor ihm weg. Er breitete die Arme aus, genoss es, wie Katharina sich an seine Brust anschmiegte. Ruhe flutete seinen Körper. Schmunzelnd küsste er die Heilerin auf den Scheitel.

„Moi Soverenyi?" Ivan trat ein. „Ich störe nur ungern. Aber wir sollten es jetzt durchführen oder aufbrechen."

Kirigan atmete tief durch und löste die Umarmung. „Ich komme."

„Du wolltest mir noch sagen, worum es geht." Katharina lehnte sich an ihn. „Ich vermute, dass es mit dem Hirsch zu tun hat und einem Band zwischen dir und der Sonnenkriegerin."

„David sollte einen Halsreif aus dem Geweih des Kräftemehrers formen, damit wir ihn ihr umlegen können", erklärte er.

Sie schnalze missbilligend mit der Zunge. „Ganz schlechte Idee. Wenn Leute sie sehen, wird das Fragen aufwerfen. Euch steht hier keine Kutsche zur Verfügung, also müssten wir auf dem Pferderücken weiterreisen. Du solltest damit warten, bis wir ein Lager erreichen, das dafür besser geeignet ist und danach mit einer Kutsche weiterfahren, um die Sonnenkriegerin zu verstecken."

„Ina hat recht", kommentierte der Entherzer seelenruhig.

Kirigan unterdrückte ein Schnauben. Natürlich hatte seine zukünftige Gefährtin recht. Sie war klug und furchtlos. Kinder liebten sie und vertrauten ihr. Sie als Mutter seiner Kinder, wenn dies ihm endlich vergönnt sein sollte? Es gab nichts, was er sich mehr wünschte. Doch, die Sicherheit aller Grisha.

„Ivan, bereite alles zum Aufbruch vor." Katharina fing an, zusammenzupacken. „Je eher wir aus diesem Gebiet rauskommen, desto besser. Falls jemand Alinas kleine Lichtershow gesehen hat, könnten wir sonst noch Besuch bekommen."

Kirigan wandte sich schmunzelnd an seinen Entherzer. „Du hast Ina gehört. Wir brechen auf."

Ivan löste seinen verwirrten Blick von der Heilerin. „Sehr wohl, moi Soverenyi." Er drehte sich um und eilte nach draußen.

„Kein Tadel, weil ich deinem engsten Vertrauten einen Befehl gegeben habe, Aleksander?" Sie hob den Kopf und sah Kirigan unverwandt an.

Wie sie seinen Namen aussprach. Er könnte ihr ewig zuhören. „Solange du in meinem Interesse handelst, darfst du ihm immer Befehle geben." Er zog Katharina an seine Brust, wartete gespannt darauf, ob sie ihn wieder küsste. Wie am Morgen der Winterfête.

„Du gibst mir einen Freibrief? Meinst du nicht, dass das gefährlich ist?" Sie musterte ihn keck. „Wartest du auf etwas?" Schelmisch blitzte es in ihren Augen auf.

Er seufzte. „Wir sollten aufbrechen." Er ließ sie los. Just in dem Moment beugte sie sich vor und stahl einen Kuss von ihm. Gleich darauf flüchtete sie aus dem Zelt und rief zwei Oprichniki, damit diese das Packen übernahmen. Dieses kleine Luder. Schmunzelnd folgte er Katharina nach draußen.

Sie lief auf den Fährtenleser zu und erkundigte sich nach seinen Verletzungen. Der Mann starrte sie erst finster an, doch seine Haltung ihr gegenüber änderte sich schnell, als sie ihre Gabe nutzte.

Kirigan beobachtete alles gelassen, bis er Alina bemerkte, die ihn mit Blicken zu erdolchen suchte. Die Sonnenkriegerin ballte die Fäuste. Nur ihre Fesseln verhinderten, dass sie ihre Macht einsetzte und ihn mit einer Kugel aus gleißendem Licht angriff. Vielleicht sollte er doch Katharina darum bitten, die störrische Beschwörerin zu zähmen.

Wenig später ritt er neben Ina weiter in den Süden. Er runzelte die Stirn, weil David windschief im Sattel saß. Dem Durasten war sein Reittier nicht geheuer. Er hatte es tauschen müssen, weil man für die Gefangenen ruhigere Tiere benötigten. Wer gefesselt war, konnte ein Pferd nur schlecht lenken.

Kirigan ließ seinen Blick weiter schweifen. Ivan passte auf Alina auf und Zoya hielt den Otkazat'sya in Schach. Die zwei Waisenkinder verhielten sich mucksmäuschenstill, starrten nur stur geradeaus. Doch das würde nicht lange anhalten. Die Sonnenkriegerin wartete nur darauf, ihm ihren Hass zu zeigen. Sie war zu jung, ließ sich noch von Idealen leiten, weil sie keine Ahnung hatte, wie grausam die Welt war. Die Hänseleien wegen ihres Aussehens waren nichts gegen die Gefahren, die den Grisha jeden Tag begegneten. Sie würde es lernen, doch dafür benötigte sie noch Jahre. Zeit, die er nicht hatte.

Er schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Es war notwendig, dass er die Kämpfe mit Fjerda und Shu-Han beendete, bevor Ravka die finanziellen Mittel ausgingen. Der prahlerische Zar und seine ebenso verschwenderischen Anhänger ruinierten das Land, wenn man ihnen keinen Einhalt gebot. Sie und die Kriege stürzten Grisha und Otkazat'sya ins Verderben. Ein weiterer Beweis, dass es allen mit ihm als Herrscher besser ergehen würde. Mit der klugen und liebevollen Katharina an seiner Seite. Während er sich um die Staatsgeschäfte kümmerte, könnte sie sich um die Erziehung und die Gesundheit der Menschen kümmern. Pläne ausarbeiten, wie man den Wohlstand vermehrte und die Lebensbedingungen verbesserte.

Er warf ihr einen Blick zu. Die Heilerin saß völlig entspannt auf ihrem Pferd, bildete mit dem unberechenbaren Tier eine Einheit. Kirigan schmunzelte. Selbst die störrischsten Wesen beruhigten sich dank ihrer Gabe. Ein Grund, sie einzusetzen, um die Sonnenkriegerin zu zähmen. Andererseits wollte er es Ina nicht zumuten. Ihr Mitgefühl würde ihr nur im Weg stehen. Es stand ihm nicht zu, sie zur Mithilfe zu zwingen. Es war einzig seine Aufgabe, Alina zu überzeugen. Und das Band, das sie durch die Bruchstücke des Hirschgeweihs schon bald miteinander verbinden würde, erledigte den Rest.

In der Ferne sah er ein wenig Rauch aufsteigen. Qualm vom Küchenzelt des Lagers, zu dem sie reisten. Ein Feldlager, wo Grisha stationiert waren und eines seiner pompösen Zelte auf ihn wartete. Ebenso eine Kutsche für die Weiterreise. Luxus, an den er sich gewöhnt hatte, und der ihm doch falsch vorkam. Vom verängstigten Jungen, der in Wäldern und Höhlen gelebt hatte, zu einem der gefürchtetsten Männer Ravkas. Und schon bald würde er an der Spitze stehen. Wenn Genya sich am Zaren gerächt und diesen aus dem Weg geschafft hatte. Dessen älterer Sohn nur eine Marionette, die man leicht an den Rennbahnen Caryevas beseitigen konnte. Der jüngere Sohn, der Bastard der Familie, trieb sich irgendwo in der Welt herum. Unwillig, sich mit den Regierungsgeschäften seines Vaters zu befassen. Von ihm ging ebenfalls keine Gefahr aus. Niemand, der einem Machtwechsel im Wege stehen würde.

Kirigan erlaubte sich ein zufriedenes Lächeln. Eine glorreiche Zeit stand ihnen allen bevor.

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