Kapitel 18


Kirigan wies seine Gefolgsleute mit einer Handbewegung an, ab jetzt absolut leise zu sein. Gleich würde er die Sonnenkriegerin fangen, um sie zurückzuschleppen. Des Fährtenlesers würde er sich entledigen. Der Waisenjunge aus Keramzin beeinflusste Alina. Die Briefe, die er geschickt hatte, bewiesen dies. Blieb er am Leben, war mit Schwierigkeiten zu rechnen. Ein zu großes Risiko.

Er schickte seine Schatten voraus, damit sie Geräusche dämpften, und ihre Ankunft verschleierten. Mit traumwandlerischer Sicherheit stapfte er durch den Schnee, unbeirrbar auf sein Ziel zu.

Hinter einer weiteren Reihe Bäume blitzte Licht auf. Kirigan fluchte innerlich. War die Sonnenkriegerin völlig übergeschnappt? Viel zu schnell konnten Drüskelle auf sie aufmerksam werden. Sie mussten hier dringend weg, bevor Feinde auftauchten. Er gab seinen Grisha ein Zeichen, auszuschwärmen. Er selbst eilte vorwärts im Schnee.

Der Hirsch! Alina berührte den Kräftemehrer, der ihre Gabe weckte.

Einer von Kirigans Untergebenen reagierte sofort. Ein Pfeil bohrte sich in das majestätische Tier, das vor Schmerz schrie. Das Licht verschwand. Die Sonnenkriegerin fiel rücklings in den Schnee, den Blick unentwegt auf den Hirsch gerichtet, bis dieser zu Boden ging. Der Fährtensucher feuerte einen Schuss mit seinem Gewehr ab.

„Leichtsinniger Narr", knurrte Kirigan zwischen zusammengepressten Zähnen. Wollte der Soldat der Ersten Armee ihnen die Drüskelle auf den Hals hetzen? Das würde ihm und seiner Begleiterin ebenfalls schlecht bekommen.

Der Spurenleser packte seinen Bogen und zielte auf den im Schnee liegenden Hirsch.

Zoya vereitelte sein Vorhaben mit einer Windbö. „Dieses Tier ist nicht für dich bestimmt."

Drohend lief der Mann auf die Stürmerin zu, bis ihn ein Pfeil niederstreckte. Die Sonnenkriegerin schrie entsetzt auf. Auch sie kümmerte sich wenig um die Gefahren, die um sie herum in den Wäldern lauern konnten. Kirigan schüttelte betrübt den Kopf. Sie mochte mit ihrer Gabe zwar sein Gegenstück sein, doch sie war ihm nicht ebenbürtig. Zu jung, zu impulsiv. Ohne Blick für das Ganze. Eine Enttäuschung, mit der er nicht gerechnet hatte. Umso wichtiger war es, dass er ihren Widerstand brach. Vielleicht sollte er den Waisenjungen doch am Leben lassen, um ihn als Druckmittel zu benutzen.

Er nickte Ivan zu. Dieser sorgte mit ein paar einfachen Handbewegungen dafür, dass der Fährtenleser widerstandslos in sich zusammenbrach.

Alina kämpfte sich auf die Füße, feuerte ihr Licht auf die drei Grisha ab, die ihren Freund eingekreist hatten. Panisch schnappte sie nach Luft, brach die Spitze des Pfeils ab und zog den Rest aus dem Körper des Mannes, der sich vor Schmerz aufbäumte. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sorge um sein Überleben.

Wie rührend. Erst jetzt gab Kirigan sich zu erkennen, schickte seine Schatten als stumme Drohung voraus. Als Zeichen, das man ihm nicht entkommen konnte. Dass Alina sich niemals vor ihm verstecken konnte.

Er formte den Schnitt. Morozovas Hirsch würde von ihm getötet werden, von niemand anders. Ein besonderer Kräftemehrer für einen noch nie dagewesenen Bund, mit dem endlich ein sicheres Reich für alle Grisha in greifbarer Nähe lag. Nie wieder Anfeindungen oder Verfolgung. Die Zeiten waren endgültig vorbei.

Voller Genugtuung schleuderte er die finstere Klinge aus Schatten auf das schwer verletzte Tier. Im Augenwinkel registrierte er eine Bewegung und atmete scharf ein. Das wagte sie nicht!

Alina warf sich in den Weg der tödlichen Waffe. Gleich darauf hüllte gleißendes Licht sie und den Hirsch ein, lenkte den Schnitt in den Wald hinter ihr ab. Dummes, naives Ding. Kirigan trat näher heran. Glaubte sie wirklich, sie könnte ihn aufhalten? Ein Nicken von ihm und Ivan packte den Fährtenleser. Er oder der Kräftemehrer. Wessen Leben bedeutete ihr mehr?

„Du kannst sie nicht retten, Alina." Es wurde Zeit, dass er sie auf ihre Grenzen hinwies. „Du verfügst über die Macht des Lichtes, aber nicht über die zu heilen." Er ließ seine Worte wirken, doch sie hielt die Lichtkuppel aufrecht. „Ich weiß, dass dir der Fährtensucher wichtig ist." Warum auch immer sie an diesen Otkazat'sya hing. „Gib mir den Hirsch und meine Heiler werden ihn retten." Den lächerlichen Mann, nicht den Kräftemehrer. Geduldig wartete er ab. Lange würde die Sonnenkriegerin nicht mehr durchhalten. Hin und hergerissen von der Entscheidung, wer leben und wer sterben sollte. Es war offensichtlich, wen sie wählen würde.

„Du musst ihn töten", keuchte der Fährtenleser. Seine Stimme verriet, wie sehr ihn die Verletzung beeinträchtigte. Er kroch vorwärts, ein Messer in der Hand, um es wie ein treuer Hund seiner Freundin aus Kindertagen zu bringen. Die Kräfte verließen ihn. Das Licht verblasste. Alina stürzte zu ihm. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Für den Mann, gegen den Hirsch.

Kirigan verfolgte das Geschehen mit gleichgültiger Miene, obwohl es in seinem Innern kochte. Seine Ebenbürtige zog einen nutzlosen Otkazat'sya vor. Noch immer verstand sie nicht, dass sie zu Größerem berufen war. An seiner Seite könnte sie über ein ganzes Land regieren. Vielleicht würde sie es in einigen Jahren verstehen, wenn ihr Fährtenleser alt und gebrechlich, sie dagegen noch jung und voller Kraft war.

Er verkniff sich ein spöttisches Lächeln, als Ivan die Sonnenkriegerin von dem Mann wegzerrte und sie sich vergeblich zur Wehr setzte. Andere Grisha kümmerten sich um den Verletzten, indem sie ihn bewusstlos schlugen. So machte er ihnen vorläufig keinen Ärger.

Kirigan hob die Arme, dunkle Materie sammelten sich zwischen seinen Händen. Der Schnitt raste ein zweites Mal auf den Hirsch zu, teilte diesmal ungestört den Kopf vom Rumpf. Für einen Moment herrschte Stille. Selbst Alina hatte ihr störendes Gejammer eingestellt. Wie hatte er dieser jungen, unerfahrenen Frau nur den Ehrenplatz an seiner Seite zugestehen wollen? Nein, Katharina würde ihren Platz einnehmen und seine Einsamkeit vertreiben. Nur sie verdiente es.

Er sammelte sich einen Moment, versteckte seine Gefühle wieder tief in seinem Innern. Dafür war hier und jetzt weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt. Sie mussten verschwinden, bevor Drüskelle ihre Anwesenheit bemerkten. Er richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf das tote Tier, dass nur ihretwegen hatte sterben müssen. Weil sie nicht anders bereit war, ihre Gabe für das Wohl aller Grisha einzusetzen. „Bringt mir sein Geweih."

„Ja, General." David, der zuvor nach Ende der Feindseligkeiten näher herangeschlichen war, rannte nun durch den Schnee zum Hirsch. Begleitet von Alinas Geschrei.

„Ihr seid ein Mörder", warf sie Kirigan an den Kopf. „Ihr dummen Narren."

„Und der Otkazat'sya, Sir?"

„Ich stehe zu meinem Wort." Obwohl es ihm nicht gefiel, den Mann am Leben zu lassen. Andererseits war der Fährtenleser ein ausgezeichnetes Druckmittel. Aus strategischen Gesichtspunkten war es vorteilhafter, ihn mitzunehmen, statt für die Wölfe zurückzulassen. „Heilt ihn", fügte er mit ungewöhnlich sanfter Stimme hinzu. Vielleicht war es noch nicht zu spät, die Sonnenkriegerin eines Besseren zu belehren, sie auf seine Seite zu ziehen. „Schließlich hat er nur versucht, sie zu beschützen." Das einzig Vernünftige, was der Soldat der Ersten Armee zustande gebracht hatte. Sein Blick fand Alina. Seine Ebenbürtige, die ihn voller Abscheu ansah. Eines Tages würde sie es begreifen. Nicht jetzt, dafür war sie zu jung, zu naiv. Er wandte sich enttäuscht zum Gehen.

Entgegen seinen Befürchtungen lauerten ihnen keine Drüskelle auf. Mühelos gelangten sie nach einem langen ermüdenden Marsch mit nur kurzen Ruhepausen zurück zu dem Lager, das bei der Schneegrenze aufgeschlagen worden war. Dennoch waren Kirigan die wenigen Tage wie Wochen vorgekommen. Die Sonnenkriegerin hatte ihn nur selten eines Blickes gewürdigt. Meist nur, wenn Ivan ihren Fährtenleser anwies, schneller zu gehen. Uneinsichtig, trotzig. Er beschleunigte seine Schritte auf den letzten Metern noch weiter. Nur Eine konnte seine Enttäuschung jetzt mindern.

„General. Ihr seid zurück. Und Ihr habt die Sonnenkriegerin gefunden", begrüßte ihn einer seiner Wachmänner.

Kirigan grüßte müde. Er ließ den Blick umherschweifen. „Ist etwas vorgefallen, während ich weg war?"

„Nein, alles war ruhig", berichtete ihm der Mann. „Die Heilerin hat sich wie eine hohe Offizierin um alles gekümmert."

„Wo ist sie jetzt?"

„In Eurem Zelt, General."

Ausgezeichnet. Genau dort, wo er sie haben wollte. Er nickte seinem Gesprächspartner zu und stiefelte dann zu dem Zelt. Erwartungsvoll schlug er die Plane zur Seite und trat ein. Katharina saß über Schriftstücke gebeugt auf der Schlafstatt.

„General." Sie stand in einer fließenden Bewegung und und neigte respektvoll den Kopf.

„Du sollst mich doch Aleksander nennen, wenn wir allein sind", tadelte er sie mit einem Lächeln auf den Lippen.

„Wir sind aber gleich nicht mehr allein", erwiderte sie mit einem Augenzwinkern.

Er vernahm Schritte. Jemand folgte ihm zum Zelt. „Tritt ruhig ein, Ivan."

„Moi Soverenyi." Der Entherzer grüßte höflich, schaute dann erwartungsvoll zu der Heilerin. „Ich wollte nur schnell Ina begrüßen."

Kirigan nickte ihm freundlich zu. So sollte es sein. Ein respektvoller Umgang der Grisha untereinander. Er sah gelassen zu, wie die zwei Freunde einander auf den neuesten Stand brachten. Katharina hatte nicht viel zu berichten, doch sie lauschte interessiert Ivans Erzählungen.

„Sie hat völlig sorglos im Grenzgebiet ihr Licht gerufen?" Fassungslosigkeit schwang in ihrer Stimme mit. Im Gegensatz zur Sonnenkriegerin war sie sich der Gefahren bewusst, die selbst innerhalb der Grenzen Ravkas lauerten. Ein weiterer Beweis, dass sie die bessere Wahl war.

Er atmete tief durch. Seine kleine Heilerin. In dieser Nacht würde er sie wieder in seinen Armen halten, von ihrer beruhigenden Gabe Gebrauch machen. Während Alina seinen Zorn weckte, schenkte Katharina seiner gepeinigten Seele Frieden.

Ivan schien seine Gemütsregung zu bemerken und verabschiedete sich zügig. Mit dem Hinweis, dass er alles für einen schnellen Aufbruch am frühen Morgen vorbereiten lassen würde.

Katharina starrte einen Augenblick ins Leere, dann lächelte sie. „Soll ich dir die Bürde, die du trägst erleichtern, Aleksander?"

Er schluckte schwer. „Bitte tu das, Ina." Sanft fuhr sie mit den Fingerspitzen seinen Nacken zum Haaransatz hoch. Er atmete tief durch. Verspannung flossen kontinuierlich aus seinem Körper ab. Ein Seufzer entwich ihm. Wieso konnte die sanftmütige Heilerin nicht seine Ebenbürtige sein?

*****

Ja, so kennen wir Aleksander. Immer am Grummeln.

Was meint ihr? Sieht er demnächst doch wieder Alina als die perfekte Partnerin an?

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top