Kapitel 16
Der Stock des Krüppels schlug auf die Pflastersteine der Gasse. Das minutiöse Ticken, verursacht von einem Mann, der auf die Gehhilfe seit langem angewiesen war. Kirigan benötigte keinen Entherzer, der ihm erzählte, dass sein Opfer genau auf ihn zulief. Erwartungsvoll starrte er dem Abschaum aus Kerch entgegen. Der Ratte, die seine Sonnenkriegerin entführt hatte. Gleich würde er erfahren, wo man sie versteckt hielt.
Er tauchte aus den Schatten auf, stellte sich dem Flüchtenden in den Weg. Dieser sah ihn mit einem wissenden Blick an. Die Barrelratte war sich bewusst, dass der Tod auf sie lauerte. Kirigan schritt betont langsam näher, um den Schrecken, den er verbreitete zu maximieren. So bekam er die volle Aufmerksamkeit des Mannes. „Ich weiß, dass du meine Sonnenkriegerin entführt hast." Der Krüppel zog sich mit winzigen Schritten zurück. Es fehlte nicht viel und er würde um sein Leben winseln. Eine Möglichkeit, die Kirigan mit Genugtuung erfüllte. „Und nun wirst du mir sagen, wo du sie versteckst."
„Wir haben sie nicht", wagte die Ratte zu behaupten. „Sie ist allein geflohen."
Entsprach dies der Wahrheit? Hatte Alina sich so sehr von den Worten seiner Mutter beeinflussen lassen, dass sie freiwillig weggelaufen war? Nein, der Mann log, wollte ihn nur ablenken. Ein Taschenspielertrick, den der Otkazat'sya in einem der verruchten Clubs in Ketterdam gelernt und sich zu eigen gemacht hatte. Kirigan ließ einen Moment der Stille fallen, um sein Gegenüber zu verunsichern, bevor er die Frage stellte, die ihm auf der Seele brannte. „Wo ist sie?" Er wandte den Blick ab, um sich zu sammeln. „Ich frage das nur einmal." Mit Mühe hielt er seine Schatten zurück, die sich um die Kehle des Halunken schlingen wollten.
„Ich weiß es nicht." Der Fremde hielt mühelos seinem Blick stand. „Es war offensichtlich, dass sie kein Interesse daran hatte, weiter in Gefangenschaft zu leben", spie ihm der Mann verbittert entgegen. Ein Verbrecher, dem alles entglitten war.
Kirigan atmete einmal tief durch, spürte, wie seine Schultern sich hoben und senkten. Diese ganze Situation hatte er seiner Mutter zu verdanken. Der alten Krähe, die sich ihm zum letzten Mal in den Weg gestellt hatte.
„Sie ist wahrscheinlich schon auf halbem Weg nach Novyi Zem", spottete er.
Die Barrelratte nutzte ihm nichts mehr. Alina würde sich nicht bei ihnen aufhalten. In Kirigans Adern brodelte es. Seine Schatten wuchsen an, verdichteten sich zu dem schwarzen Nichts, das Ungeziefer verschlang. Der Mann schluckte sichtbar, trat einen Schritt zurück. Er rüstete sich für etwas, dem er niemals entkommen konnte.
„Und du gehörst nach Ketterdam", knurrte Kirigan. Er näherte sich dem Otkazat'sya, ließ seine Schatten bedrohlich ausschwärmen. „Kaz Brekker." Er sammelte die Dunkelheit zwischen seinen Händen für den Schnitt. Der Verbrecher hob seinen Gehstock, wappnete sich auf dem ihm bevorstehenden Tod. Er schleuderte etwas auf die Pflastersteine.
Ein gleißender Blitz und ein lauter Knall veranlassten Kirigan sein Gesicht hinter seinem Arm zu verbergen. Als er wieder aufsah, war Brekker verschwunden. Licht der Morgendämmerung fiel in die Gasse. Bald würden die Grisha schon die Verfolgung aufnehmen. Nicht die der Ratten aus Ketterdam. Nein, sie würden eine neue Beute hetzen, bis sie ihnen in die Falle ging. Die Sonnenkriegerin konnte sich nicht ewig vor ihm verstecken.
Wo steckst du nur, Alina? Du gehörst mir. Vor mir davonzulaufen ist zwecklos.
Er lief durch die Gassen zurück zum Brunnen, wo Ivan gerade dem Durasten David vom Boden aufhalf. Die Kutsche war verschwunden. Er unterbrach seinen Entherzer, als dieser zu einer Erklärung ansetzte. Es war offensichtlich, was hier passiert war. Seine Oprichniki hatten sich wie Waisenkinder überrumpeln lassen. Vermutlich von den Verbrechern aus Kerch.
„Ich werde mir ein Pferd nehmen und sie verfolgen." Ivan schien von dem Verhalten der Barrelratten persönlich beleidigt. Seine verbissene Miene zeigte, wie gern er die Herzen dieser Otkazat'sya zerquetschen würde.
„Nein, Zeitverschwendung", erwiderte Kirigan gelassen. „Sie ist nicht bei ihnen. Sie ist allein." Und möglicherweise in Gefahr. Religiöse Fanatiker, Drüskelle. Verräter, die sie Sonnenkriegerin für viel Geld verkaufen wollten. Die Bedrohungen waren vielfältig. „Das Wichtigste ist, sie so schnell wie möglich aufzuspüren."
David hob wie ein kleiner Schuljunge die Hand und wartete darauf, sprechen zu dürfen. Der Durast, so brillant in seiner Arbeit, war außerhalb seiner Werkstatt völlig hilflos.
„Ja, du musst nicht ..." Sollte er einem erwachsenen Mann sagen, dass er sich nicht wie ein Schulkind zu melden brauchte? Er wandte kurz den Blick zum Boden. Ivan schien ebenfalls von dem Verhalten des Durasten irritiert und musterte ihn skeptisch. Kirigan unterdrückte mit Mühe ein amüsiertes Schmunzeln. „Ja, David?"
„Sie hat einen Ring von Genya." David ließ seine Hand sinken, wirkte wieder selbstsicherer. Ein Zeichen, dass es um ein Thema ging, bei dem er sich auskannte. Kirigan wartete interessiert ab. „Er besteht aus Iridium. Sehr selten in Ravka. Und wenn wir bis auf eine Meile an sie herankommen, kann ich sie aufspüren."
„Hervorragend." Schon bald gehörte die Sonnenkriegerin ihm und stand nichts mehr seinen Plänen im Wege. „Das beweist die vielfältige Nützlichkeit von Durasten." Er wechselte einen Blick mit Ivan, bevor er zum Aufbruch aufrief. Die zwei Männer folgten ihm.
Bei den Stallungen fand er Katharina, die eine aufgebrachte Zoya beruhigte. „Polina ist tot", teilte ihm die impulsive Stürmerin mit. „Ermordet von einer Barrelratte. Das werden sie mir büßen."
„Dafür haben wir keine Zeit. Die Sonnenkriegerin ist nicht bei ihnen, sondern allein unterwegs. Wir müssen sie finden, bevor es unsere Feinde tun."
„Ohne den Dirigenten schaffen sie es nicht durch die Flur. Ich vermute, dass sie in Kribirsk darauf warten werden, dass ein Skiff die Gäste von der Winterfête nach Novokribirsk bringt. Wir werden sie erwischen, nachdem wir die Sonnenkriegerin gefunden haben."
„Ihr habt Ivan gehört. Wir rächen Polina später. Jetzt sollten wir in der Stadt nach Zeugen suchen, die unsere Sonnenkriegerin gesehen haben. Katharina, du bleibst bei den Pferden und beobachtest, ob sich jemand verdächtig verhält. Der Rest folgt mir." So sorgte er dafür, dass seine Heilerin sich von Schwierigkeiten fernhielt. Niemand würde bei den Ställen auftauchen. Die Verbrecher waren längst geflohen und Alina würde nicht versuchen, ein Pferd zu stehlen. Die Tiere flößten ihr zu viel Respekt ein.
In einer Gasse trafen sie auf einen Angehörigen der Stadtwache, der bereitwillig Auskunft gab. „Ja, sie war eine Shu. Sie hat was mit Phosphor gemacht, meinen Kameraden geblendet und ist geflohen."
Mit Phosphor? Törichter Otkazat'sya. Erkannte keine mächtige Grisha, wenn sie vor ihm stand. Um so besser, bedeutete es doch, dass Feinde keinen Wind davon bekamen, dass sie in diesem Teil Ravkas umherirrte. „Und wohin ist sie geflohen?"
„Nachbarn sagen, sie wäre in den Norden gegangen, in die Wälder."
Kirigan wandte sich ab. Er hatte genug gehört.
„Ist sie eine Spionin?" Der Wachmann klang beunruhigt. Etwas stimmte hier nicht.
„Wie kommst du darauf?"
„Die Erste Armee war auch schon hier. Ein Soldat. Er suchte sie."
Ein einzelner Mann, der hinter einer ganz bestimmten Shu hinterher war? „Wer?" Kirigan baute sich drohend vor seinem Gesprächspartner auf. „Ganz genau."
„So ein Fährtensucher." Die Wache stotterte vor Nervosität. „Ein Korporal."
Die Puzzleteile fügten sich zusammen. Die zwei Waisenkinder waren wieder vereint. Auf der Jagd nach einem von Morozovas Geschöpfen. Er musste Alina finden, bevor sie den Hirsch in die Hände bekam. Sie verfügte nicht über das Wissen, dessen Macht wirkungsvoll anzuwenden. Sie brauchte dafür seine Hilfe, seine Führung. Er gab seinen Begleitern einen Wink, ihm zu den Stallungen zu folgen.
Dort erwartete ihn eine Überraschung. Katharina wartete mit den Pferden auf seine Rückkehr. Allesamt gesattelt und für den Aufbruch bereit. Er nickte der Heilerin zu, die sich mühelos und mit einem Lächeln auf den Lippen in den Sattel schwang. David dagegen benötigten die Hilfe von Ivan und Zoya, um sich auf den Pferderücken zu kämpfen. Der Durast bewies einmal mehr, dass das Leben außerhalb der Mauern des Kleinen Palastes nichts für ihn war.
„Permafrost?" Ivan lenkte sein Pferd neben den Hengst, den Katharina für Kirigan besorgt hatte. Die Heilerin ritt neben Zoya, obwohl die zwei Frauen einander verabscheuten.
Kirigan lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Entherzer. „Grenzgebiet zu Fjerda. Laut dem Fährtenleser hält sich der Hirsch dort auf. Er hat mir nicht den genauen Ort genannt, doch ich bin mir sicher, dass wir mit Davids Gabe Alina und damit den Hirsch finden werden."
Sie ritten schweigend weiter und lauschten dem Gespräch zwischen der Stürmerin und der Heilerin. „Die Wunde war also genau an der Stelle, die unmittelbar zum Tod führt, wenn man sie nicht sofort verschließt? Das spricht für ausgeprägtes Wissen über den menschlichen Körper. Woher weiß eine Akrobatin, wie man einen Gegner mühelos tötet?" Katharina legte fragend den Kopf schief.
„Es war auch ihr Messer, das Pavel tötete." Ivan trieb sein Pferd neben ihren Schimmel. „Sie scheint eine Ausbildung als Attentäterin durchlaufen zu haben. Möglicherweise wurde sie aufgrund ihrer akrobatischen Fähigkeiten dafür ausgewählt. Eine Mörderin, die sich unbemerkt an ihre Opfer anpirschen kann." Er rieb sich über eine Stelle an seiner Brust. „Genauso bemerkenswert wie der Scharfschütze, der mich zweimal an derselben Stelle getroffen hat, ohne mich zu sehen."
Kirigan horchte auf. Das war ungewöhnlich. Hatte er die Suli noch als Otkazat'sya abgetan, klang es so, als ob der Zemeni ein Grisha war. Krank hatte er nicht ausgesehen, also musste er von seinen Fähigkeiten wissen. Wieso wählte er dann Pistolen?
„Ein Durast?", fragte Zoya. Ihr war deutlich anzuhören, wie sehr die Sache mit den Barrelratten sie irritierte. „Den Eindruck hat er auf mich nicht gemacht."
„Materialki nutzen ihre Gabe anders als Etherealki", warf Katharina ein. „Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass er bewusst auf seine Gabe zurückgreift, wenn er die Waffen benutzt. Selbst ohne formelles Training. Wie in alten Zeiten."
Kirigan runzelte die Stirn. Jetzt in diesem Moment klang die Heilerin weitaus älter, als sie sein konnte. Doch das war für eine Corporalki nicht möglich. Nur sehr wenige Grisha waren langlebig wie er und seine Mutter. Die meisten waren vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten verstorben und wurden nun von den Otkazat'sya als Heilige verehrt, nachdem sie erst Ungewöhnliches geleistet und dann genau dafür getötet worden waren. Er schüttelte unmerklich den Kopf. Vermutlich hatte die Frau es von Familienmitgliedern oder auf ihrer Reise durch Ravka gelernt. Kein Grund, ihr gegenüber Misstrauen zu hegen.
*****
Tja, da war Kaz wohl zu schlau für ihn. Doch jetzt geht die Jagd nach Alina erst los.
Was meint ihr? Sollte er Katharina gegenüber misstrauischer sein?
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