Kapitel 15
Auf dem Weg zu Ivan rannte jemand in Kirigan hinein und stürzte in den Kies auf dem Hof. Eine junge Stürmerin, die seit Katharinas Erklärungen am See oft zusammen mit einem der gleichaltrigen Inferni übte. Den Angriff, den sie von der Heilerin gelernt hatten.
„Es tut mir leid, General", stotterte das Mädchen. „Ich bin auf der Suche nach Katharina und habe Euch übersehen."
„Ist schon gut, Jelena." Er half ihr auf. Ihre Worte weckten seine Neugierde. „Katharina sagtest du. Ist sie denn verschwunden?"
„Wir können sie in der Schule nicht finden. Sie war so traurig, weil Fedyor abreisen muss. Da wollten wir sie aufheitern."
Einerseits wärmte es sein Herz, was er von dem Mädchen hörte. Andererseits erfüllten ihre Worte ihn mit Schrecken. Hatte Katharina sich ohne seine Erlaubnis vom Kleinen Palast entfernt und war sie dem Entherzer gefolgt?
„Steckt sie jetzt in Schwierigkeiten?" Die Stürmerin sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Nein, nicht ihn. Seine Schatten, die unentwegt durch die Luft peitschten.
Er atmete tief durch. „Nein, Jelena", erwiderte er sanft. „Nach den Ereignissen der Winterfête sorge ich mich noch mehr um jeden Einzelnen von euch. Lauf zurück zu deinen Freunden. Ich werde Katharina suchen gehen und sie finen." Vor allem Letzteres. Hatte sie sich doch seinen Anweisungen widersetzt? Er führte mit energischen Schritten seinen Weg fort. Ivan kannte den Herzschlag der Heilerin und würde sie mit Leichtigkeit aufspüren, wenn sie noch in der Nähe war.
„Nein, Ina, du wirst uns nicht begleiten", hörte er den Entherzer knurren, bevor er ihn überhaupt sah. Kirigan trat um die Ecke des Stallgebäudes und erblickte ein gewohntes Bild. Eine sture, junge Frau, die mit dem Rücken zu ihm stand und beharrlich auf einen hochgewachsenen Mann einredete, der die Stirn verärgert in Falten gelegt hatte.
„Aber David darf auch mitkommen", führte sie als Argument an.
Kirigan schmunzelte, bemühte sich gleich darauf um seine übliche neutrale Miene. Aufzugeben gehörte nicht zu den Schwächen der Heilerin. Eher versuchte sie störrisch, ihren Willen durchzusetzen. Wäre sie eine mächtigere Grisha, würde er nicht zögern, sie auf die Jagd nach Alina und ihren Entführern mitzunehmen. Doch die Frau würde hintern den sicheren Mauern des Kleinen Palastes auf die Rückkehr ihrer Freunde warten müssen. „Du hast Ivan gehört, Katharina. Auf der Reise können wir auf unvorhergesehene Gefahren stoßen. Deswegen wirst du hierbleiben."
„Gerade dann solltet Ihr in Erwägung ziehen, eine Heilerin mitzunehmen, General", konterte sie umgehend und drehte sich zu ihm um. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn verdrossen an, die Lippen fest aufeinandergepresst.
Er trat auf sie zu, blieb so dicht vor ihr stehen, dass er sie fast berührte. Die unerklärliche Anziehungskraft, die sie auf ihn ausübte, streckte ihre Fühler nach ihm aus. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er sagen, dass mit jedem Kontakt ein feines Band zwischen ihnen gewebt wurde und immer mehr erstarkte. Eine Folge seiner selbsterwählten Einsamkeit, die ihn mürbe gemacht hatte. Doch vielleicht, wenn alles ausgestanden war, würde das Alleinsein ein Ende haben. Wenn auch nur vorübergehend. Deswegen durfte Katharina nichts zustoßen. „Du bleibst hier. Es ist zu gefährlich für dich."
„Ich kann mich daran erinnern, dass ich sehr gut auf mich aufpassen kann." Sie erwiderte mühelos seinen Blick, musste den Kopf dafür ein wenig in den Nacken legen. „Und das habe ich Euch sogar schon bewiesen, General."
Sie spielte auf die Reise zum Kleinen Palast an. Als Drüskelle die Gruppe angriffen und sie problemlos auf die Techniken der Entherzer zurückgegriffen hatte. Sie war stärker, als es meist den Anschein hatte.
„Einen Heiler mitzunehmen wäre nicht schlecht", warf Ivan ein. „Ina könnte David beruhigen, wenn ihm alles zu viel wird. Er verbringt die meiste Zeit in seiner Werkstatt. Die Reise wird an seinen Nerven zehren."
Kirigan seufzte. Er wusste, wann er verloren hatte. Katharinas Gabe würde sich durchaus als nützlich erweisen. „Einverstanden." Er fixierte die junge Frau mit seinem Blick. „Aber du wirst auf Ivan hören und ihm nicht von der Seite weichen. Verstanden?"
„Sehr wohl, moi Soverenyi." Respektvoll neigte sie den Kopf und versuchte, damit das Lächeln zu verdecken, das ihre Lippen umspielte. „Ich werde unverzüglich packen." Sie wandte sich ab und lief beschwingt zum Kleinen Palast. Schmunzelnd sah er ihr nach. Obwohl sie ihren Dickkopf durchgesetzt hatte, verstimmte es ihn nicht. Ihre Nähe würde ihm guttun. Er musste nur aufpassen, dass niemand es bemerkte. Um zu verhindern, dass sie ein Ziel seiner Feinde wurde.
„Ihr wird nichts zustoßen." Ivan schaute ihr ebenfalls nach. „Sie ist kampferprobter als alle anderen Heiler. Sie wäre mit der richtigen Ausbildung eine ausgezeichnete Entherzerin geworden. Wie Nina."
Wie Nina. Die Grisha-Spionin, die von Zlatan und seinen Schergen an die Drüskelle verraten worden war. Kirigan ballte die Fäuste. Er benötigte die Sonnenkriegerin, um den Aufständischen jenseits der Flur eine Lektion zu erteilen und gleichzeitig den Schu und den Fjerdan die Macht der Grisha zu demonstrieren. Niemand würde es mehr wagen, Menschen für ihre Gabe zu jagen, aufzuschneiden und bei lebendigem Leibe zu verbrennen, wenn er die Schattenflur kontrollieren konnte. Je eher sie aufbrachen, um Alina zurückzuholen, desto besser. „Ivan, sorge dafür, dass alle für den Aufbruch bereit sind. Wir müssen die Verfolgung aufnehmen." Nicht auszudenken, wenn die Entführer die Sonnenkriegerin zu Zlatan verschleppten. Oder nach Kerch. Entweder würde man sie töten oder versklaven. Beide Möglichkeiten eine Verschwendung ihrer Gabe.
*****
Wenig später saß Kirigan mit David und Ivan in der Kutsche. Katharina ritt auf ihrem Schimmel neben ihnen. Der Schattenbeschwörer beobachtete die junge Heilerin. Sie saß entspannt im Sattel und schien froh darüber zu sein, den Mauern des Kleinen Palastes zu entfliehen. Er wurde einfach nicht schlau aus ihr. Mal erweckte sie den Eindruck, so zerbrechlich wie filigranes Glas zu sein. Dann wiederum zeigte sie Stärke, die zu einer viel älteren, erfahreneren Frau passte. Sie war ein Mysterium, das sich nicht greifen lassen wollte. Nicht einmal von ihren besten Freunden.
Er ließ den Blick zu Ivan gleiten. Der Entherzer saß ihm mit verschlossener Miene gegenüber und hing seinen Gedanken nach. Sorgte sich aller Voraussicht nach um die Sicherheit seines Gefährten. David hatte dagegen die Nase in einem Buch vergraben. Der Durast studierte ohne Unterlass, wenn er nicht gerade an technischen Geräten bastelte oder andere Hilfsmittel erfand, die ihnen das Leben erleichterten. Oder sie besser vor den modernen Waffen der Fjerdan schützten. Außerdem würde er einen Weg finden, die Sonnenkriegerin an Kirigan zu binden, wenn sie Morozovas Hirsch erlegten.
Wo steckst du, Alina?
Er verfiel in Grübeleien. Kurz bevor sie die nächstgelegene Stadt erreichten, befahl Ivan dem Kutscher, anzuhalten. Der Entherzer stieg aus und schwang sich auf das für ihn mitgeführte Pferd. So würde er eine bessere Sicht auf mögliche Angreifer haben.
Katharina drängte mit ihrem Hengst an seine Seite. Sie wirkte erleichtert, sich weder mit der trauernden Polina noch mit Zoya weiterhin beschäftigen zu müssen. Kirigan fielen die Parallelen zur Sonnenkriegerin auf. Wie diese schien sie den Kleinen Palast, den er zum Schutz aller Grisha hatte erbauen lassen, noch immer nicht als ihr Zuhause anzusehen. Einzelne Menschen waren ihr wichtiger als der Ort an sich. Konnten ihr Verhalten und ihr Denken ihm weiterhelfen, Alina zu beeinflussen? Doch dafür musste er Katharina überzeugen, dass ihre Hilfe notwendig war. Notfalls musste er sie einer Einheit an der Grenze zu Fjerda zuteilen, damit sie die Gräueltaten der Drüskelle von Nahem erlebte. Allerdings barg das die Gefahr, dass er sie verlor. Der falsche Weg, flüsterte ihm sein Gewissen zu. Die Heilerin zu verlieren, würde ihm einen herben Schlag versetzen. Nein, er würde ihre Liebe gewinnen und sie mit Gesprächen überzeugen. Sie war kein Mittel zum Zweck, sondern eine Frau, die seine Einsamkeit vertreiben konnte.
Dunkelheit hatte sich über das Land gelegt, als sie die Stadt erreichten. Der Kutscher hielt das Gefährt an einem Brunnen. Ivan, Polina und Zoya warteten darauf, dass Kirigan ausstieg. David wollte ihm folgen.
„Bleib", wies er ihn an. „Ich brauch' dich hier nicht." Zu groß die Gefahr, dass dem Durasten etwas zustieß. Die Entführer waren nichts anderes als Barrelratten aus Kerch. Otkazat'sya, die es gewöhnt waren, zum Überleben zu töten. Dies war keine Mission für David. Kirigans Blick fand Katharina, die ihr Pferd und das von Ivan am Zügel hielt. Die Tiere benötigten Nahrung. Er gab der Heilerin mit einem Nicken zu verstehen, dass sie sich darum kümmern sollte. Auch sie wollte er nicht bei der Jagd auf die Verbrecher dabeihaben.
Er lief zu seinen getreuen Grisha. „Und?"
„So wurde die Kutsche beschrieben, die aus dem Palast gestohlen worden ist", merkte Ivan mit einem Blick zu einem Gefährt an, das bei einem Gebäude stand. Die Zugpferde hatte jemand ausgespannt. Sie waren nirgends zu entdecken.
„Möglicherweise sind sie zu Pferd weiter gereist. Das macht sie schneller und schwieriger zu finden", fügte Zoya hinzu.
Eine überaus ernstzunehmende Möglichkeit. Reiter fielen weniger auf als eine Karosse. Doch etwas stimmte hier nicht. Argwöhnisch sah er zu, wie eine seiner Wachen auf die leere Kutsche zulief, um nach Spuren zu suchen. Gleich darauf erhellte ein Blitz die Dunkelheit, gefolgt von einem Knall. Eine Falle! Das hätte er sich denken können. „Haltet die Augen offen. Sie sind in der Nähe." Sonst hätten sie keinen Grund dazu gehabt, einen Sprengkörper anzubringen. Er sollte sie warnen, wenn er eintraf. Dumm waren die Ratten nicht, doch das half ihnen auch nicht weiter.
Seine Grisha bahnten sich einen Weg durch die verschreckten Menschen, die die Explosion aufgescheucht hatte. Viele stürmten aus einer Taverne und suchten das Weite. Nur drei von ihnen schienen aus einem anderen Grund angespannt. Zwei Männer und eine Frau.
Polina reagierte als Erste. „Nein!" Ein verzweifelter Schrei. Sie erkannte die Mörderin ihres Bruders.
„Weg mit euch", rief der Anführer seinen zwei Begleitern zu. Sie trennten sich, stürmten in unterschiedliche Richtung davon. Polina und Zoya folgten der Frau. Ivan heftete sich an die Fersen des einen Verbrechers.
Kirigan selbst ging dem Bandenführer nach. Dieser würde ihm Rede und Antwort stehen, das Versteck, wo sie seine Sonnenkriegerin untergebracht hatten, verraten. Seine Schatten peitschten umher, angestachelt von der Jagd. Sie verbündeten sich mit der Finsternis, ließen Kirigan mit der Dunkelheit verschmelzen. Seine Beute hatte nicht den Hauch einer Chance.
*****
Na ob er sich da nicht mal wieder täuscht.
Was haltet ihr denn davon, dass er Katharina lieber überzeugen statt manipulieren will, damit sie ihm hilft?
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