Kapitel 13
Seine Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Marie war tot, Genya verletzt. Mit großen Schritten lief er zurück zu seinen Gemächern, um sich davon zu vergewissern, dass es Alina an nichts fehlte. Die Wachen standen noch genau so bei den hohen Türen, wie er es den Oprichniki befohlen hatte. Erleichterung machte sich in ihm breit. Seine Sonnenkriegerin wartete auf ihn und er würde dort fortfahren, wo sie zuvor gestört worden waren. Sie brauchte nicht zu wissen, was sich zugetragen hatte. Und wenn er es ihr erzählte, würde er sie dabei auf die Gefahr hinweisen, die von diesen nichtsnutzigen Otkazat'sya für sie und alle Grisha ausging.
Er stieß die Tür auf und wurde nicht wie erwartet von Alina begrüßt. Stirnrunzelnd sah er sich im Kriegszimmer um. Sie wartete weder bei dem großen Besprechungstisch noch hatte sie sich mit einem Buch zum Lesen hingesetzt. Hatte sie sich vielleicht in sein Schlafgemach zurückgezogen? Er klopfte zweimal auf Holz, um seine Rückkehr anzukündigen, und rief ihren Namen. Stille. Schlief sie? Er stürmte in den Raum und fand diesen ebenfalls verwaist vor. Wohin er seinen Blick auch gleiten ließ, entdeckte er keinen Hinweis auf den Verbleib seiner Sonnenkriegerin. Sein Herz überschlug sich. Hatte man sie entführt? Nein, das wäre aufgefallen. Niemand schaffte es, hier unbemerkt einzudringen und sie zum freiwilligen Mitkommen zu bewegen. Fast niemand.
Ein übler Verdacht kam ihm. Wenn Alina seine Gemächer nicht durch die Tür verlassen hatte, vor der er seine Wachen postiert hatte, blieb nur eine Möglichkeit, was passiert war. Beim Bau des Kleinen Palastes hatte er auf Fluchtgänge bestanden. Immer den Angriff der Ersten Armee auf ihn und seine Grisha fürchtend, gab es eine Vielzahl von Geheimgängen in den alten Gemäuern. Dazu Lagerräume für die Besitztümer seiner vorherigen Persönlichkeiten. Auch einzelne Aufenthaltsräume unter der Erde, um sich vor Feindseligkeiten zu verstecken. Außer ihm kannte nur eine Person diese unterirdischen Wege wie die Linien auf ihrer Hand. Baghra. Doch würde sie es wirklich wagen, seine Pläne zu sabotieren?
Kirigan machte auf dem Absatz kehrt und stürmte aus seinem Gemach. Auf dem Platz vor dem Kleinen Palast hielt er nach dem Fährtenleser Ausschau. Oretsev hatte den Hirsch gefunden, dann würde er auch Alina aufspüren können. Die Hoffnung zerschellte wie Glas in tausend Stücke, sowie er seine Mutter entdeckte.
„Er ist nicht hier", begrüßte sie ihn.
„Wer?" Er stellte sich unwissend. Vielleicht täuschte er sich auch und war Alina mit dem Otkazat'sya verschwunden.
„Der Fährtensucher. Ja," sie blickte ihn abfällig an, „ich weiß von ihm. Und von deiner kleinen Mission."
Er hatte sich nicht getäuscht. Seine eigene Mutter hatte nach wie vor nichts für die Grisha übrig. Oft hatte sie ihm damit in den Ohren gelegen, den Kleinen Palast zu verlassen und stattdessen mit ihr umherzuziehen. Hatte sie den Fährtenleser umgebracht? Zuzutrauen war es ihr. „Was hast du mit ihm gemacht?"
„Dafür gesorgt, dass er verschwindet." Arroganz und Selbstgefälligkeit troffen nur so aus ihrer Stimme. „Zusammen mit deiner Hoffnung, den Hirsch zu finden."
Glaubte sie wirklich, sie könnte sein Vertrauen in eine bessere Zukunft, in der die Grisha geschützt vor Verfolgung waren, zerstören? Mit ihren nächsten Worten warf sie ihm Gier vor. Das unauslöschliche Verlangen nach Macht.
„Du willst Alina gegen den Rest der Welt einsetzen."
Hatte die alte Frau völlig den Verstand verloren? Wieso begriff sie nicht, worum es ihm wirklich ging? „Du meinst, gegen unsere Feinde." Gegen alle Otkazat'sya, die eine Gefahr für die Grisha bedeuteten. Die möglicherweise in diesem Augenblick schon das Leben der Sonnenkriegerin bedrohten. Marie war bereits an ihrer Stelle getötet worden. Es gab zu viele Menschen, die davon profitierten, wenn Alina starb, denn sie war Ravkas Zukunft. Er selbst dagegen unwichtig. Das sagte er auch seiner Mutter.
Baghra lächelte nur milde. „Aber wo ist sie?" Sie hob ein wenig das Kinn und schaute ihn herausfordernd an. Wie die alte Hexe, die schon immer nur an ihrem eigenen Wohl interessiert war. Sie hatte nie seine Visionen geteilt.
Kirigan gestand es sich endlich ein, dass tatsächlich seine bluteigene Mutter für das Verschwinden der Sonnenkriegerin verantwortlich war. Damit stellte sie sich nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen alle Grisha in Ravka, wenn nicht sogar in der Welt. „Sei vorsichtig. Auch du bist jetzt nicht mehr von Belang. Und wenn sie durch dich in Gefahr ist, dann überleg dir, was ich tun könnte."
Sie verspottete ihn nur. In ihren Augen war er noch immer der ängstliche Junge, der sich vor der Dunkelheit fürchtete und ohne ihre Hilfe aufgeschmissen war. Er drehte sich verärgert um und lief zurück zu seinen Gemächern. Was mit seiner Mutter geschah, würde er später entscheiden. Sie hatte auf jeden Fall bewiesen, dass sie nicht länger tragbar war. Um den Verbrecher, der sich in den Kleinen Palast eingeschlichen hatte, würde er sich in einigen Stunden kümmern. Erst benötigte er einen klaren Kopf.
Vor seinen Gemächern erwartete ihn bereits Ivan. „Wir haben den Mörder gestellt und bis zur Vernehmung im Kerker untergebracht."
Kirigan nickte und winkte seinen getreuen Entherzer zu sich in das Kriegszimmer. „Er muss warten. Unsere Sonnenkriegerin ist verschwunden."
Die Augen des Mannes weiteten sich. „Entführt?"
„Gut möglich." Er brauchte noch nicht die Wahrheit zu wissen. Außerdem durfte nicht zu den Grisha durchdringen, dass Alina möglicherweise freiwillig davongelaufen war. Er würde ein Gerücht über ihren Verbleib in die Welt setzen, sowie er mehr in Erfahrung gebracht hatte. „Schick bitte Katharina zu mir. Vielleicht ist ihr etwas aufgefallen. Genya kann uns vermutlich nicht weiterhelfen, nehme ich an."
„Sie steht noch unter Schock und wusste nur zu berichten, dass sie außer dem Mörder niemanden dort gesehen hat. Ina ist im Moment bei ihr."
„Dann soll sie später zu mir kommen. Das ist alles für jetzt, Ivan." Der Entherzer neigte respektvoll den Kopf und lief zur Tür. „Ach Ivan, verrate niemandem, dass unsere Sonnenkriegerin verschwunden ist. Wir möchten keine Panik heraufbeschwören."
„Sehr wohl, moi Soverenyi." Der Mann schloss die Tür und ließ Kirigan mit seinen Gedanken allein.
Baghra. Niemals hätte er erwartet, dass sie sich gegen ihn stellen würde. Erst recht nicht in solch einer wichtigen Angelegenheit. Wem konnte er noch vertrauen, wenn selbst seine eigene Mutter ihn hinterging? Er ballte die Fäuste. Am Morgen hatte er noch geglaubt, alles unter Kontrolle zu haben und der Erreichung seiner Pläne so nah wie nie zu sein, und jetzt war alles wie ein Kartenhaus in sich zusammengestürzt. Er fing an, im Raum hin und her zu wandern. Ein eingesperrtes Raubtier, das nach einem Moment in Freiheit wieder hinter Gittern gelandet war.
„Ihr wolltet mich sprechen, moi Soverenyi?" Katharina trat ein. Ihre Miene verriet nicht, woran sie dachte, doch ihr distanziertes Verhalten überraschte ihn. Der Kuss am Morgen schien in einem anderen Jahrhundert passiert zu sein.
Alina.
Die Heilerin hatte ihn auf dem Fest mit der Sonnenkriegerin gesehen. Möglicherweise den Augenblick beobachtet, wie er ihr die Blumen reichte und sie davon führte. Er räusperte sich, wies mit einer einfachen Geste seiner Hand einladend auf einen der Stühle am Tisch. „Nimm doch bitte Platz, Katharina."
Sie senkte den Blick und schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht viel Zeit. Nicht nur Genya benötigt jetzt meine Gabe. Es spricht sich bereits herum, dass Marie getötet wurde. Nadia und Sergei hat der Verlust schwer getroffen."
Löblich von ihr, dass sie sich um die anderen Grisha sorgte. Doch ihm kam es so vor, als ob sie nur einen Vorwand suchte, sich alsbald zurückzuziehen. Um vor ihm zu fliehen. „Sie werden sich gedulden müssen. Nun berichte mir, ob dir etwas auf dem Fest aufgefallen ist. Dir ist doch etwas aufgefallen", hakte er nach.
„Eine Suli. Sie hat erst bei der Treppe ihre akrobatischen Künste gezeigt. Später dachte ich, sie in der Uniform der Oprichniki gesehen zu haben. Bei ihr war ein Mann, der mir ebenfalls noch nie bei den Wachen aufgefallen ist."
„Eindringlinge?" Kirigan ballte die Fäuste. Hatten Wachleute den Fremden geholfen? Es konnte doch kein Zufall sein, dass sich mindestens drei Personen Eintritt verschafft hatten.
„Ich vermute es." Erneut schüttelte sie bedächtig den Kopf. „Ich wollte nicht für Chaos sorgen und bin deshalb zu Ivan, um ihn zu informieren. In der Zwischenzeit müsste ihnen zumindest Pavel gefolgt sein, wenn nicht sogar Polina."
Jemand stieß die Tür zum Kriegsraum auf. Sein getreuer Entherzer, dessen Miene verbitterter als sonst schien. „Moi Soverenyi, Pavel wurde tot in der Kapelle aufgefunden. Jemand hat ihn hinterrücks umgebracht." Ivan zeigte ihnen eine blutige Klinge. „Er hat gegen einen der Eindringlinge gekämpft. Ein Zweiter hat das Messer von der Empore aus geworfen."
Kirigan wandte sich Katharina zu. „Du sagtest, dass im Laufe des Abends eine Akrobatin verschwunden ist. Dann sollten wir die Schausteller befragen. Ivan, mit mir." Die Heilerin machte Anstalten, ebenfalls den Raum zu verlassen. Kirigan hielt sie auf. „Du bleibst hier."
„Ich kann helfen." Sie versuchte, sich an ihm vorbei zu drängen.
„Ich wiederhole mich nicht gern, Katharina." Er suchte den Blickkontakt zu ihr. Erleichterung flutete seinen Körper, als ihr Widerstand in sich zusammenbrach. „Ich möchte nicht, dass dir auch noch etwas zustößt." Das war nicht einmal gelogen. Erneut beruhigte ihre Nähe seine angespannten Nerven. Er fühlte sich gleichsam zu Alina und zu Katharina hingezogen, obwohl nur Erstere ihm ebenbürtig war. Und dennoch, sollte die Sonnenkriegerin sich als unkooperativ erweisen, würde er sie zum Gehorsam zwingen. Anders die junge Frau vor ihm. „Bleib, bitte", wisperte er ihr zu. Ihr zögerndes Nicken reichte ihm. Zufrieden drehte er sich zur Tür. Katharina würde sich nicht davonstehlen, vergiftet von den Worten seiner hasserfüllten Mutter, die ihn nie geliebt hatte. Vielleicht, weil die junge Heilerin tiefere Gefühle für ihn hegte. Bevor er den Raum verließ, sah er noch einmal über die Schulter zurück. Am Bücherregal stehend musterte sie die alten Buchrücken. Einen Moment zögerte er. Auch Abschriften der Forschungen seines Großvaters standen dort. Sollte er sie wirklich allein hier zurücklassen?
„Moi Soverenyi? Soll ich die Befragung der Schausteller übernehmen?"
„Nein, Ivan, ich komme schon." Er zog die Tür hinter sich ins Schloss. „Gebt acht, dass niemand in meine Gemächer eindringt", wies er die Wachen an, bevor er mit dem Entherzer nach draußen eilte. Auf noch eine Überraschung an diesem Abend konnte er verzichten.
Die Schausteller wussten zu berichten, dass sich ihnen drei Männer und eine Frau in Kribirsk angeschlossen hatten. Die Suli eine hochbegabte Akrobatin und der Zemeni ein begnadeter Schütze. Diese zwei erhielten einen Platz in der Truppe, um die Gäste des Zaren mit ihren Künsten zu erfreuen. Die anderen beiden Männer aus Kerch begleiteten sie auf der Reise nach Os Alta, wobei der Jüngere auf einen Stock angewiesen war.
Vier Gegner. Nur einer von ihnen in seinem Gewahrsam. Kirigan ballte die Fäuste. Die anderen drei hatten erst Pavel getötet und dann Alina entführt, die nur aufgrund der verlogenen Worte Baghras seine schützenden Gemächer verlassen hatte.
„Besorge mir mehr Informationen über die Begleiter des Mörders, bevor wir ihn mit unserem Wissen konfrontieren. Ich vermute, dass es sich bei ihm um den Dirigenten handelt. Leider wissen wir nicht, wo Nina Zenik sich gerade aufhält, aber die Beschreibung, die ich von ihr in einem Bericht erhalten habe, kommt hin. Sie sollte ihn und drei Leute aus Kerch durch die Flur begleiten. Finde heraus, wer unsere drei Unbekannten sind." Kirigan wandte sich ab und lief zurück zu seinen Gemächern. Vielleicht konnte Katharina ein wenig den Stress des Tages lindern.
Er stieß die Tür zum Kriegsraum ein. Stille begrüßte ihn. Er ließ seinen Blick in alle Ecken gleiten. In der Hoffnung, dass die Heilerin es sich irgendwo mit einem Buch gemütlich gemacht hatte. Nichts. Er nestelte an seinem Kragen, der ihm plötzlich eingelaufen erschien. Hatte eine weitere Frau ihn einfach wortlos verlassen? Mit weiträumigen Schritten lief er hinüber in sein Schlafgemach. Dort erwartete ihn ein friedliches Bild. Das Licht des Mondes schien auf sein Bett, auf dem Katharina lag. Ihre Kefta hing fein säuberlich über einem Stuhl, die Stiefel standen am Fußende. Er beugte sich über die Frau, um ihr einen Kuss auf die Schläfe zu hauchen, besann sich kurz bevor seine Lippen ihre Haut berührten eines Besseren. Bei ihr würde er keinen Fehler begehen.
Er nahm das Buch, das ihr entglitten war, und legte es auf den Nachttisch. Fasziniert beobachtete er, wie der Mond die junge Frau in seinen sanften Schein hüllte. Es kam ihm fast so vor, als hörte das Licht auf sie wie die Schatten auf ihn. Wie einfach wäre es, wenn es jemanden gab, der das Mondlicht beschwören konnte. Dann wäre er nicht auf eine widerspenstige Sonnenkriegerin angewiesen. Doch weder die Prophezeiungen noch die Legenden sprachen von einer Mondbeschwörerin. Es war nur ein schöner, aber nutzloser Traum.
Kirigan setzte sich in den Sessel und betrachtete versonnen die Heilerin. Ruhe stellte sich ein. Sämtliche Anspannung floss von ihm ab. Tief durchatmend schloss er die Augen. Wenn er seinen Plan erfolgreich in die Tat umgesetzt hatte, würde er die Empfehlungen seiner Mutter ein für alle Mal in den Wind schießen. Auch wenn andere Grisha nicht so lange lebten wie er oder Alina, würde er wieder jemanden in sein Herz lassen.
*****
Alina ist weg, Katharina ist noch da. Nur wie lange bleibt diese bei Kirigans Verhalten?
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