Kapitel 10


Nachdenklich stand Kirigan an einen Baum gelehnt und beobachtete die kläglichen Versuche seiner Sonnenkriegerin, im Kampf gegen Botkin zu bestehen. Sie lag mehr im Dreck, als dass sie sich auf beiden Füßen hielt. Doch nicht nur im Zweikampf machte sie lediglich schleppend Fortschritte. Seine Mutter wurde es nicht müde, ihn darauf hinzuweisen, wie kraftlos die junge Frau war. Dass er sein Ziel, ein besseres Ravka für alle Grisha zu erschaffen, aufgeben sollte. Sie wünschte die Zeit zurück, in der sie zusammen durch das Land gestreift waren. Bevor es die Schattenflur gab. Er atmete tief durch. Die Vergangenheit kam nicht zurück. Das tat sie nie.

„Ohne Kräftemehrer wird sie nie in der Lage sein, ihre Gabe sinnvoll einzusetzen." Ivan war neben ihn getreten, musterte die Sonnenkriegerin stirnrunzelnd.

„Etwas hält sie davon ab, ihre Kräfte voll zu entwickeln", kommentierte eine sanfte Frauenstimme hinter ihnen.

„Sie muss ihr vorheriges Leben loslassen. Wie es scheint, will sie nicht hierbleiben", knurrte der Entherzer.

„Kein Wunder nach dem Aufeinandertreffen mit Zoya und den Erwartungen, die alle hegen. Vor allem nach ihrer Demonstration vor dem Zaren." Katharina lief an ihnen vorbei. „Und sie hat Angst davor, dass Botkin sie ernsthaft verletzt, wage ich zu behaupten. Deshalb traut sie sich nicht, im Zweikampf härter vorzugehen."

„Wo willst du hin, Ina?" Ivan sah aus, als ob er der Heilerin hinterhereilen wollte.

„Lass sie." Zwei leise ausgesprochene Worte ließen den Mann innehalten.

„Moi Soverenyi?"

„Katharinas Gabe kann unserer Sonnenkriegerin helfen. Vielleicht dringt sie zu ihr durch." Kirigan beobachtete, wie die Heilerin mit Botkin sprach. Der Kampflehrer nickte und führte sie zu Alina, die ihr unsicher entgegensah. Letztere nahm auf Anweisung Kampfhaltung an und reagierte überrascht, dass ihre Gegnerin mit den Armen locker am Körper vor ihr stehenblieb. Sie straffte sich und musterte ihr Gegenüber. Wie um eine Schwachstelle zu suchen.

„Wenn sie glaubt, dass sie mit Ina leichtes Spiel hat, täuscht sie sich", brummte Ivan. „Sie ist Ina niemals gewachsen."

„Katharina ist keine Heilerin, nicht wahr?" Kirigan bemerkte aus dem Augenwinkel, wie der Mann zusammenzuckte. „Die Art, wie sie kämpft und wie leicht sie auf die Fähigkeiten der Entherzer zugreifen kann, ist erstaunlich."

„Zu dem Schluss sind Fedyor und ich nach dem Angriff auf Eure Kutsche ebenfalls gekommen, moi Soverenyi."

„Und doch habt ihr zwei es mir verheimlicht." Kirigan wandte sich ihm zu. „Warum?"

Ivan atmete tief durch. „Ina möchte nicht kämpfen und wir möchten sie nicht verlieren. Fedyor sieht in ihr eine Art kleine Schwester."

„Und du ebenfalls." Kirigan drehte sich schmunzelnd weg, beobachtete, wie Alina nun Katharina kämpferisch umrundete. Botkin rief ihr den Befehl zu, anzugreifen. Die Sonnenkriegerin schnellte vor und landete gleich darauf auf dem Boden. Die Heilerin war simpel ausgewichen und hatte den Schlag geblockt. Die Wucht riss ihre Gegnerin von den Füßen. Verwirrt sah seine Ebenbürtige zu der sanftmütigen Frau auf, die ihr lächelnd den ausgestreckten Arm hinhielt und sie zurück in den Stand zog. Das Spiel wiederholte sich noch zwei weitere Male. Dann forderte Katharina Botkin zu einem Kampf auf. Der Trainer nahm die Herausforderung an. Alina trat zur Seite, überließ der erfahreneren Grisha den Kampfplatz. Andere Trainierende scharrten sich um das ungleiche Paar. Kirigan beobachtete alles gelassen. Er erwartete nicht, dass die Frau es mit dem alten Shu aufnehmen konnte. Doch schnell bewies sie, was in ihr steckte. Geschickt wich sie Tritten und Schlägen aus, teilte ihrerseits einige Stöße aus, die den Mann schließlich in den Staub schickten.

„Sie ist wirklich keine Heilerin", kommentierte Ivan ihr Verhalten, als sie sich respektvoll vor dem Kampflehrer verneigte. Sie nahm Alina mit zum Rand des Trainingsplatzes, schien eindringlich auf sie einzureden. Kirigan versteifte bei dem Anblick. Was erzählte sie der jungen Frau? Er konnte es nicht gebrauchen, dass jemand die Sonnenkriegerin ablenkte. Misstrauisch folgte er Katharina mit seinen Blicken, bis sie nach einer gefühlten Ewigkeit zu ihm und Ivan zurückkehrte. „Worüber habt ihr geredet?"

„Sie vermisst ihren besten Freund und fühlt sich im kleinen Palast verloren. Wie ich es mir schon dachte. Außerdem gibt sie sich die Schuld, dass Grisha und Otkazat'sya beim Angriff der Volcra getötet wurden." Katharina lächelte sanft. „Sie hat zugegeben, dass sie die Karte verbrannt hatte, um zu ihrem Freund auf das Skiff zu gelangen."

„Ihr Freund. Du redest von dem Fährtenleser?"

„Sie sind zusammen im Waisenhaus von Keramzin aufgewachsen. Als Halb-Shu hatte sie wohl nie viele Freunde. Da hängt sie an jedem, der sie nicht schlecht behandelt hat." Die Heilerin zuckte mit den Schultern. „Sie sagt, er antwortet nicht auf ihre Briefe. Habt Ihr damit etwas zu schaffen, moi Soverenyi?" Erkenntnis lag in ihrem Blick. Sie wusste, dass er Alina die Post vorenthielt und ihre Schreiben ebenfalls abfing.

„Das sind schwere Anschuldigungen, Katharina." Kirigan ließ eine Pause fallen. „Ich werde über dein Verhalten hinwegsehen, wenn du dich dafür von der Sonnenkriegerin fernhältst. Sie benötigt Führung, keine Ablenkungen."

„Es wird ihr nicht gefallen, wenn sie die Wahrheit erfährt." Die Heilerin verschränkte die Arme vor der Brust, starrte ihn mit trotzig erhobenem Kinn an.

„Vorsichtig, Katharina. Ich weiß, was du in Wirklichkeit bist. Nicht die kleine Heilerin, die du vorgibst zu sein." Er genoss die Furcht, die kurz in ihren Augen aufblitzte. Wenn sie sich nicht freiwillig auf seine Seite stellte, musste er sie dazu zwingen. „Entherzer werden immer an der Front oder allgemein im Grenzgebiet benötigt. Wenn du dich meinen Befehlen widersetzt, sehe ich mich dazu gezwungen, dich dort einzusetzen. Du bist eine Soldatin im Dienst der Zweiten Armee und unterstehst meinem Befehl, vergiss das nie."

„Moi Soverenyi." Sie presste die Lippen aufeinander, drehte sich um und lief zurück zur Grishaschule.

„Ich werde dafür Sorge tragen, dass sie sich angemessen verhält, General." Ivan schaute ihr wehmütig hinterher. „Bitte schickt sie nicht in den Kampf. Sie gehört nicht dorthin. Bei den Kindern fühlt sie sich wohler."

„Das hängt ganz von ihrem Verhalten ab." Kirigan wandte sich zum Gehen. Er hatte für den Moment genug gesehen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie die Sonnenkriegerin sich mit hängenden Schultern vom Trainingsplatz schlich. Er musste sich eine Strategie zurechtlegen, wie er sie von ihren Gedanken an diesen lächerlichen Fährtenleser befreien und damit den Weg zu seinen Zielen ebnen konnte. Notfalls gaukelte er ihr Gefühle vor, die er seit langer Zeit nicht mehr wahrgenommen hatte. Wenn es das war, was sie ihre Vergangenheit vergessen ließ, würde er sie auch auf die Art manipulieren. Und was ihre fehlenden Kräfte anging, das würde sich mit einem von Morozovas Kräftemehrern ausgleichen lassen.

Der Hirsch, den Alina gezeichnet hatte, lebte irgendwo im Grenzgebiet zu Fjerda. Ein Bote sollte für ihn zur Ersten Armee in Chernast reiten und eine Nachricht überbringen. Nach den neuesten Informationen war die Einheit des Fährtenlesers, dem die Sonnenkriegerin schrieb und dessen Fähigkeiten sie in Gesprächen mit Genya anpries, unterwegs zu dem Außenposten. Wenn er wirklich so hervorragend war, wie sie behauptete, könnte es vielleicht ihm gelingen, das Tier aufzuspüren. Die Erwähnung, dass demjenigen, der den Hirsch fand, ein Besuch im Kleinen Palast winkte, sollte Motivation genug sein. Laut den Schreiben, die der Soldat Alina schickte, vermisste er sie genauso wie sie ihn.

Ein Lächeln schlich sich auf Kirigans Gesicht. Er hatte nicht vor, ein Wiedersehen zwischen den beiden zu arrangieren. Wenn der Fährtenleser den Hirsch fand und ihm davon berichtete, würde er ihn ausfragen, was Alina gefiel. Nachdem er alle benötigten Informationen besaß, würde er den Mann verschwinden lassen. War erst einmal genug Zeit verstrichen, dass sie keinen Brief von ihm erhielt, würde sie verstehen, dass die unzuverlässigen Otkazat'sya keinen Platz in ihrem Leben hatten.

*****

Einige Tage später gab er Genya den Auftrag, mit einer neuen Kefta zu Alina zu gehen. Wenn die Sonnenkriegerin seine Farbe akzeptierte, bedeutete es einen Schritt in die richtige Richtung. Trug sie ihre blaue Kefta, wusste er, dass er sich ihr Vertrauen härter erarbeiten musste. Dabei half nicht, dass er als Anführer der zweiten Armee zwar den Respekt all seiner Grisha besaß, aber gleichzeitig dank seiner einzigartigen Gabe ein Ausgestoßener blieb. Dass sie sich als Lichtbeschwörerin ebenfalls als Außenseiterin sah, könnte ihm in die Hände spielen. Ein gemeinsamer Ausritt mit einigen wohlplatzierten Worten würden dafür sorgen, dass sie sich ihm verbunden fühlte.

So wartete er wenig später mit zwei Pferden vor dem Gebäude. Seinen Rappen und für sie ein Schimmel. Als Zeichen, dass er die Dunkelheit und sie das Licht repräsentierte. Zu gern hätte er Katharinas Pferd genommen, doch das weigerte sich vehement, einen anderen Reiter auf den Rücken zu akzeptieren als die Heilerin.

Als die Sonnenkriegerin endlich aus dem Kleinen Palast trat, spürte er einen Stich in der Brust. Sie trug die blaue Kefta. Gefiel ihr sein Geschenk nicht? Seiner Enttäuschung zum Trotz begrüßte er sie mit einem Lächeln. Ihre Weigerung zeigte zu deutlich, dass er sie für sich gewinnen musste. Auf seine höfliche Bemerkung, dass sie ihre normale Kefta gewählt hatte, bezeichnete sie Schwarz als seine Farbe und ließ durchschimmern, dass sie sich nicht noch mehr von den anderen Grisha abheben wollte. Deutlicher konnte sie nicht darauf hinweisen, dass sie sich einen Verbündeten wünschte. „Nenn mich Aleksander." Er hoffte, sie mit diesem kleinen Vertrauensbeweis und der Befreiung von der Pflicht, ihn zu siezen, aus ihrer selbstgewählten Isolation zu holen.

Am Ziel dieses Ausflugs – am alten Brunnen – erzählte er ihr von dem verzweifelten Jungen, der unter den grausamen Taten seines Vorfahren zu leiden hatte und seine Gabe hasste. Voller Mitgefühl hörte sie zu. Ein naives, junges Ding, dass nicht bemerkte, wie gewählt er die Worte nutzte, um ein Gleichnis zu ihrer Situation aufzubauen. Die Frau, die ihrer Begabung wegen den Erwartungen des Volkes verabscheute und lieber ein unauffälliges Leben als Kartografin weiterführte. Demgegenüber das Kind, das seine Kräfte fürchtete, weil sie denen des Schwarzen Ketzers ähnelten. Zwei Menschen, die jemand anderes sein wollten. Seine Worte verfehlten nicht ihre Wirkung. An Alinas Augen las er ab, wie das Verständnis für seine Situation wuchs und das Band zwischen ihnen erstarkte. Exzellent! Schon bald würde er seinen Plan in die Tat umsetzen können. Der Thron gehörte ihm und seine Grisha würden endlich für all ihre Mühen mit einem sorgenfreien Leben belohnt werden. Vorbei die Zeit, in der sie für ihre Begabungen verfolgt wurden. Ein neues Zeitalter stand ihnen bevor. Eines, in dem er als strenger und gleichzeitig gerechter Herrscher über ganz Ravka regierte.

*****

Ups, da war Kirigan wohl ein wenig sauer auf Katharina. Jetzt soll sie sich unbedingt von Alina fernhalten. Der und sein Misstrauen immer ...

Ist er nicht süß, wie er sich die Zukunft ausmalt? Wenn der wüsste, was ihm bevorsteht ...

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