Kapitel 1


General Kirigan fuhr von seinem Nachtlager hoch. Schweiß stand ihm auf der Stirn, rann seinen Nacken herab. Von der Schwüle der Nacht oder dem Traum, der ihn heimgesucht hatte. Er schüttelte den Kopf, wischte verärgert mit dem Handrücken die Tropfen weg. Er hatte keine Zeit für die Alpträume einer längst vergangenen Epoche. Das Mädchen war vor Jahrhunderten gestorben. Vor so vielen Jahren, dass er sich nicht mehr erinnerte, ob es ihn damals bei seinem echten Vornamen genannt hatte. Oder ob es sich um einen Streich seines Gehirns handelte, damit er seinen wahren Namen trotz des immerwährenden Versteckspiels nicht vergaß. Er atmete tief durch, schaute zu dem flackernden Licht auf dem Tisch. Es malte Schatten auf die Schriftstücke, die dort ausgebreitet wie ein Fächer lagen. Karten von Ravka, den Grenzgebieten, dazu widersprüchliche Marschbefehle.

Der Zar war ein Kind, das nicht wusste, wo es zuerst spielen wollte. Oder besser, wohin er die erste und die zweite Armee schickte. Ein unendlicher Kampf gegen die Bedrohungen aus dem Süden, aus Shu Han, wo Grisha als Forschungsobjekte seziert wurden. Und gegen Angriffe aus dem Norden, aus Fjerda. Von den Monstern, die jeden, der kein Otkazat'sya war, zum Eistribunal verschleppten, verurteilten und dann lebendig verbrannten. Barbaren, beide Völker.

Die Menschen der umliegenden Länder hassten Grisha und doch flohen diese bei Zeiten aus Ravka, um dem Krieg zu entgehen. Der General knurrte, strich sich durch die verschwitzten Haare und stand abrupt auf. Wenn er den Dirigenten in seine Hände bekam, würde er den Mann um Gnade winseln lassen, bevor er ihn wie eine Laus zerquetschte. Wie das Ungeziefer, das ihn und seine Grisha mit leeren Versprechungen aussaugte. Die Fliehenden waren nirgends sicherer als im kleinen Palast, den er zu ihrem Schutz hatte erbauen lassen. Vor kurzem waren erst zwei vielversprechende Durasten verschwunden. Es wurde Zeit, dass er ein Exempel statuierte. Nach diesem Einsatz an der Front.

Er trat ins Freie, atmete die schwüle Luft ein, die vom Tage hängengeblieben war. Seine Augen benötigten einen Augenblick, um sich an das Licht einiger flackernder Lampen zu gewöhnen. Die Dunkelheit störte ihn weniger. Dank seiner Gabe sah er auch in der Nacht hervorragend. Es gab Momente, da hatte er sich ohne Lichtquelle gefürchtet, doch diese waren längst vorbei. Nichts mehr als eine schwammige Erinnerung an eine Zeit, in der die Grisha in Ravka erbarmungslos gejagt wurden. Gehetzt wie Tiere, verflucht, verachtet. Dabei waren die Heiligen der Otkazat'sya nichts anderes als mächtige Grisha, die man nach ihrem Märtyrertod verehrte. Erst nach ihrem Tod schätzten diese erbärmlichen Kreaturen sie. Er brummte unzufrieden. Trotz der Schattenflur und der Nutzen seiner Soldaten, der zweiten Armee, stellte ihn die Lage nicht zufrieden. Er sehnte sich danach, die Kriege ein für alle Mal zu beenden und die Feinde Ravkas im Staub zitternd vor ihm liegen zu sehen.

Vom Rande des Lagerbereichs, der den Grisha vorbehalten war, drangen Stimmen an sein Ohr. Eine helle, erschreckt klingende Frauenstimme und der dunkle, lauernde Ton eines Mannes. Alkoholgeschwängert von zu viel Kvas. Der General knurrte leise und ballte die Fäuste. Wagte es ein dreckiger Soldat der ersten Armee, eine Grisha zu belästigen? Entschlossen folgte er den Geräuschen, um dem Übergriff ein Ende zu setzen.

Lautlos lief er über den vom Lagerleben in Staub verwandelten Boden. Seine Schatten eilten ihm voraus, huschten zuckend auf den Unruhestifter zu, der ihm den Rücken zuwandte und die Frau, die vor ihm stand, von Blicken abschirmte.

„Ich bin kein Armeeliebchen." Ihre Stimme zitterte vor Furcht. Kirigan blieb stehen. Sie war keine Grisha, zumindest keine im Kleinen Palast ausgebildete. Selbst Durasten und Heiler lernten dort, sich nur durch Körpereinsatz zu wehren. Nie würde eine von ihnen so viel Furcht zeigen. Außer ... Er schob den Gedanken an Genya zur Seite. Sie stellte die Augen und Ohren aller Grisha im Zarenpalast dar. Ihr Leid hatte einen höheren Sinn, war notwendig für das Überleben aller.

„Genau deshalb will ich dich, Püppchen." Der angetrunkene Soldat trat einen Schritt auf sie zu, zwang sie weiter rückwärts. „Weil du nicht für jeden Armeeangehörigen und vor allen nicht für diese widerwärtigen Hexer die Beine breitmachst."

Hexer. Kirigan spürte, wie die Wut langsam in ihm aufstieg. Leise brodelnd, ihn von innen heraus verbrennend. Die Ausläufer seiner Schatten zuckten, formten sich zu Klauen und Krallen, um sich auf den Mann zu stürzen und ihn zu zerfetzen. Seit Jahrhunderten kämpften die Grisha an der Seite der Soldaten des Zaren im Kampf gegen die gemeinsamen Feinde, retteten die Otkazat'sya vor dem sicheren Tod. Doch noch immer war es nicht genug. Würde es nie sein. Die Menschen blieben ignorant und undankbar. Bauerntölpel, die an ihren Vorurteilen festhielten, als ob diese ihnen die einzige Sicherheit in ihrem Leben boten. Eine Gewissheit, dass diejenigen, die eine Gabe besaßen, sich allesamt der dunklen Magie verschrieben hatten. Törichte Sterbliche.

Ein Schrei lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf das Geschehen. Die junge Frau war über eine Zeltschnur gestolpert und lag nun wie eine Schildkröte hilflos auf dem Rücken.

„Du legst dich schon für mich hin? Sehr zuvorkommend von dir." Der Soldat fummelte an seiner Hose herum.

„Einen Schritt näher und ich schreie." Sie rutschte im Staub vor ihm weg, doch er machte ihre Bemühungen mit zwei Schritten zunichte.

„Wer sollte dir helfen? Für die zweite Armee bist du genau wie wir alle nur Dreck an den Stiefeln." Er spie in den Sand aus. „Verdammte Hexer. Mögen die Heiligen sie auf einen Schlag töten. Nur ihretwegen sind mir mit Fjerda und den Schu im Krieg. Der Zar soll denen diese widerwärtigen Kreaturen endlich überlassen und uns damit den Frieden schenken."

Kirigan hob eine Braue. Töten durfte er den Mann für seine Worte nicht, aber vielleicht reichte es, ihn in Angst und Schrecken zu versetzen, damit er wie ein kleiner Junge davonlief.

„Keiner von ihnen rührt für uns auch nur den kleinen Finger. Selbstverliebtes Pack. Von denen kommt dir keiner zu Hilfe. Also komm her, Püppchen."

„Und warum nicht?", erklang eine melodische ruhige Männerstimme nur wenige Schritte entfernt. Ein Schemen löste sich aus den Schatten, stellte sich schützend vor die am Boden liegende Frau. Das Rot der Korporalki war selbst im fahlen Licht deutlich erkennbar.

Der Soldat der ersten Armee wich zurück, als er erkannte, dass er es mit einem Entherzer zu tun hatte. Die Furcht schien ihn zu packen, als Fedyor die Hände zu einer Geste hob, die jedem Armeeangehörigen bekannt war. „Willst die Puppe wohl für dich. Kannst sie haben. Ist mir eh ein wenig zu mager." Er trat den Rückzug an, zog sich eilig in das Lager seiner Einheit zurück.

„Du hilfst einer Otkazat'sya?" Ein zweiter Mann baute sich neben dem ersten Entherzer auf, überragte ihn ein Stück. Ivan zeigte seine Abneigung deutlich. „Wenn sie sich zu verteidigen lernte, bräuchte sie deine Hilfe nicht. Doch sie bleibt lieber ein Schwächling, statt für sich selbst einzustehen." Worte, an die Kirigan selbst schon gedacht hatte, um die Unbekannte in seinen Gedanken zu charakterisieren.

„Keine Frau sollte so behandelt werden, weder Grisha noch Otkazat'sya." Fedyor wandte sich ihr zu und streckte ihr den Arm hin, um ihr aufzuhelfen. Sie ergriff seine Hand und ließ sich von ihm hochziehen.

„Ich danke Euch für Eure Hilfe", richtete sie ihre sanft klingende Stimme, aus der sämtliche Furcht verschwunden war, an den Entherzer. „Zürnt ihm nicht", sprach sie an Ivan gewandt. Dabei berührte sie ihn am Handgelenk. „Ihr könnt Euch glücklich schätzen, dass er der Eure ist." Ihre Worte sänftigten seinen Zorn. Oder war es die Berührung. Eine Grisha, die den Tests als Kind entgangen war? Warum hatte sie ihre Gabe dann nicht bei dem Soldaten eingesetzt? Kirigan runzelte die Stirn. Er machte einen Schritt vorwärts. Die Unbekannte ließ Ivan abrupt los und verschwand leichtfüßig in den Schatten. Die Dunkelheit verschluckte sie, als ob sie nie da gewesen war.

Einen Augenblick überlegte Kirigan, ob er sich zurückziehen sollte, doch seine treuen Korporalki hatten seine Anwesenheit längst gespürt, seinen vertrauten Herzschlag gehört. Er trat aus seinem Versteck hervor und lief auf die zwei Männer zu.

„Moi Soverenyi", grüßten beide ihn und nahmen Haltung an. „Nur eine Otkazat'sya, die von einem Betrunkenen belästigt wurde", fügte Fedyor hinzu. „Nichts, worüber man sich Gedanken machen müsste."

„Betrunkene sprechen die Wahrheit," erwiderte Kirigan, „oder sagen zumindest das, was sie für die Wahrheit halten."

„Sie werden uns nie als gleichwertig ansehen, obwohl wir in ihren Kriegen sterben", ergänzte Ivan, die Stimme bitter von den Verlusten, die er erlitten hatte. Familienmitglieder und Freunde, die für Ravka gefallen waren. Kirigan ballte die Fäuste. Es war an der Zeit, dass jemand den Kämpfen ein Ende bereitete.

*****

Was meint Ihr? Ist die Unbekannte eine Grisha? Oder war es nur Zufall, dass Ivan sich beruhigte?

Ist Fedyor nicht wieder ein Schatz? Einer meiner absoluten Lieblinge aus der Serie. Ich bin froh, dass er dort - im Gegensatz zu den Büchern - nur verschollen gilt.

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