8. Giersch und Rauke
Als der Fuß des Nordturmes in Sichtweite kam, ging sie langsamer. Ihre Seite hatte zu stechen begonnen; die Sidhe piksten sie mit ihren unsichtbaren Lanzen, weil sie nicht mochten, dass sie wie ein Pferd über den Weg galoppierte. Denn im Untergrund lagen ihre silbernen Hallen, so hatte Finnguala es ihr immer erzählt. Dass das Schöne Volk auch hier, direkt unter ihrem Turm, in der Erde residierte, hatte sie nicht gewusst. An anderen Tagen wäre sie von dieser Erkenntnis vor Ehrfurcht erbebt, aber heute beeindruckte es sie nicht.
"Lasst mich in Ruhe", stieß sie wütend aus, hielt sich die schmerzende Seite und stampfte noch einmal so kräftig auf, "ihr alle zusammen, unter und über dem Gras."
Sie umrundete den Turm bis zu der Seite, die gegen Norden wies. Dann hielt sie an und blickte zum schmalen Fenster ihrer Kammer hinauf. Dort oben stand noch immer die Klappe offen. Einen Moment lang bereute sie, nicht in ihre dunkle Höhle zurück, sondern aus der Halle hinaus und nach draußen gelaufen zu sein. Sie hatte ihren Umhang nicht dabei. Der Morgenwind durchdrang das Gewebe ihres Gewandes, und zu allem Unglück begannen auch noch erste Regentropfen ihre Stirn zu sprenkeln. Sie hätte da oben den mächtigen Türriegel vorschieben und sich ein gemütliches Feuer machen können. Und auf Finnguala warten, die ihr sicher den Kopf zurecht gerückt und ihr dann in ihrer Wut und Traurigkeit Gesellschaft geleistet hätte. Keine Meara, keine Nula, dachte sie, ignorierte das Seitenstechen und begann in den Dunst hinein zu laufen, der über den Weiden lag.
Der innere Wall erhob sich vor ihr aus dem Nebel. Die Wächter standen dort oben unbeweglich beieinander und schauten zu ihr herüber. Sie schienen sie gesehen zu haben, aber niemand öffnete das Tor. Man würde sie nicht hinaus lassen, diesmal nicht. Dass sie daran nicht gedacht hatte! Cormac hatte Order gegeben, auf sie zu achten.
Ihr graugrün verblichenes Gewand war fleckig vom Wiesentau, das dünne Leder ihrer Schuhe durchnässt und die Haare zerwühlt von der Nacht - ganz sicher war dies kein Morgen, an dem ihre Königswürde ihr voraus leuchtete. Gerade jetzt, wo es galt, dass sie sich durchsetzte, kam sie wie eine Ziegenhirtin daher! Entschlossen hob sie das Kinn und fixierte die Wachen mit festem Blick. Und wenn ihre Haare voller Dornen und Gestrüpp wären und sie jede Nacht auf dem Waldboden schlafen würde - sie war und blieb die Tochter des Hochkönigs! Sie war Cormacs und Eithnes Spross und keinesfalls geringer als ihr Bruder. Auch Cian würde noch merken, dass er nicht der einzige war, der sich entwickelt hatte, sie war kein kleines Kind mehr. Mutig setzte sie einen Schritt vor den anderen und versuchte nicht daran zu denken, dass man sie beobachtete und wohl auch über sie sprach.
Erst, als sich die hoch aufragenden Speerspitzen und die Gesichter der Wächter deutlicher aus dem Nebel heraus arbeiteten, entdeckte sie die Frauen, die mit ihren Körben ebenfalls Richtung Tor unterwegs waren. Sie hatten den festgetretenen Weg entlang des Walls genommen. An langen Stricken führten sie ein paar grauborstige Schweine mit sich.
Diese Frauen kamen wie gerufen! Gráinne beeilte sich, zugleich mit ihnen am Tor anzukommen. Als man ihnen öffnete, um sie hinaus zu lassen, drängte sie vorwärts und versuchte zwischen sie zu gelangen. Da rief der Wächter mit dem Bart von oben herab: "Halt, Gráinne! Du bleibst hier."
Zwei jüngere Frauen blieben stehen und wandten sich neugierig zu ihr um. Die anderen drei zogen bereits weiter.
"Warum darf ich nicht hinaus?", rief Gráinne nach oben, "Mein Bruder ist heute schon heimgekehrt, wisst ihr das denn nicht? Es ist keine Zeit. Wir haben zu tun."
Aus dem Nebel über ihr war ein lautes Lachen zu hören. "Natürlich wissen wir das, was glaubst du. Was ist es denn, Königstochter, das ihr so früh am Morgen da draußen zu tun habt?"
Gráinne zuckte überrascht zusammen, als eine der beiden Frauen für sie antwortete. "Wir sammeln Giersch, Ampfer und Rauke für das Festmahl. Und wir bringen die Schweine in den Wald, dass sie fressen und bis Mittag nach Trüffeln suchen." Sie hob ihren leeren Korb und zeigte ihn den Männern.
Gráinne setzte ein argloses Gesicht auf. "Und ich gehe mit ihnen und helfe. Ich kenne Stellen, an denen eine Menge Giersch und Rauke wächst. Ich führe sie hin."
Der Wächter neigte seinen Kopf zu dem anderen hinüber und sie besprachen sich einen Moment lang. "Hm", brummte der Bärtige. "Weiß Cormac davon, dass du die Frauen begleitest?"
Sie blinzelte in den Regen hinein, der ihr die Haare zu durchnässen begann. "Ja. Er weiß es." Um noch überzeugender zu wirken, fügte sie an: "Immerhin ist es mein Bruder, den wir heute feiern. Ich möchte meinen Teil dazu tun, ich bin seine Schwester. Darum hat mein Vater, der König, es mir erlaubt."
Ihre enge Verbindung zu Cormac und dem Ehrengast hatte sie absichtlich erwähnt. Um sie zu erinnern, wen sie hier aufhielten und wessen Entscheidung sie in Frage stellten. Das würde Folgen haben, jedenfalls sollten sie das glauben. Dass ihre Lüge auffliegen und Folgen für sie selbst haben könnte, daran dachte sie lieber nicht.
Es wirkte. "Dann geh", erklang es von oben, aber sie hörte schon gar nicht mehr zu. Abwechselnd hüpfend und laufend machte sie, dass sie die Frauen einholte, und sah sich nicht mehr um.
Während sie zwischen den Hütten entlang gingen, wagte es keine, sie auf ihre Auseinandersetzung mit den Wachen anzusprechen. Wahrscheinlich war man nicht sicher, ob sie gelogen hatte, und wollte darum lieber nichts mit der Sache zu tun haben. Es war noch keine zwei Tage her, dass das ganze Dorf den Zorn des Königs über seine verschwundene Tochter zu spüren bekommen hatte.
Durch das äußere Tor gelangten sie schließlich, ohne aufgehalten zu werden. Vielleicht erkannte man sie nicht - oder man achtete nicht auf sie, weil sie sich geschickt unter die Frauen mischte und so dicht bei den Schweinen ging, als gehörte sie selbstverständlich dazu. Vielleicht dachte man aber auch nur, dass es in Ordnung sein musste, weil irgendjemand sie ja auch bereits durch das erste Tor gelassen hatte.
Die Frauen schienen ihre ungewöhnliche Begleitung inzwischen hinzunehmen; jedenfalls stellten sie auch jetzt, wo niemand mehr in Sicht war, der sie belauschen konnte, keine Fragen. Als sie den ausgetretenen Pfad entlang des westlichen Waldrandes einschlugen, mäßigte Gráinne ihr Tempo und ließ sich zurück fallen, bis sie ganz hinten ging. In einem günstigen Moment schlüpfte sie in das dichte Immergrün seitlich des Weges hinein. Die stacheligen Kanten der Blätter zerkratzten ihr die Hände und verhakten sich in ihren Ärmeln, aber sie biss die Zähne zusammen und arbeitete sich eisern hindurch.
Dann begann sie zu laufen. Erst, als sie ganz außer Atem war und sich tief im Dickicht des Waldes wiederfand, blieb sie stehen und verschnaufte. Der Wind raunte in den kahlen Wipfeln, der Regen wurde stärker. Er drang durch die Baumkronen bis zu ihr hinab, sie spürte ihn auf Stirn und Wangen. Und jetzt? Wenn sie keinen Unterschlupf fand, würde es nicht lange dauern, und sie war durchnässt wie ein verirrtes Fuchskind.
Sie schlüpfte unter den tief hängenden Zweigen der Bäume hindurch, bis sie zu dem Pfad gelangte, der zur Anhöhe mit der Quelle führte. Die frische Luft klärte ihre Gedanken, Traurigkeit und Enttäuschung traten langsam zurück und sie fühlte sich getröstet, wenn die riesigen Wedel der Farne ihr an Hand und Arm entlang strichen. Die Waldgöttin war wie eine Mutter zu ihr, immer schon. Sie wusste stets, was sie bewegte; ohne Worte legte sie ihr den grünen Mantel um - und schützte sie vor den Dingen, die schmerzten, wann immer Gráinne ihre Umarmung suchte.
Schon lange war sie nicht mehr bei der alten Höhle gewesen. Als sie den überhängenden Felsen mit dem großen Loch darunter erreichte, stellte sie fest, dass Efeu und Farnkraut den Eingang beinahe verschlossen hatten. Der Vorhang aus dicht belaubten Winden und Ranken ließ sie unwillkürlich an ihre Turmkammer denken; Finnguala hatte ihr den wollenen Vorhang dicht mit Bildern und Zeichen bestickt. Manche hatte sie ihr erklärt, andere nicht - sicher waren sie magisch und wirkten zu ihrem Guten, wenn sie nachts dahinter lag und ihren Träumen in die Dunkelheit folgte.
Sie stapfte durch das welke Farnkraut, schob das Efeu beiseite und drang in das Halblicht der kleinen Höhle ein. Der Raum maß ungefähr eineinhalb mal die Länge ihres Körpers, in der Weite wie in der Tiefe. Aber weiter hinein ging es nicht, es war nur ein Unterschlupf, in dem sie früher oft mit Cian gespielt hatte. Meara zog es immer zurück ins Dorf, wenn das Wetter ungemütlich wurde, und so hatte sie die Höhle mit der Zeit vergessen. Jetzt aber war sie froh, sie wiedergefunden zu haben. Auch, dass alles so sehr zugewachsen war, gefiel ihr; es war, als hatte die Grüne Mutter gewusst, dass sie ein Versteck brauchen würde. Hier wollte sie eine Weile allein sein.
Der Geruch nach Moos, Stein und Erde drang ihr kühl in die Nase. Erstaunt darüber, wie sehr sie seit ihrem letzten Besuch gewachsen sein musste, beugte sie den Kopf unter der niedrigen Decke und sah sich in der schattigen Dämmerung um. Alles war noch genauso wie zuletzt; sie fand sogar den alten Bogen ihres Bruders in einer Nische in der hinteren Wand. Cian hatte ihn gebaut in dem Frühling, bevor er in den Norden ging. Vier lange Jahre hatte die mit ungeschickter Hand verzierte Waffe dort gelegen und wäre beinahe in Vergessenheit geraten. Inzwischen waren der Bogen und auch die stumpfen Pfeile, die dazu gehörten, morsch und von Pilzen durchsetzt. Das Holz brach, als sie die Spannkraft prüfte. Als wollte der Bogen sagen: Ich war das Zeichen seiner Kindheit. Er ist als Mann zurück gekehrt, er braucht mich nicht mehr.
Es war nicht der Bogen, der sie wütend machte, er konnte ja nichts dafür. Aber sie wollte ihn nicht mehr in der Höhle haben, also schob sie das Efeu beiseite und warf ihn hinaus ins Dickicht, und die Pfeile gleich hinterher. Danach fühlte sie sich furchtbar unglücklich - so sehr, wie sie es seit seinem Weggehen nicht mehr empfunden hatte. Und dann weinte sie. Der Regen duftete und rauschte, die Grüne Mutter breitete ihre felsigen Arme um sie aus und hielt sie im Schutz der Dunkelheit, bis sie ganz leer war und es still in ihr wurde.
Wie lange sie dort an den Felsen geschmiegt gehockt hatte, sie wusste es nicht. Irgendwann hatte der Regen aufgehört, und dicke Tropfen fielen vor der Höhle auf den Blättervorhang, perlten daran ab und bildeten auf dem Boden eine Lache. Sie lauschte auf den platschenden Klang, den die Tropfen verursachten, wenn sie in die Pfütze fielen, und zählte jeden einzelnen. Wenn sie nur ewig dort sitzen bleiben könnte! Man würde sie suchen ... wie zuletzt, als sie bis in die Nacht hinein verschwunden war. Aber mit der Zeit würde man aufhören und sie vergessen. Und sie würde mit der Höhle verwachsen. Und über die Jahre selbst zu Stein werden.
Ob Steine fühlen konnten? Oder denken? Würde sie noch an ihr Zuhause, an die Siedlung, an Meara oder die Pferde denken ... an Cormac und Eithne ... wenn sie ein Stein geworden war?
Du bist nicht allein.
Sie war nicht allein. Woher kamen diese Worte? Auf einmal waren sie in ihrem Kopf.
Das Wertvollste, was du hast, ist dein liebendes und fühlendes Herz. Lass es niemals kalt werden.
Ihr Herz ... sie hob den Blick und blinzelte. Hinter dem Vorhang aus Efeu war es heller geworden. Das musste die Sonne sein! Der Regen hatte aufgehört.
Sie war gerade aufgestanden und dabei, den Dreck von ihrem Gewand zu wischen, als sie erschrocken innehielt.
Da draußen war etwas. Es raschelte im Farn vor dem Höhleneingang. Dann hörte sie, wie ein Pferd schnaubte.
Ende Teil 7
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