Kapitel 9

„Drei tote Schwäne und zwei tote Enten", zitierte Brian die Bestandsaufnahme der Abendzeitung.

Es war nur eine kleine Meldung, die eine Lücke füllte, aber jemand hatte sich die Mühe gemacht, darüber zu schreiben. Das war schon mal ein Anfang.

„Dass in den letzten Winterwochen tote Wasservögel aufgelesen werden, ist keine Seltenheit, haben sie doch eine lange Zeit des Darbens hinter sich und der Frühling lässt dieses Jahr außergewöhnlich lange auf sich warten. Dennoch sind gleich fünf tote Tiere auf einmal entweder ein enormer Zufall oder das Werk eines verwirrten Vogelfeindes", las Brian weiter.

„Sie haben die Botschaft nicht verstanden", bemerkte Christopher enttäuscht.

„Noch nicht", sagte Brian, „Es sind noch genug Schwäne übrig, um die Aufmerksamkeit der Königin zu wecken."

„Und dann?", fragte Rebecca, „Hoffen wir dann, dass sie alles richten wird?"

Sie bekam keine Antwort. Ihr Sarkasmus hatte allen Beteiligten heute schon genug Kraft gekostet.

Nach einer Weile fragte Christopher: „Was hältst du von David?"

„Wie meinst du das denn?", gab Brian zurück.

„Du bist doch so gut darin, Menschen einzuschätzen, also sag schon, was hältst du von ihm?"

„Ich halte ihn für verwirrt. Aber das sind sie alle in seinem Alter. Ich meine, er tut so, als würde er rebellieren, dabei wünscht er sich nichts mehr als Führung."

„Führung?"

„Er sucht nach Schutz. Das ist doch ganz normal. Er braucht eine Aufgabe, eine Identität. Er braucht jemandem, der ihm zeigt, wie es auf der Welt so läuft. Erziehung hat man das früher genannt. Der Nachteil solch einer Erziehung ist aber, dass man vertrauen muss, um erzogen werden zu könne und David hat all sein Vertrauen in Autoritäten verloren. Stell dir vor, du wählst einen Beruf, bekommst erst eine Anstellung als Hilfskraft und dann gesagt, dass alles, was du gelernt hast, für die Katz war, weil dein Beruf ohnehin aussterben wird. Plötzlich nimmst du all die Jahre als Zeitverschwendung wahr und die Jahre sind lang, wenn du jung bist."

„Glaubst du, dass er, nun ja, eine Gefahr für sich selbst darstellt?", fragte Christopher.

„Ich habe immer versucht, ihm ein vertrauenswürdiger Ansprechpartner zu sein. Niemand hat es verdient, in die Welt hinaus getrieben zu werden mit nichts als dem Wissen darum, dass man verloren ist. David hat noch einen Funken Hoffnung, wenn ich mich nicht täusche und vielleicht ist das gefährlich. Vielleicht ist es aber auch hilfreich. Vielleicht können wir noch etwas von ihm lernen, was meinst du?"

„Ich glaube, ich bin verbittert, Brian", sagte Christopher.

„Das glaubst du nur? Chris, die ganze Welt weiß, dass du verbittert bist. Die große Frage ist nur: Warum? Sieh dich um! Du bist nicht ganz unten und nach ganz oben willst du ohnehin nicht, oder? Dein Problem ist, dass du nicht weißt, was du willst und mit allem unglücklich bist, was du bekommst."

„Und ich bekomme so wenig. Nein, man nimmt mir sogar Sachen weg. Wie soll man da nicht unglücklich sein?"

„Da bist du zum ersten Mal in Berührung mit der echten Welt gekommen und es gefällt dir nicht, was? So geht es vielen Dichtern, die zum ersten Mal fühlen, was Hunger ist. Weißt du was Hunger ist, Chris? Es ist das Gegenteil von Lust oder Gier. Es ist Lethargie. Hunger ist Lethargie. Das Gefühl, etwas tun zu müssen, es aber nicht zu können. Hemmung. Leere. Stumpfheit. Du kennst dieses Gefühl, wenn man an nichts denkt, wenn man nichts mehr sieht außer Nebel? Das ist Hunger. Blindheit. Verlorenheit im Hier und Jetzt. Man kann so schwer Worte für das Nichts finden, das man in sich spürt, wenn man allein am Küchentisch sitzt. Zum ersten Mal tut dir der Arsch vom Sitzen weh, was? Das ist die Realität. Das ist Verbitterung", sagte Brian, „Aber keine Sorge, Verbitterung ist nur ein Zeichen dafür, dass du noch nicht völlig verfault bist. Bewusstsein ist gut. Schmerzen sind der Beweis dafür, dass du noch lebst. In unserem Alter ist man verbittert, in Davids ist man zornig."

„Ich habe nur gefragt, weil ich gedacht habe, dass David vielleicht zu übermütig ist und vielleicht geschwätzig wird", sagte Christopher.

„Du tust ja so, als hätten wir vor, eine Bank zu überfallen, Chris. Wir haben ein paar Wasservögel vergiftet. Niemand wird uns deswegen an den Kragen wollen."

„Du vergisst den Act of Swans", sagte Christopher.

„Wir sind hier in Manchester, nicht in London. Hier gelten andere Gesetze."

„Also das wiederum wäre mir neu", warf Rebecca ein.

„Im übertragenden Sinne", behauptete Brian, aber Rebecca blieb skeptisch.

„Mal was anderes", begann Christopher, „Was hältst du eigentlich davon, in einem Privathaushalt zu arbeiten?"

Einen Augenblick lang schaute Brian irritiert, dann platze er vor Lachen. Er warf Rebecca einen verschmitzten Blick zu und rief: „Rebecca in einer Dienstmädchenuniform? Du willst mich doch verarschen!"

„Du treibst es ziemlich weit, Mister", zischte Rebecca dazwischen, „Das hier ist immer noch mein Haus und mein Tee, den du da trinkst."

„Oh, ich bitte um Verzeihung, ich wollte dich nicht kränken. Es ist nur so schwer vorstellbar, dass du so etwas auf Anweisung anderer machst... In so einer bescheuerten Uniform. Also wirklich, Becky, das hast nicht mal du verdient."

„Na, herzlichen Dank."

„Es geht ja auch gar nicht um sie", sagte Christopher, „Ich habe mir überlegt..."

„Er will jetzt Rennpferde verhätscheln", erklärte Rebecca.

„Es war nur so eine Idee... Und außerdem wird Rennpferden viel angetan, aber sie werden bestimmt nicht verhätschelt. Meine Güte, bist du wirklich neidisch?"

Christopher war es leid. Rebecca merkte nie, wann sie zu weit ging und sie besaß kein bisschen Schuldbewusstsein. Sie nahm sich so viel heraus, weil sie wusste, dass die Leute von ihr abhängig waren. Sie wurde gebraucht, deshalb konnte sie sich verhalten wie die Axt im Walde. Jetzt, wo er selbst von ihr abhing, fiel es ihm noch deutlicher auf. Sie konnte eine richtige Despotin sein. Ihr Zynismus, den sie vielleicht einen Sinn für Humor nannte, war verletzend. Man hatte schon oft gehört, dass die Leute in Wales anders tickten, dass sie kein Feingefühl besaßen, dass sie es liebten, andere vor den Kopf zu stoßen. Kleine Nadelstiche dafür, dass man mit der Eingliederung nach wie vor nicht einverstanden war. Aber meine Güte, das war 350 Jahre her! Was konnte er dafür? Er war noch nicht einmal Engländer. Er war Ire, verdammt noch mal! Wenn sie einen Wettkampf aufmachen würden, welches Land mehr von den Engländern gebeutelt wurde, würde er ohne jeden Zweifel gewinnen.

Aber nein, natürlich würde sie sich nie auf so einen Wettkampf einlassen, denn wenn es abstrakt wurde, dann kannte Rebecca keine Unterschiede mehr. Alle Menschen funktionieren gleich. Aber Menschen waren mehr als ihre Funktionen. Sie hatten Geist und Seele. Manchmal hatte Christopher den Eindruck, Rebecca besaß kein Verständnis dafür, dass Menschen auch verletzt werden konnten, ohne dass ihre Körper dabei in Mitleidenschaft gezogen wurden.

„Du machst es dir sehr leicht", fügte er hinzu, „Alle Menschen sind gleich, aber nur so lange, wie sie nicht über dir stehen."

„Was soll das denn jetzt?", fragte Rebecca, „Wir reden über Pferde, ich werde mich sicher nicht einem Pferd unterordnen."

„Du machst dich darüber lustig, dass man sich Arbeit sucht, wenn man keine hat. Das ist nicht fair."

„Was ich sagte, ist, dass sich das System nicht ändern wird, wenn die Leute zwar moralisch auf Seiten der Revolution stehen, tatsächlich aber den Reichen in den Arsch kriechen. Man muss Prioritäten setzen. Man schafft den Feudalismus nicht ab, indem man abends den Gutsherren in einem Schmähgedicht der Lächerlich preisgibt und ihm morgens die Stiefel leckt."

„Ja, das meinte ich. Du machst es dir sehr leicht."

„Wenn ich sage, alle Menschen sind gleich, dann heißt das, dass ich niemanden für etwas Besseres halte."

„Nein, du hältst alle für das Schlechteste."

Rebecca lachte müde: „Für Hausangestellte gibt es nicht einmal eine Gewerkschaft. Die konservativsten unter ihnen würden vermutlich sogar mit Freuden ohne Bezahlung nur dafür arbeiten, dass sie eine schicke Uniform tragen dürfen."

„Und schätzt du mich so ein?"

„Nein, deshalb wundert es mich ja. Ich erkenne dich nicht wieder. Wie groß ist deine Verzweiflung, Christopher?"

„Ich wollte die Meinung von Brian wissen, aber Danke für deine Einschätzung. Die Verzweiflung ist erträglich. Zumindest erträglicher als das ständige Theoretisieren einer konkreten Situation. Der Punkt ist: Wir brauchen Geld!"

„Es hängt immer am Geld", mischte sich Brian wieder vorsichtig ein, „So lange die Reichen, dich mit Geld beschmeißen können, sind sie eben nicht gleich. Geld ist Macht und Macht ist Freiheit. Und die Freiheit einzelner ist immer die Unfreiheit anderer."

„Und wir haben zu viel Zeit. Wir haben viel zu viel Zeit, um diese endlosen Gespräche zu führen, die sich im Kreis drehen und am Ende widersprechen wir uns selbst, ohne es zu merken. Ich weiß selbst nicht mehr, woran ich glauben soll", fiel Christopher ein.

„Wer weiß das schon", sagte Rebecca versöhnlich, „Wir versuchen doch alle nur, irgendwie zurecht zukommen und dabei möglichst anständig zu bleiben."

„Also, wenn du mich fragst, ist nichts dabei, in einem Privathaushalt zu arbeiten", sagte Brian schließlich, aber man sah ihm an, dass er sich unwohl dabei fühlte.

„Es ist fast unmöglich, anständig zu bleiben", fasste Christopher zusammen, „David muss sich entscheiden zwischen seiner Identität und der Zukunft und wir müssen uns entscheiden zwischen einem integeren Untergang und einer Kapitulation."

„Beides dasselbe", sagte Rebecca, „Nur, dass er länger damit leben muss."

„Es tut mir leid", sagte Brian, „Wir sollten unseren Erfolg feiern und stattdessen diskutieren wir hier und kommen zu dem Schluss, dass wir rein gar nichts verändern können. So sollte das eigentlich nicht laufen, aber es ist auch irgendwie erschöpfend, dieses Dasein."

Dasein. Es war Christopher nicht entgangen, dass Brian sich darum drückte, dieses Dasein näher zu definieren, wo er doch sonst um keinen Monolog verlegen war. Aber er beließ es dabei, denn Brian hatte natürlich Recht: Sie könnten rein gar nichts verändern.

Verändern vielleicht nicht, das hieß jedoch nicht, dass sie nichts tun konnten. Im Gegenteil: Sie mussten etwas tun. Jeder musste etwas tun, sonst gerann das Gehirn zu Grütze. Rebecca besorgte neues Gift und backte neues Brot. Schon am nächsten Morgen war ihre Stimmung weit weniger düster und Christopher konnte nicht anders, als einerseits bei sich zu denken: „Sie versteht es nicht und wie kann ich ihr das zum Vorwurf machen?" und andererseits zu sagen: „Ich liebe dich." Am Morgen mehr als am Abend... aber das sagte er nicht.

Wir sind Menschen, weil wir sogar für uns selbst unberechenbar sind, dachte er, es ist eine Illusion, dass wir Prinzipien haben, an denen wir immer festhalten und nach denen wir immer handeln. Manchmal haben wir einfach einen schlechten Tag. Manchmal scheint einfach die Sonne nicht.

Abgemacht war ein Treffen am Vormittag, aber sowohl David als auch Brian ließen auf sich warten.

„Wenn sie nicht kommen, können sie sich auf was gefasst machen!", sagte Rebecca, „Was glauben sie? Dass ich zum Spaß vergiftetes Brot backe, Mehl und Gift verschwende? Oder dass ich das Zeug irgendwelchen Straßenjungen in die Hand drücke, damit sie die Drecksarbeit für die feinen Herren erledigen? Am Ende bringen sie es noch ihren Familien als Beute mit. Können diese Kerle nicht von zwölf bis Mittag denken?"

Und so ging das in einem fort, bis es an der Tür klopfte. Christopher öffnete und ließ drei junge Männer mit schmutzigen Gesichtern und strohigen Haaren, die unter geflickten Wollmützen hervor lugten, herein. Einer von ihnen war David. Die anderen kannte er nicht.

„Das sind Pat und Thomas. Sie würden gerne mitmachen."

Sie grüßten etwas verlegen und zogen sich die Mützen vom Kopf. Rebecca schauderte unwillkürlich, als sie an all das Ungeziefer dachte, dass auf diesen Köpfen hauste. Sie fragte sich, wie es kam, dass sie Unhygiene bei Männern wesentlich ekelerregender fand als bei Frauen. Diese Rotzlöffel hatten jedenfalls in diesem Jahr noch kein Bad genommen, rochen entsprechend und bemerkten Rebeccas Unwohlsein, denn sie drucksten herum: „David hat uns erzählt, Sie planen eine Aktion, gegen die Königin und wir sind... interessiert. Das heißt, wir würden gerne mithelfen, wenn es möglich ist."

Rebecca seufzte und ließ sich auf ihren Stuhl am Küchentisch sinken. Sie überließ es Christopher, zu antworten. Es war sein Projekt, sollte er den Rotzlöffeln eine Standpauke halten...

Der aber bemerkte amüsiert, wie sehr sich die Jungen vor Rebecca zu fürchten schienen. Um respektiert zu werden, brauchte eine Frau offensichtlich den Ruf einer Hexe. Schließlich fragte Christopher: „Ihr wisst, was wir genau machen und warum? Ihr wisst, dass ihr niemandem davon erzählen solltet? Nicht wahr David? Ihr wisst, dass ihr euch strafbar macht und nicht viel dabei herum kommen wird?"

„Das glaube ich nicht", sagte Pat, „Es kommt nicht darauf an, was irgendwo herum kommt. Es geht darum, was darüber erzählt wird. Man scheitert immer nur dann, wenn man in Vergessenheit gerät. Wenn die Leute sich jedoch erinnern, kann man nicht verlieren, selbst wenn man nicht gewinnt."

„Wir machen das nicht für den Ruhm", erklärte Christopher.

„Nein, Sie machen das für den Zeitvertreib", sagte Thomas, der sowohl seinen Mut als auch einen kühlen Zynismus wieder gefunden hatte. Rebecca schloss ihn augenblicklich ins Herz.

„Es ist vielleicht nicht unklug, wenn abwechselnd verschiedene Personen die Köder auslegen", sagte Rebecca, „Können wir uns auf euch verlassen?"

„Natürlich", sagte Pat.

„Am besten ihr fasst das Brot nicht ohne Handschuhe an. Gebt niemandem etwas davon. Kommt ja nicht auf die Idee, es zu probieren. Werft es den Schwänen hin und verschwindet wieder. Aber unauffällig. Mischt euch unter die Leute. Macht es beiläufig. Habt ihr verstanden?"

Pat und Thomas fühlten sich ein wenig überrumpelt, bestätigten aber.

„Es war abgemacht, dass wir über diese Sache nicht außerhalb der Gruppe sprechen", sagte Christopher in Davids Richtung.

„Was hat das denn für einen Sinn, verdammt noch mal? Die Jungs sind in Ordnung und sie reißen sich genauso den Arsch auf für nichts wie alle hier. Sie haben ein Recht darauf, zu protestieren", sagte David.

Der Junge ist fahrlässig, dachte Christopher, Rebecca hatte Recht.

„Ich würde dir ja raten zu heiraten", sagte Jonathan, „aber dann würdest du diese Hexe zur Frau nehmen und das würde Vater nicht überleben."

„Seit wann kümmerst du dich um Vater?", fragte Christopher genervt.

„Bruderherz, du weißt, ich schätze deinen Einsatz, aber seit du deine Arbeit verloren hast, bleibt ein Großteil der finanziellen Belastung an mir hängen. Nicht, dass es mir etwas ausmacht. Es ist unser Vater. Ich bitte dich, zieh nicht so ein Gesicht! Ich mache dir keine Vorwürfe. Du tust alles, was in deiner Macht steht. Ohne Zweifel opferst du dich auf. Aber von dieser Aufopferung kann er nun mal nicht seinen Lebensunterhalt bestreiten, verstehst du? Und es würde ihm das Herz brechen, wenn du ihn auch nicht mit dieser Frau als Schwiegertochter ankommen würde. Es wäre eine herbe Enttäuschung. Für ihn, Christopher. Mir ist es gleich. Dies sind moderne Zeiten."

Sie saßen bei einer Tasse Tee und Gebäck in Jonathans Zimmer. Bei seiner Stellung in einem Versicherungsbüro hätte er sich sicher eine vollständige Wohnung oder gar ein Haus leisten können, aber Jonathans Sparsamkeit hätte ein Spötter leicht als Geiz bezeichnen können. Er lebte in einem angemieteten Zimmer in einer Pension, der er mit Handlungsreisenden und Angestellten der Gastronomie teilte. Untere Mittelschicht immerhin und außerhalb von Salford, was ein gewisses Prestige besaß, wenn man Jonathans Herkunft bedachte. Wer in bescheidenen Kategorien dachte, konnte behaupten, er hätte es zu etwas gebracht.

Es war mehr eine Selbstdemütigung für Christopher als ein Anstandsbesuch, aber hin und wieder musste er sich bei seinem Bruder blicken lassen. Dieser fand immer einen Vorwand, um ihn einzuladen, wenn er das Bedürfnis hatte Christopher ins Gewissen zu reden.

„Wieso nimmst du keinen Job in einem Büro an? Du bist intelligent genug und seien wir ehrlich, die körperliche Arbeit geht dir langsam auf die Knochen", sagte Jonathan.

„Das ist wirklich nicht, was ich will", erwiderte Christopher, „Den ganzen Tag da sitzen und auf Papiere starren, ist einfach nichts für mich. Ich möchte draußen sein."

„Lass mich dir eines unverblümt sagen: Wenn es so weiter geht, wirst du über kurz oder lang dein ganzes Leben draußen verbringen. Du bist abhängig von deiner Freundin. Christopher, was bist du? Ein Mann oder ein Parasit?"

„Ich bin ein Mann, der sich nicht darüber definiert, was er sich leisten kann", sagte Christopher.

„Du kannst es dir nicht einmal leisten, dein Haus zu heizen. Ach, was red ich, du hast ja nicht einmal ein Haus! Du weißt, ich liebe dich, du bist mein Bruder, aber du musst etwas aus deinem Leben machen. Da draußen warten sie nicht auf dich. Du musst aktiv werden und nach etwas streben, das besser ist."

„Als was?"

„Als das, was du hast, Chris. Es gibt immer etwas, das besser ist und das man erreichen kann. Wer es nicht versucht, der ist selbst schuld an seinem Unglück und wer es nicht schafft, der ist ein Nichtsnutz."

„Aber vielleicht will ich nicht erreichen, was du da für mich vorsiehst", sagte Christopher.

„Was willst du denn? Weißt du überhaupt, etwas du willst?"

„Ich glaube, darum geht es gar nicht. Wollen, bekommen, nicht bekommen... Vielleicht will ich gar nichts und bin glücklich."

„Bist du es denn?"

„Jonathan, du bist englischer als der vernobteste Engländer", sagte Christopher.

„Soll das ein Vorwurf sein?", fragte Jonathan amüsiert, „Komm schon, das kannst du besser! Jedes deiner Worte ist nichts als ein Beißreflex, weil du dich schämst."

„Wofür soll ich mich denn schämen?"

„Christopher, du stehst am Abgrund. Und ich sage das nur so offen, weil du mein Bruder bist."

„Und du mich demütigen willst?", fiel Christopher ihm ins Wort.

„Nein, weil ich dich besser kenne als du dich selbst. Du bist jetzt in einem Alter, in dem sich entscheidet, ob du Erfolg haben oder versagen wirst. Ich mache mir Sorgen um dich und Vater genauso. Er hat sein Leben lang geschuftet und sieh ihn jetzt an. Was soll aus dir werden, wenn du den ganzen Tag auf der faulen Haut liegst? Was sollen die Leute denken? Glaubst du Mutter hätte das gewollt? Wir sind keine faulen Leute. Wir sind Leute, die ihr Schicksal in die Hand nehmen. Such dir eine Arbeit mit Aussicht auf Aufstieg, Christopher, ich bitte dich!"

„So, deshalb hast du mich herbestellt? Um mich fertig zu machen? Ich weiß ja, dass du kein Blatt vor den Mund nimmst, aber wenn du dich schon bei den Kapitalisten anbiedern musst, dann übernimm doch bitte auch die aufgesetzte Freundlichkeit. So bist du einfach unausstehlich arrogant."

„Wer es sich leisten kann..."

„Wohl eher, wer es sich leisten können will..."

„Christopher, ich will dir helfen. Du verstehst mich falsch, wenn du glaubst, dass ich dich beleidigen oder beschämen will. Aber du brauchst einen Arschtritt, mein Lieber. Je länger du in den Tag hinein lebst, umso schwerer wird es für dich, wieder in eine geregelte Arbeit zu kommen."

„Du hältst mich für faul. Das ist die größte Beleidigung, die du mir an den Kopf werfen kannst. Bin ich jemals faul gewesen? Habe ich mich jemals vor Arbeit gedrückt? Habe ich jemals nicht mit angefasst? Für dich ist Arbeit nur, wenn es Profit generiert. Du hast dich völlig entfremdet von der wirklichen Welt, Jonathan."

Jonathan lächelte milde und sagte dann: „Das ist das beste, was man tun kann."

„Egoistisch sein?"

„Unabhängig sein."

„Du bist nicht unabhängig."

„Im Vergleich zu dir? Christopher, mach dich nicht lächerlich!"

„Du bist ein Verräter, mehr nicht", Christopher machte sich bereit, aufzustehen und zu gehen, „Du meinst, es wäre immer noch so wie früher, als du mich herumkommandieren konntest, aber du musst schon längst nicht mehr auf mich aufpassen. Trotzdem versuchst du es, weil du glaubst, mich kontrollieren zu müssen, weil du nicht begreifen kannst, dass es Menschen gibt, die anders denken als du, die andere Werte haben. Du bist wankelmütig, Jonathan. Du bist einsam."

„Was soll das denn heißen?"

„Du gibst vielleicht vor, mir helfen zu wollen, aber das Konzept von Solidarität ist dir völlig fremd. Es gibt keine reichen Sozialisten, also bist du keiner. Dich interessiert nicht, was mit anderen Leuten geschieht, was mit diesem Land geschieht. Du interessierst dich nur für dich selbst. Und wenn du vorgibst, mich unterstützen zu wollen, dann geht es dir nur um deinen Einfluss auf mein Leben. Du glaubst immer noch, ich käme nicht allein zurecht. Und du hältst das für eine Schwäche. Ich weiß, wie solche Leute denken. Rebecca ist ähnlich gestrickt, aber sie hat zumindest verstanden, dass es keine Schande ist, Beziehungen zu pflegen, dass Beziehungen nicht nur aus Kontrolle und Macht bestehen, sondern aus Zuneigung und Selbstlosigkeit."

„An eurer bedingungslosen Zuneigung werdet ihr zugrunde gehen, wie so viele vor euch. Die Welt ist nicht geschaffen für Zuneigung, sondern für Konkurrenz", sagte Jonathan, „Und das ist nicht meine Ideologie oder mein schlechter Charakter, auch wenn du das glaubst, es ist ein Fakt, der die Erfolgreichen von den Verlierern unterscheidet."

„Gut, dann hast du jetzt gesagt, was du sagen wolltest?", fragte Christopher.

„Verantwortung, das wollte ich sagen. Dein Gewissen, Christopher."

„Das ist rein, Bruderherz und deines sollte es auch sein. Ich entbinde dich hiermit jeglicher Verantwortlichkeit für mein Leben."

„Es hätte nicht so enden müssen", sagte Jonathan, als er aufstand, um seinen Bruder zu verabschieden, „Du bist schon immer stur gewesen, aber ich kreide es dir nicht an. Du wirst deine Sturheit noch brauchen. Pflege sie gut. Die Zeiten werden hart."

„Du hast Recht", erwiderte Christopher, „Es hätte nicht so enden müssen, wenn du es nicht so begonnen hättest. Aber ich verurteile dich nicht. Wenn du eines Tages über deinen Schatten springen und dich dazu überwinden kannst, unseren Vater mal leibhaftig zu besuchen und dich nicht von deinem Geld vertreten zu lassen, dann komm Rebecca und mich mal besuchen. Auch wir können Tee kochen, weißt du? Es muss dir nicht unangenehm sein, einen Fuß in deinen alten Stadtteil zu setzen. Es bleibt nichts kleben außer ein bisschen Schmutz."

„Oh Christopher, es bleibt so viel kleben, du merkst es nur nicht, weil du dich damit wohl zu fühlen glaubst, aber ich glaube, es ist aussichtslos, dir in dieser Sache die Augen zu öffnen. Du bist kein Mensch, der alleine zurecht kommt. Du hast Angst, wenn du auf dich allein gestellt bist. Da kannst du nichts für, das ist keine Schande, aber, Christopher, deine Auswahl von Menschen, die du um dich scharst, ist beschämend."

„Hast du Rebecca deshalb nicht zum Tee eingeladen? Glaubst du, sie hat kein angemessenes Kleid, um hier mit dir zu sitzen?"

„Wie kann ich offen mit dir sprechen, wenn sie dabei ist?", fragte Jonathan.

„Du hast Angst vor ihr, weil sie dir ähnlich ist, nur dass sie besser ist als du. Du weißt es und du ärgerst dich. Es ist Ärger, du kannst es nicht leugnen. Bei dir ist es niemals Scham. Du bist schamlos, Jonathan, das ist, was dich einsam macht."

„Ich dachte, wir wollten es dabei belassen?"

„Ja, du hast Recht. Dein Tee ist übrigens ein wenig zu stark für meinen Geschmack", sagte Christopher.

Jonathan lächelte und sagte mit seiner samtweichen Stimme: „Du solltest nehmen, was du kriegen kannst. Hier kannst du zumindest sicher sein, dass es nicht verdorben ist. Bei euch drüben scheint das Wasser ja so giftig zu sein, dass jetzt sogar reihenweise die Wasservögel sterben."

„Was?", fragte Christopher plötzlich aufgeschreckt.

„Liest du keine Zeitung mehr oder steht in euren kommunistischen Propagandaschmierblättern nichts mehr von dem, was um euch herum passiert?"

„Doch, es irritiert mich nur, dass du dich für solche Meldungen interessierst."

„Ich lese alles, was meine Meinung, aus Salford wegzuziehen, bekräftigt", sagte Jonathan.

Als Christopher zu Fuß zurück nach Hulme ging, dachte er darüber nach, wie nah und wie fern er und sein Bruder sich eigentlich waren. Es ist mehr als die Distanz zwischen zwei Stadtteilen. Aber es ist weniger als beispielsweise die unüberbrückbaren Differenzen zwischen Rebecca und ihrer Familie. Trotzdem hatte er sie in Schutz nehmen müssen. Vor anderen würde er sie immer verteidigen, auch wenn er wusste, dass diese oft Recht hatten mit ihrer Kritik und ihrem Unverständnis.

Sowas tut man einfach als Mann. Das gehört zum Anstand, dachte er selbstzufrieden und dann: Wie kommt es, dass jeder glaubt, mich bevormunden zu müssen? Wieso glaubt jeder zu wissen, was das Beste für mich ist? Vertraut mir denn niemand? Nicht meine Freunde, nicht meine Familie, nicht meine Freundin?

Christopher verstand, dass er sie alle enttäuschte, er verstand nur nicht, wieso und was er anders und besser machen konnte. Es störte ihn nicht sehr. Brian war auf seine ironische Art eher witzig als beleidigend und Christopher war sich sicher, dass er es nicht böse meinte. Rebecca hingegen verstand das ganze Konzept von Beleidigung nicht und merkte nicht, wenn sie zu weit ging. Und Jonathan? Jonathan tat es aus purer Boshaftigkeit. Man durfte ihn nicht ernst nehmen, sonst ärgerte man sich zu sehr.

Er hat es auch nicht leicht, dachte Christopher. Niemand will etwas mit ihm zu tun haben. Das ist seine Form der Armut. Vermutlich braucht er mich mehr als ich ihn. Er braucht jemanden, um auf ihn herabzublicken. Oder er braucht jemanden, dem es nichts ausmacht, wenn er auf ihn herabblickt. Er braucht es, es sich einreden zu können, dass er auf jemanden herabblicken konnte. Jeder braucht das, wenn er noch ein bisschen Selbstachtung besitzt. Es ist nur menschlich...

Christophers Weichheit war das Geheimnis seiner Zufriedenheit, glaubte er. Vielleicht lachte man ihn aus, aber wer über andere lachte, der tat das nur, weil er sonst über sich selbst weinen musste. Christopher weinte lieber über das Schicksal anderer und lachte über seine eigenen Schwächen.

Vielleicht ist es das, was ein Dichter tat und wieso Dichter nie Kaufleute werden konnten.

Ich werde ihm immer vergeben, sagte er sich, und er weiß es, weshalb er es ausnutzt, um Grenzen der Höflichkeit zu überschreiten. Aber ich werde ihm immer vergeben. Wir sind zusammen durch den Schlamm gewatet. Und wenn Blut dicker als Wasser ist, dann ist Schlamm dicker als Blut. Er mag sich vielleicht dafür schämen, aber in meinen Augen ist es bewundernswert, was er geleistet hat.

Neid ist ein seltsames Gefühl. Menschen wie Jonathan wünschen sich nichts mehr als beneidet zu werden und leiden unter nichts mehr, als anderen ihr Leben zu neiden. Auch können sie sich nicht vorstellen, dass andere dieses Gefühl nicht kennen. Sie empfinden es als Angriff, wenn sie nicht beneidet werden, als unerhört, als aufrührerisch. Vielleicht war das Christophers einzige Stärke: Er kannte das Gefühl von Neid nicht, dafür aber das von Zufriedenheit. Es war ein geradezu subversiver Akt, nach Zufriedenheit zu streben und nicht danach, den eigenen Neid zu befriedigen. Jemand sollte Jonathan Hilfe anbieten... irgendwann, wenn er merkte, wie nah er dem persönlichen Zusammenbruch kam.

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