Kapitel 6

Brian war ein Schwätzer, das war allgemein bekannt. Auch Rebecca sagte das: „Er hält sich für verständnisvoll, aber er macht alles nur noch schlimmer. Es gibt ein paar Wahrheiten, vor denen kann man sich nicht in verstecken, indem man sich in wohlige Bekenntnisse hüllt."

Und damit war für sie die Sache abgeschlossen. Cathy bestand darauf, das Haus noch am gleichen Abend zu verlassen. Sie schrie zwar vor Wut, Enttäuschung und Schmerz, fluchte wie ein Kesselflicker, wollte aber auf keinen Fall auch nur eine Minute länger in diesem Haus verbringen. Rebecca hatte sie enttäuscht und verletzt und wie sie ausführte „innerlich umgebracht".

Brian entschuldigte sich für den Ausbruch, holte erst seinen Wagen zurück und brachte dann seine Freundin nach Hause.

Rebecca verbrachte den Rest des Tages in der Waschküche und ließ ihre Wut an ihrer schmutzigen Bettwäsche aus.

„Er hätte in seinem Zustand nicht fahren sollen und sie ihn ihrem Zustand auch nicht", sagte Christopher später im Bett, aber er bekam keine Antwort.

Noch zwei oder drei Mal versuchte er, Rebecca auf diese Geschichte anzusprechen, dann ließ er es auf sich beruhen. Brian verhielt sich danach nicht anders als sonst, also wieso sollte man es ausdiskutieren? Das war der Vorteil des Daseins als Mann: Man konnte sehr erfolgreich Dinge ignorieren, ohne dass jemand einen darauf ansprach und die Situation unangenehm werden ließ. Es ist, als gäbe es eine geheime oder eine intuitive Absprache, sich das Leben nicht noch schwerer zu machen, als es ohnehin schon ist.

Rebecca schnaubte im Schlaf, als wollte sie damit sagen: Es liegt daran, dass alle Männer schlecht sind und es ganz genau wissen. Sie wissen das Schlimmste voneinander und hoffen, dass die anderen still sind, wenn sie selbst den Mund halten. Das nennen sie dann Brüderlichkeit.

Eines der vielen mehr oder weniger gut gehüteten Geheimnisse Rebeccas war die Tatsache, dass sie ein Tagebuch führte. Es war ihre Taktik, einige Heimlichkeiten eher schlecht zu verbergen, damit Christopher nicht weiter suchte, wenn er glaubte, auf etwas gestoßen zu sein. So zweifelte er beispielsweise nicht daran, dass sie noch ein zweites Tagebuch besaß und dass sie dieses hier nur als Köder auslegte.

Obwohl er sich sicher war, dass er nur zu lesen bekam, was er auch lesen sollte, schämte er sich dafür, wenn er es las. Er schwankte zwischen dem Argument, dass Rebecca ja selber schuld sei, dass er Nachforschungen anstellte, wenn sie so wenig von sich preisgab und dem Gefühl, ihr Vertrauen zu missbrauchen. Aber was sollte er machen? Rebecca hatte einen Charakter, der sich nur schwer in die Umgebung einfügen konnte. Mit Eigenwilligkeit konnten die Menschen vielleicht umgehen, aber mit ihrem Hang zur Eigenbrötlerei? Rebecca merkte oft nicht, wie sie Leute vor den Kopf schlug, wie sie unangemessen reagierte, wie sie Menschen verletzte. In gewisser Weise tat sie Christopher leid, dabei schien sie selbst kein bisschen zu leiden. Vielleicht suchte er in ihrem Tagebuch die Bestätigung dafür, dass sie in diesem Punkt etwas verbarg... Er hoffte, irgendein niedergeschriebenes Gefühl zu finden, irgendetwas, das sie wie ein menschliches Wesen erscheinen ließ.

Sie faszinierte, verstörte und ängstigte ihn zugleich. Manchmal fragte er sich, ob sie ihn überhaupt so liebte wie er sie und ob er sie überhaupt liebte, ob es vielleicht verschiedene Formen von Liebe gab, die vielleicht nicht kompatibel waren.

Was für eine scheußliche Aussage es war, zu behaupten, jemanden nur zu lieben, weil man Mitleid mit ihm hatte und nicht wollte, dass der andere allein sein musste! Aber so war es ja gar nicht.

Jedenfalls interessierte Christopher, was Rebecca zu jenem Tag, als Cathy und Brian zu ihr gekommen waren, in ihr Tagebuch geschrieben hatte und er hielt den inneren Kampf zwischen Neugier und Verlässlichkeit kaum drei Tage aus. Natürlich würde sie es herausfinden und natürlich würde sie kein Wort sagen und natürlich würde er sich schuldig fühlen und sie würde es wissen, aber so lief das nun mal zwischen ihnen. So schlecht Rebecca im Reden war, so gut war sie darin, nonverbal zu kommunizieren und die Menschen dazu zu bringen, genau das zu fühlen, zu denken und zu tun, was sie wollte.

Sie ist so subtil, dachte er, sie plant das alles, ohne dass ich es merke und ich tappe ihr jedes Mal in die Falle und bin auf ihr Wohlwollen angewiesen. Zum Glück ist sie meistens wohlwollend.

Vielleicht war das ihre Art, Liebe zu zeigen und vielleicht war es überhaupt der ultimative Liebesbeweis, jemanden, den man in der Hand hatte, nicht ins Messer laufen zu lassen, sondern sanft in die richtige Richtung zu schubsen, ohne ihm später zu sagen: „Siehst du, ich habe die ganze Zeit Recht gehabt!" War das nicht die eigentliche Definition von Selbstlosigkeit?

Aber Christopher wurde enttäuscht. Er hatte erwartet, dass er etwas darüber zu lesen bekam, wie sehr Rebecca Cathy bemitleidete, wie sehr sie ihre Arbeit verabscheute, wie sehr es sie belastete, am Ende ja für den Tod eines potenziellen Kindes verantwortlich zu sein. Er hatte gehofft, dass er etwas über ihre Angst vor dem Tod ihrer Patientinnen lesen würde, Mitgefühl, Sorge, Anteilnahme, Angst.

Nichts davon. Stattdessen fand er folgenden Eintrag:

„Heute habe ich geträumt, zu Hause zu sein. Verrückt, dass ich dieses Haus immer noch in allen Details rekonstruieren kann. Verrückt, dass ich mich an jeden einzelnen Winkel erinnere. Alle Gesichter sind verschwommen. Ich habe vergessen, wie sie alle aussehen. Kaum zu glauben, aber ich höre sie lachen und sprechen, aber ich kann ihre Gesichter nicht sehen. Als hätte ich sie nie gesehen. Es ist, als hätte ich sie nie gekannt, aber ich erkenne sie. Es findet eine dieser kleinen, großen Abendgesellschaften statt, bei denen Mutter beweisen will, dass sie ihr Vermögen entgegen aller Gerüchte doch nicht durchgebracht hat. Meine Schwester verfolgt mich, starrt mich an, vorwurfsvoll. Ich versuche wegzurennen, schaffe es aber nur bis in den Garten, dort hält mich ein Anfall von Nasenbluten auf. Je weiter ich mich vom Haus entferne, umso stärker blutet es und ich bin gezwungen zurückzukehren.

Mein Schweigen in Mitten des allgegenwärtigen Geschnatters frisst sich wie ein schwarzer Fleck in den Salon und ihre Blicke treffen mich, mitleidig. Ja, mitleidig. Als könnte ich nichts dafür. Als hätten sie mich trotzallem immer unterstützt, aber leider war es nicht genug. Als wäre es eine Naturgewalt. Sie wissen alles und geben vor, nichts zu wissen. Besser für sie, es nicht wissen zu müssen. Nicht wissen zu wollen.

Ich will mir die Gespräche über Kunst und Artistik ersparen und ziehe mich zurück. Es ist dunkel in der Nische zwischen Schlafzimmer und Vorratskammer. Ich stehe vor dem Regal und starre es an. Meine Schwester starrt mich an. Ich friere ein und ich weiß, was jetzt passieren wird. Sie wird mich verpetzen. Dabei tue ich doch gar nichts, als die Tiegel und Fläschchen anzuschauen. Nicht einmal ihre Etiketten kann ich lesen. Wie soll ich also wissen, ob Parfum oder Gift darin ist?

Es ist ein Spiel, bei dem die Schuld wie ein Schwarzer Peter herumgereicht wird. Jeder profiliert sich und betont, wie sehr sie sich bemühten, mich zu integrieren. Aber wenn einer nicht wolle, könne man halt nicht machen...

Ich erinnere mich an Sommerabende im Garten und das Blumenbeet, das ich bepflanzen durfte. Ich erinnere mich an naive Kinderzeichnungen von Katzen und Entenküken. Das soll eine glückliche Kindheit gewesen sein? Ich soll mich schuldig fühlen, weil ich all das zurückgelassen habe? Weil ich es nicht mit Wehmut, sondern mit Abneigung betrachte? Ich soll meine Fehler einsehen, bedeuten sie mir, aber da ist keiner. Sie und ihre Bilder lügen."

Christopher wusste nicht, ob er amüsiert oder wütend sein sollte. Der Brocken, den sie ihm hinwarf, war saftig. Etwas aus ihrer Vergangenheit, um davon abzulenken, dass es etwas gab, das sie noch mehr beschäftigte. Normalerweise erzählte sie nichts – kein Wort – von ihrer Familie. Dass sie eine Schwester hatte, hörte er heute zum ersten Mal. Etwas musste Rebecca sehr beschäftigen und sie wollte natürlich damit alleine gelassen werden. Deshalb lockte sie Christopher auf eine falsche Fährte, etwas, das ihn überzeugen sollte, dass Cathy ihr keinen einzigen Gedanken wert war.

Christopher kannte die Taktik und Rebecca wusste, dass er sie durchschaute und Christopher wusste, dass sie es wusste. Sie würden vermutlich nie darüber sprechen – nicht über Cathy und nicht über Rebeccas Träume. Er packte das Tagebuch weg und schwelgte ein wenig in der Illusion, ein Geheimnis gelüftet zu haben – oder zumindest Rebecca in einer Situation erlebt zu haben, die sie dazu brachte, einen kontrollierten Teil eines Geheimnisses zu offenbaren. Wahrscheinlich war es ohnehin eine Lüge...

Aber allein die Tatsache, dass sie große Geschütze auffuhr, zeigte, dass Cathys Zustand ihr etwas ausgemacht hatte. Und Christopher war sich nicht sicher, ob Rebecca sich darüber im Klaren war, dass er auch dies deduzieren konnte, dass er verstand, dass ihr Unwohlsein, nichts mit der Familie in ihrem Traum zu tun hatte, sondern mit ihr selbst. Dass die Schuld nicht hin und her gereicht wurde, sondern an ihr nagte.

Sie ist nervös, dachte er. Sie ist so nervös, dass sie unvorsichtig wird, dass sie Risiken eingeht. Sie will, dass ich etwas über sie und ihre Familie erfahre, aber sie will nicht mit mir darüber sprechen, sie will so tun, als wisse sie nicht, dass ich es weiß und sie will, dass ich so tue, als wisse ich nichts. Ist das nun ein Liebes- oder ein Vertrauensbeweis oder eine Prüfung oder ein Irrlicht? Hatte sie den Traum vor oder nach Cathys Besuch? Dem Datum nach zu urteilen davor. Also gibt es keinen direkten Zusammenhang. Vielleicht hat sie alles nur erfunden? Aber warum? Sie verbirgt ihre Unsicherheiten, keine Geheimnisse, keine dunkle Vergangenheit. Wahrscheinlich hält sie ersteres für die größere Schande, weshalb sie sie ähnlich behandelt.

Christopher ging recht in der Annahme, dass nichts von dieser grauenvollen Episode um Cathys Dämonen zwischen Brian und ihm ausdiskutiert werden würde. Im Gegenteil: Christopher traf seinen Kollegen in ausnehmend gelöster und sogar leicht übermütiger Stimmung an. So, als hätte er gerade ein gutes Geschäft gemacht, oder als wäre ein Plan vollständig aufgegangen.

„Es wird sich einiges ändern!", sagte er zu Christopher, „Einiges. Verabschiede dich schon mal vom Leben im Slum. Bald, mein Freund, werden wir aufsteigen. Manchester wird das pulsierende Herz des ganzen Empires werden."

„So?", fragte Christopher müde.

„Glaubst du, die lassen zu, dass die Leute weiterhin auf den Straßen rumlungern und verrecken, wenn die erst einmal den Kanal eröffnet haben? Der Frühling kommt, Christopher, Manchester wird erblühen."

„Wohl eher im Gestank von fauligem Wasser eingehen."

„Du bist eben ein Konservativer. Alle Schöngeister haben insgeheim Angst vor der Zukunft."

Christopher biss sich auf die Zunge.

„Du idealisierst die Vergangenheit und hast keine Vorstellung davon, welche Chancen vor uns liegen. Du musst den Möglichkeiten Freiräume verschaffen, damit sie Wirklichkeit werden."

„Ich idealisiere gar nichts", sagte Christopher.

„Dann bist du ein schlechter Ire, mein Freund."

„Mag sein, aber dafür bin ich schwer zu enttäuschen."

„Weil du immer das Schlimmste annimmst. Der Dichter ist grundsätzlich ein Pessimist. Zumindest, wenn er in der Stadt lebt."

„Brian, ich wäre dir dankbar, wenn du einfach mal für einen Morgen die Klappe halten würdest. Ich kann es nicht leiden, wenn Leute meinen Charakter analysieren. Machst du das auch bei deiner Freundin? Vielleicht solltest du mal in dich selbst hineinblicken? Oder analysier irgendwas anderes. Den Sternenhimmel meinetwegen, aber gönn mir mal eine Pause. Ich weiß ja schon selbst gar nicht mehr, wer ich überhaupt bin, so viel Unsinn erzählst du über mich herum."

„Nur Gutes, Christopher. Du kannst mir nicht vorwerfen, ich würde Gerüchte streuen."

„Lass mich einfach in Frieden. Weißt du, ich kann dich gut leiden, deshalb sag ich es dir im Guten: Du malst dir ein falsches Bild von den Menschen um dich herum. Du willst sie so sehen, wie du sie haben möchtest. Du idealisiert die Menschen, dabei ignorierst du aber ihre wahre Natur."

„Und was ist ihre wahre Natur?", fragte Brian dazwischen.

„Sie sind müde. Sie sind krank und erschöpft. Sie kämpfen ums Überleben und sie haben keine Zeit, einen echten Charakter zu entwickeln. Sie sind in Eile, sie sind nervös und ängstlich. Sie sind entwurzelt und einsam. Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Sie wissen nicht, was richtig ist. Sie fügen sich in Routinen ein, um sich sicher und nützlich zu fühlen. Sie interessieren sich nicht für Schöngeistiges, nur für sich selbst. Sie sind blass und grau. Ihre ganze Welt ist farb- und lichtlos. Der Geist dieser Menschen, so würdest du es nennen, glaube ich, ist verkrüppelt und ich nehme uns beide da nicht aus. Ich stehe dazu, du versuchst es zu kaschieren, indem du große Reden schwingst und von dir selbst ablenkst. Aber du bist genau wie ich und David ein Banause, ungebildet und verdammt zu einem Leben im Dreck. Es macht dir Spaß, es schön zu reden, aber schön wird es dadurch nicht. Im Grunde bist du ein Miesmacher. Du machst den Leuten die Unzufriedenheit mies, sodass sie sich arrangieren. Du bist der Konservative von uns beiden, Brian! Du hast Angst davor, dass sich etwas ändern könnte, dass die Leute aufstehen und das verlangen, was ihnen zusteht! Du würdest der Königin zuwinken und du würdest die Torys wählen, wenn sie Reformen versprechen würden, aber mit Reformen sind die Arbeiter nicht zu retten. Willst du, dass ich dir ein paar Wahrheiten sage? Reformen sind die Ketten, die uns an die Maschinen fesseln. Reformen sind die Schuhwichse, die sie uns in die Augen schmieren. Du glaubst, der Kanal wird diese Stadt zum Blühen bringen? Die Stadt wird ausbluten und mit Schlamm und Schmutz überschwemmt werden. Es wird härter für uns werden, nicht leichter. Wir sind nie diejenigen, die profitieren. Da tropft nichts zu uns herunter außer der Scheiße der Bourgeoisie."

Brian schwieg.

Obwohl Christopher wusste, dass er ihn getroffen, es ihm heimgezahlt hatte und es gerecht gewesen war, fühlte er sich schlecht. Wortlos gingen sie herüber zu den Ställen. Besser, sie würden einander heute nicht mehr begegnen...

„Komm, David, ich nehm dich mit und zeig dir, wie alles so läuft", rief Brian dem Stalljungen zu, als er die Pferde nach draußen führte.

Christopher versuchte, sich nicht zu ärgern. Er braucht das jetzt, dachte er. Jemanden, der ihm nicht widerspricht. Es ist in Ordnung, er hat es ja auch nicht leicht.

Den ganzen Tag verbrachte Christopher damit, angestrengt nicht nachzudenken, aber gerade, wenn man es unbedingt vermeiden will, suchen einen die Gedanken heim. Was, wenn er zu weit gegangen war? Was, wenn Brian nun David gegen ihn aufbringen würde? Was, wenn es Cathy schlechter gehen würde? Was wenn Rebecca daran schuld wäre? Ob er jemals die Chance bekommen würde, ihr Schwester kennen zu lernen? Aus was für einer Familie sie wohl stammte?

Es gab einige Gerüchte. Rebecca war gebildet, deshalb glaubten viele, sie stamme aus einem bürgerlichen – wenn nicht sogar adligen – Elternhaus. Vielleicht war sie eine uneheliche Tochter oder ein Findelkind? Vielleicht war sie verstoßen worden oder geflüchtet? Vielleicht war ihre Familie verarmt? Oder sie hat einen Ehemann verlassen? Oder einen Mord begangen? Ist sie vielleicht aus einem Kloster abgehauen? Bei einem reichen Gönner in Ungnade gefallen? Ist sie enterbt worden? Wieso? Hatte sie möglicherweise ihr eigenes Kind umgebracht? Lebte sie hier unter falschem Namen? Suchte man sie womöglich in Wales? Einige waren sich sicher, sie habe Zigeunerblut in sich, andere erkannten ihren Akzent als eindeutig russisch, hatten aber vermutlich nie zuvor Walisisch gehört. Sie könnte eine Spionin sein oder auf der Flucht vor eben solchen. War sie vielleicht abgebrannt und ruiniert aus den Kolonien zurückgekehrt? Versteckte sie sich vor Gläubigern oder sonst einer düsteren Vergangenheit, die sie einholen konnte? Hatte sie Schuld auf sich geladen oder war sie einfach nur vom Schicksal gebeutelt?

Da jeder irgendwie vom Schicksal gebeutelt war, bevorzugten die Menschen Geschichten, die irgendeine Art von Schuld beinhalteten. Es gab ihnen den Glauben an die eigene Handlungsfähigkeit zurück: Denn, wenn man das eigene Leben richtig versauen konnte, konnte man mit den richtigen Kniffen auch erfolgreich dem Schicksal entkommen und von nichts anderem träumten die Menschen in Manchester.

Es mochte paradox klingen und die Leute analysierten ihre Gedanken selten mit Hilfe ihres Verstandes, aber ihre Intuition war untrüglich: Schuld ist besser als Hilflosigkeit, denn Schuld beinhaltet eine Chance – auch wenn sie vertan worden war und Chancen sind Hoffnung.

Vielleicht war der Rückzug ins Private, die Rückbesinnung auf seinen Geist, was er jetzt brauchte. Seine Gedanken ließen ihn selten im Stich, wenn es darum ging, ihm die Zeit zu vertreiben. Christopher litt gleichermaßen unter der Vergänglichkeit der immer gleichen Tage und der ätzenden Langeweile, die diese brachten.

Sie verrotten in deinen Händen und bröseln dir auf die Füße, dachte er und am Abend weißt du nicht, welchen Nutzen deine Zeit gebracht hat. Geld rann ihm durch die Finger wie die Zeit und die Brotkrümel, die er für die Schwäne in den Kanal warf.

Sie haben mehr davon, dachte er sich. Mir würde sich davon nur der Magen umdrehen. Christopher fühlte sich elend, als ahnte etwas in ihm bereits, was der Abend bringen würde.

Um zu vermeiden, Brian und David noch einmal zu begegnen, trödelte Christopher, in der Hoffnung Brian würde sich beeilen, um wiederum ihm nicht begegnen. So machen das echte Männer.

So kam er also zurück zur Fabrik, als es schon zu dunkeln begonnen hatte und stellte zu seiner Enttäuschung fest, dass das schummrige, gelbliche Licht in der Kammer noch leuchtete. Das kleine Fenster war so verdreckt und stumpf, dass man lediglich schattenhafte Gestalten darin erkennen konnte. Sie bewegten sich behäbig hin und her, als warteten sie ungeduldig auf etwas, wollten aber ihre Nervosität nicht zeigen.

Das konnte nicht Brian sein, wusste Christopher sofort. Diese Langsamkeit hatte etwas Aggressives, das Brian nicht mal bei höchster Aufregung und Hektik an den Tag legte. Schatten, dachte Christopher, sind die Vorborten schlechter Nachrichten.

„Mister Jones", wurde er begrüßt, als er in die Kammer trat, „Sie lassen sich aber Zeit, ein Lieber."

„Ich komme gerade aus dem Stall", erklärte Christopher, als er dem Mann nicht die Hand geben wollte.

„Natürlich, natürlich."

Er kannte den Mann nicht, nicht persönlich zumindest. Er trug saubere, ordentliche Kleidung und ein peinlich gepflegter Bowler Hat lag auf dem schäbigen Tischchen, an dem Christopher, Brian und David normalerweise ihren Tee tranken. Christopher wusste nicht, wieso ihm das auf einmal unangenehm war. Gut gekleidete Menschen schüchterten ihn normalerweise nicht ein, aber dieser mondgesichtige Mann hatte Autorität und er war offensichtlich bereit und willens, sie gegen andere auszuspielen.

Auf den splittrigen Holzstühlen saßen Brian und David. Sie schwiegen, hatten aber eine ernste, schweigsame Mine aufgesetzt und beäugten ihn interessiert bis feindselig.

Neben der Tür stand ein zweiter, fahlgesichtiger Mann im Mantel und mit einem Zylinder auf dem Kopf. Er schaute demonstrativ auf seine Taschenuhr, sagte aber nichts.

„Anstrengender Tag, Mister Jones?", fragte das Mondgesicht jovial.

„Wie jeden Tag, Sir", erwiderte Christopher.

„Kein leichter Beruf, der Transport auf Pferdewagen, nehme ich an?"

„Was ist schon leicht", sagte Christopher ausweichend, er ahnte, wohin dieses Gespräch führen würde und er wollte es so lange wie möglich hinauszögern. Er hielt diese Art des Smalltalks für grausam, aber so zu tun, als verstünde man diese Grausamkeit nicht, nahm dem Gegner den Wind aus den Segeln.

„Der Fortschritt macht vieles leichter, Mister Jones. Wir alle blicken mit großen Erwartungen in die Zukunft. Sie ist rosig, meinen Sie nicht?"

„Nein", sagte Christopher.

„Oh, seien Sie doch nicht so pessimistisch! Manchester und die ganze Region wird endlich die Blüte erleben, die es verdient hat, die wir alle verdient haben."

„Sie meinen den Kanal."

„Ja, den Kanal. Er wird ja bald eröffnet und..."

„Sparen Sie sich den Mist!", rief Brian dazwischen und es erschrak sogar Christopher.

„Chris, wir sind unsere Jobs los. Sie transportieren ihre Stoffe jetzt lieber per Schiff, die Halsabschneider!"

Der Rest des Gesprächs war eher unangenehm für alle Beteiligten. Lediglich der fahlgesichtige Mann neben der Tür tat unbeteiligt und gelangweilt.

„Ich wollte es Ihnen persönlich mitteilen", sagte der Mann, als er seinen Hut nahm und sich zum Gehen anschickte.

Christopher sagte nichts. Die Herren gingen.

Wäre Christopher ein rechthaberischer Charakter gewesen, hätte er jetzt angeführt, dass er es ihnen ja gesagt hätte, aber dieser Triumph schmeckte so bitter, dass er ihn lieber zusammen mit seinem Groll herunterschluckte, statt ihn auszukosten. Er klopfte Brian stattdessen auf die Schulter und sagte: „Ich will, dass du weißt, dass wir Freunde bleiben und dass du dich an mich wenden kannst, wenn du Hilfe brauchst."

„Du brauchst selber Hilfe, alter Junge."

„Rebecca hat ihr eigenes Einkommen und damit werden wir wohl eine Weile auskommen müssen. Aber du..."

„Mach dir keine Sorgen", winkte Brian ab, „Es wird sich schon was ergeben."

„Was wird aus den Pferden?", fragte Christopher, um das unangenehme Thema abzuschließen.

„Werden wohl geschlachtet. Sind schon ziemlich alt und zerschunden, die Viehcher. In diesem Job wären sie ohnehin nicht alt geworden."

„Das ist nicht fair."

„Was ist schon fair?"

„Ich werd's mal auf einem Boot versuchen?", mischte sich David ein, „Wenn das mit dem Schiffsverkehr richtig losgeht, werden sie bestimmt Leute suchen."

„Er hat Recht", fand Brian, „Wir müssen mit dem Fortschritt gehen, sonst kommen wir unter die Räder."

Christopher sagte nichts. Bevor er, auf einem Schiff anheuerte, würden die Iren die Republik ausrufen.

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