Kapitel 5

Rebecca sagte oft Sätze wie: „Ich wünschte, ich könnte mein Leben planen. Ich wünschte, ich wüsste heute Abend, was ich morgen tun werden." Sie lebte in ständiger Anspannung, ständiger Ungewissheit und um ehrlich zu sein auch in ständiger Furcht. Ihre Existenz hing immerhin vom wankelmütigen Wohlwollen ihrer Mitmenschen ab.

Christopher hingegen wünschte sich etwas mehr Unberechenbarkeit. Das hieß, er wünschte sich mehr von dem, was er für Unberechenbarkeit hielt: Angenehme Überraschungen.

Seiner Ansicht nach hatte er in seinem Leben seinen Anteil an unangenehmen Wendungen bereits hinter sich und war nun bereit für die süßen Seiten des Lebens. Stattdessen sah er sich gefangen in einer sich ewig wiederholenden Routine: Nicht sehr nervenaufreibend, aber auch nicht sehr befriedigend. Er lebte ein fast bourgeoises Leben, wenn nur der Schmutz und das frühe Aufstehen nicht wären. Trotzdem wusste er, dass es ihm immer noch besser ging, als den meisten. Arbeitslosen Vätern, die eine Frau und sieben Kinder zu versorgen hatten zum Beispiel oder Iren, die Irland nie gesehen hatten und Salford für eine Blaupause der gesamten Welt hielten. Sie waren wurzellos und ausgestoßen, gehörten nirgendwo hin und wussten nichts von dem Ort, von dem ihnen eingeredet wurde, dass sie sich dorthin zurück scheren sollten.

Manchmal, wenn Christopher nach seiner Schicht an den Kanälen und Baustellen entlang spazierte, sah er die Schwäne und beneidete sie einerseits um ihre Grazie und andererseits um ihren Müßiggang. Sie sähen nicht, sie ernten nicht, dachte er, und die Königin ernährt sie doch.

Und manchmal wenn er den Schwänen ein paar Krümel hinwarf, traf er einen Bekannten, einen Freund oder einen, der gehört hatte, dass er einen großen Blonden am Kanalufer aufsuchen und ansprechen sollte. Dann gingen sie ein Stück gemeinsam und unterhielten sich.

Und wenn er in genügend melancholischer Stimmung war, sagte Christopher schließlich: „Wir wären alle besser dran, wenn wir uns einfach nach Amerika absetzen würden. Ich weiß nicht, wieso wir uns das hier überhaupt antun."

„Weil es irgendjemandem angetan werden muss, damit das System funktioniert. Und glaub mir, drüben haben sie das gleiche System, nur dass sie ihren König selbst wählen."

Und Christopher schwieg.

Heute aber ging er nicht zu den Kanälen. Er hatte den Schwänen gegenüber ein zu schlechtes Gewissen. Gestern Nacht wollte er sie noch umbringen, da konnte er ihnen doch heute nicht scheinheilig die Reste seiner Pausenmahlzeit überlassen. Außerdem war das Wetter zu schlecht. Ein fieser Sprühregen hatte ihm im Laufe des Tages die Kleider bis auf die Haut durchnässt und selbst Schnee und Glatteis wären angenehmere Bedingungen gewesen, um draußen unterwegs zu sein.

Während er auf dem Karren saß, konnte Christopher es meist ertragen, wenn ihm Wind und Kälte ins Gesicht schlugen. Er spürte sie kaum, wenn er sich konzentrieren musste. Aber sobald er alle seine Lieferungen beendet hatte, wurde er sich wieder gewahr darüber, dass er auch einen Körper besaß.

Er trottete nach Hause, nachdem er die Pferde versorgt und David einen schönen Abend gewünscht hatte. Brian war noch nicht wieder zurück und wahrscheinlich mitsamt seinem Karren irgendwo versackt. Christopher machte sich keine Sorgen, dass er ihn morgen zerlumpt und gesprächig wie eh und je im Stall antreffen würde.

Jeden Tag musste er gut drei Meilen von Hulme bis nach Salford und wieder zurück laufen und er wünschte sich, endlich genug Geld für ein Fahrrad zurücklegen zu können. Aber es kam immer etwas dazwischen. Das war einer der Nachteile, die sein Umzug zu Rebecca mit sich gebracht hatten. Als die Familie noch eine Familie gewesen war und sie alle zusammen in Salford gewohnt hatten, konnte er seinen Weg zu und von der Arbeit in ein paar Minuten zurücklegen. Jetzt lebte nur noch sein Vater in dem alten, baufälligen Häuschen, das so unpersönlich war, dass es seinen Bewohnern jegliche Individualität aussaugte. In all den Jahren war es niemanden in diesem Slum gelungen, der Gegend Charakter zu verleihen. Charakter war nicht gefragt. Charakter war nicht notwendig.

Nachdem Jonathan fortgezogen war, besuchte Christopher seinen Vater wieder regelmäßiger und stellte fest, dass er herunter kam. Der Alte weigerte sich stur, auch nur einen Handschlag an Hausarbeiten zu erledigen, weil er dies als Frauenarbeit erachtete. Dabei ignorierte er jedoch stur, dass es in seinem Haushalt keine Frau mehr gab.

Ihre Beziehung war nicht leicht. Christophers Vater bevorzugte seinen erstgeborenen Sohn Jonathan und er verabscheute „das Weib mit dem sein Sohn zusammenlebte, diese Hexe". Trotzdem fühlte Christopher sich verantwortlich dafür, dass sein Vater nicht vollständig verwahrloste.

„Mutter hätte es soweit nicht kommen lassen", sagte er, wenn er den Nachttopf ausleerte oder verschimmelte Essensreste von nicht gespültem Geschirr kratzte. Aber er bekam nie eine Antwort. Sein Vater weigerte sich beharrlich vom Tod zu sprechen, als könnte die Erwähnung von Menschen, die ihm einst etwas bedeutet hatten, ihn noch mal verletzen.

Wenn er sich beeilte, schaffte Christopher seinen Besuch und das Aufräumen der kleinen Wohnung in zwanzig Minuten und wenn er dann schnell ging, war er in weniger als einer Stunde und noch vor Sonnenuntergang zu Hause bei Rebecca.

Sie bewohnte eines der modernen Reihenhäuser, die Rücken an Rücken gebaut waren. Ihre Haustür ging nach Hinten zum Hof, sodass sie den besten Zugang zum Waschhaus hatte und ihre Adresse von der Hauptstraße aus schwieriger zu erreichen und einzusehen war. Den Hof und das Waschhaus teilte sie sich mit sechs weiteren Familien, aber alle hatten Verständnis dafür, dass Rebecca das saubere Wasser am nötigsten brauchte – ein Privileg, das sie nur manchmal eigennützig in Anspruch nahm. Die Hexe wird zwar nicht gemocht, aber so lange respektiert, wie sie sich um die unangenehmen Angelegenheiten kümmerte.

Üblicherweise kam Christopher nach Hause und Rebecca erwartete ihn mit einer dampfenden Tasse Tee und einer Mahlzeit, die meinst aus einer Scheibe Schwarzbrot mit Schmalz bestand. Er konnte es ihr nicht übel nehmen. Sie meinte es gut und sie hatte sicher mehr Ahnung von gesunder und nahrhafter Ernährung als er, aber er hasste Schwarzbrot.

Sein Vater hatte immer gesagt: „Ich habe nicht meine Heimat verlassen, um in England wie ein Bettler zu leben! Wer arbeitet, muss etwas besseres bekommen als ein Faulpelz! Gebt mir Essen, das nach etwas schmeckt!" und Christopher lebte nach der gleichen Devise: Wer sich abrackerte, hatte ein Recht auf Weißbrot und Zucker in seinem Tee. Irgendwo musste es schließlich einen Unterschied geben zwischen den Fleißigen und den anderen...

Rebecca verstand oder hielt nichts von diesem Gedanken. Sie sagte: „Gerade wer arbeitet, muss etwas ordentliches zu sich nehmen!" und sie backte unerbittlich ihr säuerliches Schwarzbrot, das Christopher am Ende des Tages meist in den Kanal warf, um dort die Enten und Schwäne zu mästen.

Irgendeinen Unterschied musste es doch geben. Wenn alle das gleiche haben und bekommen, wieso sollte man sich dann überhaupt anstrengen? Es konnte doch nicht sein, dass der Arbeiter, der das Rückgrat dieser Gesellschaft war, gleichzeitig auch ihren Bodensatz darstellte, der saures Brot und bitteren Tee vorgesetzt bekam?

Dummerweise hatte Christopher sich die einzige Frau auf der Welt zur Freundin genommen, für die es absolut keine Unterschiede gab. „Sie weinen, schreien und bluten alle gleich", sagte Rebecca, „Aber denen, die ihr Gemüse essen, verfaulen die Zähne nicht so schnell." Das stimmte leider. „Kalziummangel", erklärte Rebecca, „und zu viele Schwangerschaften."

Die allgemein anerkannte Meinung zu Zähnen stand hingegen im krassen Gegensatz dazu. Sie lautete: „Besser, wenn die lästigen Dinger raus sind." Oder – in etwas abgeschwächter Form: „Mit jedem verlorenen Zahn gewinnt man an Persönlichkeit!" Als wären Schönheit und Ästhetik die Feinde des Charakters... Christopher schwieg dazu. Er war mit solchen Weisheiten aufgewachsen, konnte sie heute aber weder verteidigen, noch ganz von sich weisen. Rebecca war die Wissenschaftlerin, er war der Handlanger.

Es gab eine stillschweigende Übereinkunft zwischen ihr und ihm: Wenn er nach Hause kam, waren nach Möglichkeit keine Patientinnen mehr im Haus. Christopher wollte nicht in die Verlegenheit kommen, fremden Frauen in verfänglichen, intimen und peinlichen Situationen zu begegnen und Rebecca schätzte ihre freien Abende, die sie mit Brotbacken und Kochen verbringen konnte.

Als Christopher heute jedoch in den Hinterhof ihres Blocks eintrat überkam ihn eine vage Vorahnung, dass hier etwas nicht stimmte. Später argwöhnte er, dass er im Augenwinkel einen unbewussten Blick ins Waschhaus geworfen haben musste. Dort nämlich stapelte sich ungewaschenes Bettzeug, das an dieser Stelle und zu dieser Zeit normalerweise nichts zu suchen hatte. Und weil nur Rebecca eine solche Menge an Bettzeug überhaupt besaß, musste sie es gewesen sein, die keine Gelegenheit zum Waschen gehabt hatte.

Sein ungutes Gefühl bestätigte sich, als er ins Wohnzimmer eintrat und dort nicht einen Teller und den verhassten Laib Schwarzbrot vorfand, sondern Brian und eine Flasche Whiskey.

„Hier, setz dich!", sagte er und bot Christopher die Flasche an.

Christopher blieb stehen und blickte ihn eine Weile fragend an, weil ihm keine Formulierung einfiel, wie er die Frage, was Brian hier mache, stellen konnte, ohne vorwurfsvoll zu klingen.

„Ich hab William den Karren überlassen. Er will nur kurz ein paar Möbel abholen bis er wieder hier ist, müssten wir hier fertig sein."

„Was ist denn los?", fragte Christopher.

„Es hat sich halt ergeben, dass William den Karren gebraucht hat und ich war gerade hier."

„Nein, ich meine, warum bist du hier? Doch nicht nur, um William den Karren und die Pferde aus der Fabrik zu leihen?"

„Nein, natürlich nicht. Das hat sich nur so ergeben."

Brian stand ganz schön neben sich und das lag mit Sicherheit am Alkohol. Wollte er in dem Zustand die Pferde zurück in den Stall bringen?

„Wenn William zurückkommt, überlass den Karren mir", schlug Christopher vor, „Du kannst doch in der Verfassung die Tiere nicht mehr versorgen."

„Weißt du, Christopher, wir alle sind Produkt unserer Umgebung. Wir werden unweigerlich damit konfrontiert und müssen uns entscheiden, wie wir auf sie reagieren. Wir können uns anpassen, um Konflikte zu vermeiden oder wir können versuchen, auszubrechen und geraten dabei unweigerlich in Konflikte. Und unsere Umgebung ist eine Welt voller Konflikte, Christopher. Egal, was wir tun, wir müssen immer gegen irgendwas oder irgendwen kämpfen. Aber du, der Herr allein weiß wie, hast es irgendwie geschafft, da ohne Blessuren herauszukommen. Was ist dein Geheimnis, Christopher?"

„Du redest wirres Zeug!", erwiderte dieser schroff und nahm die Whiskeyflasche an sich, „Ist die von Rebecca?"

„Sie war so freundlich."

„Wo ist sie überhaupt?"

„Dein Geheimnis, Christopher, ist, dass du nicht Teil und nicht Produkt deiner Umgebung bist. Du bist der Poet, der nur beobachtet, aber sich nie auch nur eine Fingerspitze schmutzig macht."

So langsam ging es ihm auf die Nerven. In seinem ganzen Leben hatte Christopher noch keinen literarischen Text geschrieben, aber bevor er protestieren konnte, winkte Brian ab: „Ich weiß, ich weiß, du hältst dich für einen loyalen, unscheinbaren Mann, der keinen Ärger haben will und nach bestem Wissen und Gewissen handelt, aber sei ehrlich zu dir selbst, Christopher, das bist du nicht."

„Nein, natürlich bin ich das nicht. Du kannst Menschen nicht Kategorien zuordnen und erwarten, dass sie sich deiner Vorstellung zu Folge verhalten, weil es in dein Weltbild passt, weil es dir so leichter fällt, dich zurecht zu finden."

„Oh, nicht ich mache die Charaktere", sagte Brian, „Die Umstände tun es. Das sagte ich doch bereits. Es gibt nicht immer nur zwei gegensätzlich Optionen. Es gibt nicht nur Ja oder Nein. Du, mein Freund, hast dich dazu entschieden, dich nicht zu verhalten."

„So? Dann bin ich also aus Stein?", fragte Christopher.

„Im Gegenteil. Du bist aus Geist. Nichts berührt dich, aber du berührst alles."

„Brian, du bist ja völlig neben der Spur und du hast mir immer noch nicht erklärt, was du hier eigentlich tust."

„Na, ich warte."

„Doch nicht auf deinen Karren?"

„Nein, auf meine Freundin natürlich", sagte Brian, als wäre das eine offensichtliche Tatsache.

„Und die willst du hier treffen?", fragte Christopher.

„Aber nein. Sie ist doch schon längst hier."

„Cathy ist hier?"

Brian machte eine ungelenke Bewegung und deutete nach oben: „Sie ist in eurem Schlafzimmer da oben."

Jetzt erst ließ sich Christopher mit gespielter Erschöpfung auf einen Stuhl fallen und sagte: „Oh nein!"

„Naja, sie hat darauf bestanden. Da konnte ich es ihr ja nicht verwehren."

„Du meinst, du hättest für das Kleine gesorgt?"

Brian lächelte ein trauriges, alkoholschwangeres Lächeln, sagte aber nichts.

„Ist es denn von dir?", fragte Christopher.

„Wer weiß das schon? Es ist ihr Kleines, ich denke, das beschreibt es am besten. Ihres ganz allein."

Geräusche aus dem oberen Stockwerk drangen als dumpfes Rumoren nach unten ins Wohnzimmer. Etwas oder jemand bewegte sich. Jemand sprach in energischem, gereizten Ton.

„Wie lange ist sie schon da oben?", fragte Christopher vorsichtig, damit es nicht so klag, als würde er um sein Schwarzbrot fürchten.

„Ne ganze Weile", meinte Brian.

Aus ihm war nichts herauszubekommen und Christopher entschied sich, zu schweigen. Er hoffte nur, Cathy würde nicht die Nacht über bleiben müssen. Manchmal behielt Rebecca die Mädchen da und das waren die unangenehmsten Nächte. Sie jammerten und weinten durchgehend. Christopher wagte es nicht, sich darüber zu beschweren, denn was wusste er schon davon, aber er litt unter der Schlaflosigkeit. Er litt unter dem Leiden anderer und darunter, dass man ihm vorwarf, Mitleid zu empfinden, wo er doch nichts davon wissen konnte. „Hör auf, dich da einzumischen!", zischte Rebecca ihn dann an und er schwieg.

Seltsam, dachte Christopher, dafür, dass man mich einen Poeten nennt, bringt man mich auffallend oft zum Schweigen.

„Es ist nichts!", hörte er schließlich von oben. Rebecca war aufgebracht. „Es ist nichts! Rein gar nichts! Ich brauche es nicht noch einmal zu versuchen! Da ist absolut nichts! Nein, ich werde nicht! Hör mir mal zu, willst du vielleicht unbedingt draufgehen? Lass es gut sein, es ist nichts!"

Dann polterten Schritte die Treppe hinunter. Rebecca hatte die Angewohnheit, wenn sie wütend war, ihr ganzes Gewicht in jeden Schritt hineinzulegen und zu stampfen wie ein Elefant und Christopher fürchtete um die Treppenkonstruktion, die zwar noch nicht morsch sein konnte, aber doch nicht unbedingt von bester Qualität und Verarbeitung war. Obwohl sie sie gehört hatten, platzte Rebecca ins Wohnzimmer und jagte sowohl Brian als auch Christopher einen Heidenschrecken ein. Von einer solchen Frau wollte man nicht erwischt werden, egal bei was.

„Entschuldige, Brian, aber Cathy scheint ein etwas schwerwiegenderes Problem als eine Schwangerschaft zu haben."

Brian hustete und nuschelte etwas Unverständliches vor sich hin.

„Christopher, ich nehme an, du hast beim Heimkommen den riesigen Haufen Wäsche geflissentlich übersehen, sonst wärst du sicherlich auf die Idee gekommen, dich ein wenig nützlich zu machen, nachdem du erfahren hast, dass ich beschäftigt bin?"

„Aber Liebes, atme doch erst einmal durch!", sagte Christopher, stand auf und nahm seine Freundin in den Arm. Er hatte die Tränen der Überanstrengung in ihren Augen genauso wenig übersehen wie den Wäschehaufen.

„Was ist denn los?", fragte Brian.

„Cathy ist nicht schwanger, ist nie schwanger gewesen und will es mir partout nicht glauben. Wie kommt sie nur auf die Idee? Wie ist wie besessen davon. Kann es sein, dass sie vielleicht unbedingt schwanger werden will? Ich meine, man kennt das ja. Man will etwas, das man sich nicht leisten kann und beginnt es dann zu hassen. Was ist nur los mit ihr? Ich kann es nicht noch einmal versuchen! Es ist nichts zu machen. Es ist ein völlig unnötiges Risiko, es weiter zu versuchen."

„Wie geht es ihr denn?" fragte Brian.

„Hast du nicht zugehört?", blaffte Rebecca zurück.

„Hör mal, Becky, das Mädchen hat ne Menge mitgemacht. Und Cathy lässt sich nichts sagen, das weißt du. Nicht von mir und nicht von dir. Sie ist nicht so weit gekommen, weil sie sich immer untergeordnet hat."

„Ach ja?", keifte Rebecca zurück, zügelte sich dann aber, „Wenn du mich fragst, sind die meisten Frauen in der Situation, in der Cathy zu sein glaubt, weil sie sich immer unterordnen."

„Bitte, keine Grundsatzdiskussionen!", mischte sich Christopher ein, „Wie geht es ihr denn jetzt?"

„Willst du, dass ich es diplomatisch ausdrücke?"

„Drück es aus, wie du willst", sagte Christopher beruhigend.

„Sie blutet wie ein abgestochenes Schwein und ich weiß nicht, ob es jemals wieder aufhören wird!"

„Aber..."

„Ja, was glaubst du, wie sowas abläuft?"

„Jetzt reg dich erstmal ab, du bist ja ganz durcheinander...", sagte Christopher und machte damit alles noch schlimmer.

„Durcheinander? Wenn hier eine durcheinander ist, dann Cathy da oben! Sie hat mich angeschrien, ich solle ihr das verdammte Balg aus dem Bauch schneiden, wenn es nötig ist, und wenn die dabei draufgehe! Sie ist nicht ganz richtig da oben. Sie will dass ich sie umbringe, damit sie es selbst nicht machen muss!"

„Also das ist jetzt aber...", ein Blick genügte, um Christopher zum Schweigen zu bringen. Schon wieder. Hatte er in seinem eigenen Leben eigentlich nichts zu sagen? Er hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken, die Wäsche im Hof musste gewaschen werden.

„Komm, Brian, wir stören hier nur", sagte er schließlich und ließ endlich auch Rebecca los, die einen Schluck aus der Whiskeyflasche nahm und wieder nach oben stapfte.

„Es ist nicht so einfach", gestand Brian, als die beiden Männer draußen auf dem Hof standen, „Du weißt, die Frauen..."

„Gott, ich weiß nichts über Frauen!", seufzte Christopher.

„Du weißt doch zumindest, wie sie anatomisch... also rein äußerlich zumindest..."

„Meine Güte, Brian, worauf willst du hinaus?"

„Cathy hat es nicht leicht, weißt du und seien wir ehrlich, die meisten Männer scheren sich einen Dreck darum. Sie sagen, das sei die Angelegenheit der Weiber, da mischen wir uns nicht ein und halten das für die Gewährung von Freiheiten. Christopher, hast du jemals eine Frau geliebt? Ich meine so richtig mit dem Herzen? Ich sage, dir wenn du wirklich, jemanden liebst, dann hörst du auf, dich nicht einzumischen. Dann interessierst du dich dafür, was mit den Leuten passiert, wenn du gerade nicht hinsiehst und du siehst hin, wenn du normalerweise wegsehen würdest. Dann ekelst du dich nicht mehr, sondern machst dir eben die Hände schmutzig."

„Und du hältst mich für einen Poeten?"

„Du kannst das mit den Worten vielleicht besser, aber ich habe Dinge gesehen, die du nicht in Worte fassen würdest und ich erst recht nicht."

„Es ehrt dich, dass du Cathy helfen willst", erwiderte Christopher unverbindlich. Er war nicht sicher, wohin dieses Gespräch sie führen würde und es war ihm unangenehm, es sich vorzustellen.

„Es ehrt mich? Chris, ich bin nicht hier, um mir Ehre zu verdienen! Es geht nicht immer nur um einen selbst!"

„Du bist ein guter Kerl, das wollte ich sagen."

„Du verstehst immer noch nicht, was ich sagen will. Cathy ist nicht verrückt. Sie sieht die Dinge nur anders. Subjektiv. Du und ich, wir können das nicht nachvollziehen, aber ich hatte gehofft, Rebecca könnte es. Schließlich hat sie mit solchen Fällen ja Erfahrung."

„Ich bin nicht sicher, ob es eine subjektive Schwangerschaft gibt. Ich meine, entweder man ist es oder man ist es nicht."

„Es ist weniger die Schwangerschaft, als wie es dazu gekommen ist, verstehst du?"

„Nein", gestand Christopher.

„Also, man muss dir ja wirklich alles erklären, Junge. Als würdest du nicht auf diesem Planeten leben und wärst nicht vertraut mit... na du weißt schon... allem."

„Ich bin vertraut mit dem Vorgang, wenn du das meinst."

„Christopher, in Gottes Namen, wir sind doch keine Schuljungen mehr! Also, stell dir vor, du findest eine moderat gefüllte Brieftasche auf der Straße und du gehst damit zum nächsten Lebensmittelhändler und kaufst für dich und deine Liebste eine Flasche Wein, um diesen Glücksfund zu feiern. Und dann trinkt ihr die ganze Flasche an einem Abend aus und deine Liebste ist ganz euphorisch und beglückt und du bist ganz wuschig und weil du dein Mädchen schon lange nicht mehr so euphorisch erlebt hast, nimmst du sie mit dir nach oben in dein Bett und dann treibt ihr es, du verstehst? Ich meine, natürlich läuft das so tagtäglich in jedem Haus ab, auch wenn kein Wein im Spiel ist."

„Brian, worauf willst du hinaus?", rief Christopher genervt.

„Die Frage ist, Christopher, wie weit darf man gehen und wie merkt man, wenn man zu weit geht und was muss man tun, wenn man zu weit gegangen ist?"

„Bist du etwa zu weit gegangen?", fragte Christopher.

„Du meine Güte, nein! Was denkst du denn von mir? Der Punkt ist, dass du und ich vielleicht eine andere Grenze für „zu weit" ziehen als Cathy und Rebecca und die Frage ist, welche gilt denn nun?"

„Na, ich nehme doch an, es gilt die Grenze der Damen."

„Der anständige Mann achtet die Grenze der Damen. Der Wüstling kennt keine Grenzen. Der Widerling versucht seine eigene Grenze als die gültige durchzusetzen. Die aufrechte Dame besteht auf ihren Grenzen und die gebrochene Dame wird keine Grenzen mehr erkennen. Cathy, ist eine aufrechte Frau.", sagte Brian.

„Und sie ist an einen Wüstling geraten?"

„Ach Christopher!", seufzte Brian, „Jede Frau wird mit einem Wüstling fertig. Wüstlinge sind Schwächlinge. Es sind die Widerlinge, die die Probleme verursachen. Sie reden den Frauen ein, dass sie Unrecht haben, dass sie kleinlich seien, dass sie falsche Signale gesetzt hätten, dass sie selbst schuld seien, dass sie zimperlich oder prüde seien, keinen Spaß verstünden, boshaft und schlecht seien. Du weißt, was Cathy tut, um ihr Geld zu verdiene?"

„Ja", gab Christopher zu.

„Es gibt da diesen Schnösel, der zu ihr kommt, weil er sie „amüsant" findet. Jensen heißt er. Du kennst ihn vielleicht."

Christopher schüttelte den Kopf.

„Egal, darum geht es ja nicht. Der Kerl jedenfalls macht sich einen Spaß daraus, Cathy um ihr Geld zu betrügen. Er behauptet, er hätte es ihr gegeben, sie hätte es verlegt, sie sei gierig und wolle ihn betrügen. Er erzählt ihr auch, sie hätte zu was auch immer zugestimmt, obwohl sie sich an nichts derartiges erinnern kann und dann drängt er sie dazu, es doch zu machen. Jensen redet Cathy ein, dass sie verrückt sei, verstehst du. Und jetzt kommt Rebecca und sagt dasselbe? Wem, wenn nicht einer anderen Frau, soll Cathy bitte vertrauen, wenn sie sowieso schon nicht mehr weiß, was wahr und was falsch ist?"

„Und sie glaubt, dass sie von diesem Jensen schwanger sei?", fragte Christopher.

„Jedenfalls will sie partout dieses Kind nicht."

„Wenn es denn eines gibt."

„Cathy wird sich nicht damit abfinden, dass man sie verrückt nennt. Je mehr Rebecca ihr erklärt, dass sie nicht schwanger ist, desto mehr wird sie glauben, dass sie es doch ist. Cathy ist eine aufrechte Frau. Sie zieht ihre eigenen Grenzen."

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