Kapitel 4
„Frauen", sagte Brian, „sind zu schade für diese Welt. Sie sollten erst anfangen zu existieren, wenn wir hier alles in Ordnung gebracht haben."
„Vielleicht haben wir ja erst die Unordnung verursacht", murmelte Christopher, in den Dampf des heißen Tees, der von der Tasse aufstieg, die ihm die Hände wärmte. Er war kein Morgenmensch und hasste Brians allmorgendliche Anwandlungen von chronischer Philosophie. Dieser Mann schien nie müde oder erschöpft zu sein. Er redete von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang und im Schlaf vermutlich ebenfalls.
Vermutlich ist er deshalb immer als erster hier, dachte Christopher, seine Frau hat ihn rausgeschmissen und er muss im Stall schlafen.
Tatsächlich gab es in der kleinen Kammer der Stallarbeiter alles, was ein Mann zum Überleben brauchte: Einen Tisch, drei Stühle, einen Rasierspiegel an der Wand, einen kleinen Kamin und einen verbeulten Teekessel. Von den anderen Arbeitern der Fabrik unterschieden sich die drei Männer hier dadurch, dass ihr Arbeitsrhythmus nicht durch das Rotieren von Maschinen und das Ticken der Uhr bestimmt wurde, sondern durch den Willen oder Unwillen der Pferde, die sich nicht an vorgeschriebene Arbeitszeiten hielten. Das gab Brian, Christopher und David die Möglichkeit, die dunklen Wintermorgen, wenn die Pferde länger brauchten, um wach zu werden, ruhig anzugehen und erst einmal zu frühstücken.
Während Brian redete, schmollte Christopher für gewöhnlich, aber David, der naive Stalljunge, hörte mit eifriger Neugier zu, als hielte er den alten Hochstapler für den Papst persönlich. Das missfiel Christopher, denn Brian, der eigentlich nichts von dem, was er sagte, wirklich ernst meinte, merkte nicht, was für einen großen und schädlichen Einfluss er auf das Gemüt den Jungen hatte. Irgendwann würde er ein unangenehmes Gespräch mit ihm darüber führen müssen, aber nicht heute, nicht zu so früher Stunde und überhaupt ging es ihn nichts an.
„Und deshalb sind die Wesen, die wir heute Frauen nennen eigentlich nur die Vorstufen zu dem, was sie irgendwann sein werden, wenn wir geworden sein werden, was wir sein können."
„Du hörst dich an wie ein durchgedrehter Straßenprediger", knurrte Christopher und das war ein Fehler, denn nun wusste Brian, dass ihm jemand zuhörte.
Sofort fuhr er mit noch mehr Enthusiasmus fort: „Es sind die Visionäre, die die Welt verändern, nicht die Angsthasen und wenn wir es nicht sind, die aufwachen, werden es die Frauen sein und dann gnade uns Gott. Für die Männer ist die Welt verloren, sobald die Mädchen nicht mehr davon träumen, geliebt und geheiratet zu werden. Und ihr Schlaf ist leicht und er wird immer leichter, während wir Männer gar nicht realisieren, dass wir ebenfalls nur Träumen hinterherjagen. Die Frauen wissen, dass ein Abschied von Wünschen und Träumen einer Befreiung gleichkommt. Nur wir glauben, dass es eine Ernüchterung darstellen würde. Wir suhlen uns in unserer Hoffnung, als wäre sie kein Elend, sondern eine besondere Auszeichnung. Männer haben doch in dieser Welt nichts erreicht, mit dem sie nicht die holde Weiblichkeit hätten beeindrucken wollen. Ohne die Frauen – nein, ohne die Vision der Frauen – gäbe es keine Kultur, keine Kunst, keine Sitten, keine Moral. Es gäbe nichts als schmutzige Witze und mottenzerfressene Socken. Wir sind die Werkzeuge. Wir sind ihnen vollkommen ausgeliefert."
„Brian, hast du die letzte Nacht mit deiner verrückten Konkubine verbracht? Hat sie dir diesen Schwachsinn in den Kopf gesetzt?"
„Oh, blinder, naiver Christopher", belächelte Brian seinen Kollegen, „Unterschätze nicht die Klugheit der Frauen. Wo immer sie ihre Finger im Spiel haben, herrschen Harmonie und Vernunft. Wo aber der Mann seine Männlichkeit auslebt, da herrschen Krieg, Chaos und Verheerung."
„Du bist also für die Einführung des Matriarchats?", fragte Christopher, „So kann nur ein Mann denken, der die Frauen nicht kennt. Sie sind genauso verdorben wie wir, glaub mir. Nicht, dass mich das stören würde. Ich begrüße es."
„Die Frauen sind verdorben vom männlichen Geist, unter dem sie leben müssen", behauptete Brian.
„Also ich kenne Frauen, die dir für diese Aussage eine scheuern würden."
„So?"
„Du versuchst doch nur, dich bei ihnen einzuschmeicheln. Gib es zu. Wenn ich wetten müsste, würde ich sagen, deine Freundin hat dich mal wieder verlassen und du suchst nach einem Weg, sie zu besänftigen. Verdorben vom männlichen Geist... Hörst du dir eigentlich selbst zu? Frauen leben, wenn schon, unter dem Geist der Klassengesellschaft. Dein Problem, Brian, ist, dass du außer dir selbst keinen Menschen verstehst und leider niemand so tickt wie du."
„Das ist der Unterschied zwischen uns, Christopher, mein Freund: Du kannst dir nicht vorstellen, dass du verloren bist, ich hingegen akzeptiere es. Ich bin ein Realist, du bist ein Romantiker."
„Ich?", rief Christopher amüsiert aus, „Ich bin ein Romantiker? Und du bist ein realistischer Visionär? Bist du sicher, dass du da nichts in den Tee hinein getan hast, das da nicht hineingehört?"
„Alles, was ich in meinen Tee mache, gehört dort hinein", meinte Brian knapp und nahm demonstrativ einen Schluck, „Das Problem bei euch Romantikern ist, dass ihr die Wahrheit liebt, aber die Lüge hofiert, weil ihr das, was ihr liebt ebenso fürchtete. Ich hingegen fürchte mich nicht vor der kühlen und schonungslosen Erkenntnis, dass diese Gesellschaftsordnung verdammt ist."
„Zumindest ist deine Radikalität bewundernswert", bemerkte Christopher.
„Radikalität ist, was unser Überleben sichern wird. Deine Melancholie wird dich hingegen nicht weiterbringen. In ihr wirst du versinken. Die Gegenwart ist ein Sumpf, du musst strampeln, um herauszukommen. Du hättest Dichter werden sollen, Christopher, da gehört Melancholie zu den Verkaufsargumenten. Wer mit seinem Weltschmerz Geld verdienen will, muss Dichter werden, nicht Baumwollfahrer. Und du wärst ein guter Dichter", Brian klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter, „Dich würden die Frauen anhimmeln, weil Frauen immer die anhimmeln, die nichts von dieser Anhimmelei wissen wollen. Gute Strategie. Benutz sie als Muse, aber lass sie dich niemals glücklich machen. Frauen sind dazu da, Männer unglücklich zu machen, denn nur das Unglück der Männer ist der Wegbereiter des Fortschritts. Ohne unser Unglück keine Kultur und ohne Frauen keine Unglück. Ja, den Dichtern gehört die Zukunft. Gedichte sind stärker als Bilder. Bilder sind immer zu einem gewissen Grad Lügen, weil sie Posen zeigen, oder die Dinge, die ihrer Aussage entgegenstehen einfach wegschneiden. Sie sind Diskussionen ohne Gegenrede. Worte hingegen sind die Anti-Pose. Sie sind der Kern von allem. Pure, reine Sprache: Der Stoff, aus dem Ideen sind und sie bergen in sich bereits ihr Gegenteil. So wie jeder Mensch in sich selbst seinen Widerspruch trägt."
„Nun ist es aber genug, Brian", meinte Christopher, „Bist du Karrenlenker oder Philosoph?"
Brian grinst: „Ich bin beides. Das ist ja, was ich meinte. In jedem Arbeiter steckt ein Intellektueller. So viele Menschen. So viele Gedanken. So viele Gefühle. Wollten wir sie alle kennen und verstehen lernen, würde uns der Schädel platzen."
„Ach?"
„Das ist der Grund für alle Übel der Welt, Christopher. Wir sind zu schwach für all die Empathie, die wir aufbringen müssten, um gerecht sein zu können. Also sind wir lieber grausam und gleichgültig."
„Düstere Aussichten, was?" rief Christopher David zu, um den Bann zu brechen, den Brian aufzubauen im Begriff war. Der Junge sollte nicht anfangen, diesen Quatsch für hochgeistige Erkenntnisse zu halten. Nichts ist gefährlicher als ungebildet zu sein, dachte er. Denn: Wer ungebildet ist, kann nicht zwischen Ernsthaftigkeit und Spaß unterscheiden, erkennt weder Wahrhaftigkeit, noch Verführung. Sie glauben entweder alles oder nichts.
Als Christopher wenig später seien Karren durch den morgendlichen Nebel lenkte, dachte er daran, dass ihm innerhalb von wenigen Stunden gleich zwei Personen unabhängig voneinander damit aufzogen, dass er etwas von einem Dichter habe.
Er scheiterte daran, so zu tun, als wüsste er nicht, wie sie darauf kamen und gestand sich schließlich ein, dass ihm die Vorstellung gefiel, in einer einsamen Blockhütte an der Küste zu wohnen und das raue Klima in Versen festzuhalten. Er würde das Salz in der Luft schmecken und nicht bloß die Abgase der Fabriken. Die Landschaft wäre überzogen von einem Film frischen Taus und nicht von der braunen, klebrigen Schmiere der Stadt. Er hatte etwas übrig für wild-romantische Kulissen und als ehemaliger Stadtbewohner würde er genau wissen, wonach sich die Bevölkerung sehnte, wenn sie es wagte, sich aus ihrem tristen Alltag hinweg zu träumen.
Tragische Liebesgeschichten, leidenschaftliche Charaktere, ungestüme Dialoge... Sowas verkaufte sich. Und er würde etwas Gutes tun. Er würde so mancher vom Leben gebeutelten Frau ein paar schöne Augenblicke vor dem Schlafengehen schenken.
Er stellte sich sein Dichterdasein so lebendig vor, dass ihm die ersten Verse ohne groß nachzudenken zuflogen:
„Oh Cathy, unglücksel'ges Weib
Lebst in gar unbequemer Zeit
Kein Geld, kein Mann an deiner Seit'
Der mit dir Haus und Schlafstatt teilt"
Cathy war Brians Freundin und nach allem, was man hörte, tatsächlich in letzter Zeit vom Pech verfolgt. Seit sie für den Strich endgültig zu hässlich geworden war, lebte sie von Almosen und der Hoffnung, Brian würde sie endlich fragen, ob sie ihn heiraten wolle. Der jedoch machte keine Anstalten. Aus Furcht vor Verantwortung, argwöhnte Christopher, oder weil er einfach nicht wusste, was sie gehörte.
Cathys Problem war, dass sie es nicht auf die Reihe bekam, sich sauber zu halten und deshalb ständig mit Hautkrankheiten zu kämpfen hatte und seit es finanziell mit ihr bergabgegangen war, war es umso schlimmer geworden. Sie hing in einem Teufelskreis fest. Sie war verwahrlost, weil sie kein Geld hatte und sie konnte kein Geld verdienen, weil sie verwahrlost war. Auch war sie nicht zum Arbeiten geboren, die konnte nichts, war ungeschickt und flatterhaft. Nicht die hellste Kerze im Kronleuchter, sagten die Leute. Ein bisschen einfältig, aber leider eben auch nicht nett. Alles in allem eher abstoßend. Ein menschgewordenes Ärgernis.
Was also wollte Brian von ihr? Er könnte mit Sicherheit eine bessere Frau haben, dachte sich Christopher. Vielleicht blieb er aus Mitleid, vielleicht sah er auch etwas in ihr, das niemand sonst sehen konnte.
So, wie er etwas abseits ihrer furchteinflößenden Aura in Rebecca sehen konnte, oder in den Pferden, die für ihn mehr waren als Arbeitswerkzeuge. Christopher hatte etwas übrig für Pferde. Sie konnten nichts für das, was die Menschen mit ihnen machten. Sie waren wie Kinder hilflos, aber wie Riesen stark. Nur dass sie es nicht wussten und daher ausgenutzt wurden. Wenn Christopher einem Pferd über die Stirn strich, dann fühlte er darunter die Fragen, die da lauteten: Wo bin ich? Was mache ich hier? Was willst du von mir? Hilfst du mir oder schlägst du mich? Warum schlägst du mich? Was ist das für ein seltsames Leben?
Pferde waren ohne Zweifel die Philosophen unter den Tieren, die man davon abhalten wollte, nachzudenken, indem man ihnen keine Zeit dafür ließ. Der Mensch hat Angst vor großen Köpfen, sagte Christopher hin und wieder zu den vielen Arbeitspferden in der Stadt, als schulde er ihnen eine Erklärung.
Alles in allem war es eine gute Arbeit. Er war an der frischen Luft, er sah etwas von der Stadt, er traf Leute und ihm saß kein Vorarbeiter im Nacken. Zugegeben, im Winter war es kalt und wenn es regnete oder schneite wünschte er sich, er könnte seinen Karren einfach im Graben stehen lassen und nach Hause gehen – bei vollem Lohnausgleich natürlich. Aber solche Gedanken hatte jeder Arbeiter und sie waren kein Zeichen besonderer Überlastung oder übermäßigen Leidens. Jedem Menschen widerstrebte im Grunde jede Form von Arbeit, es war nichts Besonderes, sie manchmal zu hassen. Viel mehr freute Christopher sich, dass er sie nicht ununterbrochen hassen musste, wie die meisten Leute, die in den Slums lebten.
Es war eine Lüge, die sich hartnäckig im Bewusstsein der Schreiberlinge in der Fleet Street hielt, dass Menschen, die im Slum lebten, nicht wahrnahmen, dass sie am unteren Ende der Nahrungskette vegetierten. Es war sicherlich eine komfortable Behauptung, die es einem erleichterte, nicht weiter nachzuforschen, aber es war eine Lüge. Die Menschen spüren Schmerz, selbst wenn sie nie eine Annehmlichkeit gekannt haben. Die Menschen kennen Trauer, selbst wenn sie nie Freude erlebt haben. Unwohlsein ist ein Zustand, der nicht unbemerkt bleibt, auch wenn man in ihn hineingeboren wird. So wie eine Krankheit immer eine Krankheit ist, auch wenn man sie nicht entdeckt, so wie sie den Tod bringt, auch wenn kein Arzt sie je diagnostiziert hat, so wirkt sich die Armut auf das Gemüt der Menschen aus. Und wo es Armut gibt, da haben es die Ausbeuter leicht.
Es ist ziemlich kompliziert, dachte Christopher. Die Leute kommen hier her, weil sie arm sind. Aber sie bleiben arm. Was wäre, wenn sie nicht gekommen wären? Wie viele Stufen der Armut lagen zwischen einer Hungersnot und dem Tragen ausgebesserter Kleidung? Und konnte man je etwas besseres erwarten, als zumindest nicht zu verhungern?
Es gibt zu viele Menschen auf der Welt, dachte Christopher manchmal und fürchtete dann, zu denjenigen zu gehören, die bald überflüssig sein würden. Zu viele Menschen für zu wenig Arbeit, zu wenig Ressourcen für zu viele Mäuler, die man stopfen muss. Zu viele Kinder, zu viele Kranke, zu viele Alte, zu viele Krüppel, zu viele Verrückte und zu wenig Reiche, um all diese Abhängigen und Nutzlosen zu versorgen. Zu wenig in den Taschen derer, die arbeiten konnten, als dass sie versorgen konnten, wen sie liebgewonnen hatten. Es gab zu viele Menschen, die man liebte und um die man sich sorgte und die man nicht unterstützen konnte, weil es zu viele andere Menschen gab, die die Unterstützung dringender brauchten.
Christophers Mutter, die die karge, grüne Weite des irischen Moors in ihrem Herzen einfach nicht verdrängen konnte, hatte sich nicht wohlgefühlt in der dunklen Stadt mit all ihrem toten Holz, den unnatürlichen Schatten und den Gerüchen, die ihr empfindliches Riechorgan täglich neuen Herausforderungen aussetzten. (Es war nämlich eine Fehlinformation, dass die Landluft schlecht roch. Die Exkrementen, der Schweiß und die Fäulnis lagen wie eine Dunstglocke über der Stadt und krochen in jeden Winkel, wo sie sich hartnäckig hielten, weil die Luft nicht abzog und der Regen die Gerüche als Schmierfilm an Häuserwände und Gehsteige klebte.) Christophers Mutter also konnte sich einfach nicht an das Stadtleben gewöhnen. Sie vermisste die Dunkelheit der Nacht und die Stille. Sie vermisste, dass sie alle Menschen mit Namen kannte, die ihr auf der Straße begegneten und sie vermisste es, mit der ganzen Familie, also auch ihren Eltern, an einem Tisch zu sitzen und zu essen. Manchmal waren ihre Eintöpfe angebrannt. Manchmal schmeckte das Brot fad, weil kein Salz darin war, aber es war wenigstens nicht der Abfall anderer Leute, der einem vorgesetzt wurde. Hier in England behandelte man die Iren nicht besser als die Ratten und wesentlich schlechter als die Schwäne.
Wenn die Leute, die bereits furchtbar arm sind, nun aber gezwungen sind, in die Slums der Städte zu ziehen, weil sie, um zu überleben, arbeiten müssen, welchen Sinn hat dann noch das Leben? Jeder dieser Menschen, jeder von Christophers Nachbarn wusste, dass er es zu nichts jemals bringen würde, dass die Wahrscheinlichkeit hoch war, jung und sinnlos bei einem Unfall zu sterben oder sich eine Krankheit einzufangen, die nur dort grassieren konnte, wo Menschen zu eng beieinander wohnten. Wieso also unternahmen sie nichts dagegen? Aus Erschöpfung oder Phantasielosigkeit? Zufriedenheit konnte es jedenfalls nicht sein. Egal, was die konservativen Blätter schrieben, Christopher hatte noch niemals einen wahrhaft zufriedenen Menschen gesehen.
Er hatte Dublin, Liverpool und Manchester gesehen und sich seit dem gefragt, ob es so etwas wie ein lebenswertes Leben überhaupt gab. Die Frage keimte heute noch hin und wieder in ihm auf, obwohl er eigentlich längst wusste, dass es natürlich lebenswerte Leben gab, er aber niemals zu denen gehören würde, die eines führen würden.
Christopher begnügte sich mit den kleinen Triumphen des Alltags. Er hielt sich zum Beispiel für den besten Fahrer von ganz Manchester. Das allein sagte natürlich nicht viel aus, denn ein jeder Kutscher, der dafür sorgen konnte, dass ihm die Tiere nicht pausenlos durchgingen, hielt sich für die Wiedergeburt eines römischen Champion, dem es gebührte, dass der ganze Circus Maximus im zujubelte. Aber Christopher rühmte sich nicht mit Schnelligkeit oder Furchtlosigkeit, sondern damit, seine Fracht ohne die üblichen Verschleißerscheinungen an Pferden, Karren und Waren an ihr Ziel zu bugsieren. Er drängelte nicht. Er verschätzte sich nie. Er kalkulierte scharf, ging aber keine Risiken ein. Er fluchte nicht und beschimpfte die anderen Verkehrsteilnehmer nur selten und nicht allzu derbe. Er hielt sich nicht auf mit Streitigkeiten, sondern wuselte sich unauffällig, aber geschickt durch das Chaos der vollkommen überlasteten Straßen. Das Wagenführen erforderte Eleganz, das war es, was die meisten dieser Rüpel nicht verstanden. Eleganz, denn die Pferde waren elegante Tiere, keine rüpelhaften. Man konnte sie entweder zum Ziel prügeln oder man konnte dafür sorgen, dass sie selber zum Ziel laufen wollten. Zweiteres war bei Weitem weniger nervenaufreibend und vor allem ästhetischer.
Oh, Christopher war ein Ästhet. Da war dieser Charakterzug schon wieder. Ein Schöngeist, ein Dichter, ein Philosoph und doch bestand sein Leben nicht darin, tiefgründige Gedanken für die Nachwelt festzuhalten, sondern darin, Stoffballen von A nach B zu transportieren, irgendwie der nordenglischen Kälte zu trotzen und mit etwas Glück, dem verrußten Sonnenaufgang etwas Schönes abzugewinnen.
Ich lebe ein altes Leben, dachte er, etwas das sterben und nie zurückkehren wird. Sie stehlen uns nicht unser Brot oder unsere Kraft. Sie stehlen uns unsere Zeit. Wie viele Jahre wird es wohl noch dauern, ehe sie den Sonnenaufgang wegrationalisiert haben? Jede Minute, die wir untätig sind, die wir in uns ruhen und aus uns stille Bewunderung für die heiligen und profanen nutzlosen Dinge schöpfen, ist eine verlorene, vergeudete Minute. Es soll Geld geschöpft werden, nicht Muße. Der Nutzen soll optimiert werden, nicht der Friede mit sich und mit anderen.
Es ist eine alte Vorstellung, dass das Leben eine Erfahrung ist. Heute ist es ein Faktor in einer Kosten-Nutzen-Rechnung. Christopher gestand sich nicht ein, was er wirklich befürchtete, es gefiel im besser, wehmütig zurückzublicken, als verunsichert der Zukunft ins Gesicht zu schauen. In der Wehmut liegt durchaus Verblendung und in der Verblendung die Gefahr des Wahnsinns. Christopher fürchtete weder den Wahn, noch das Vermissen, solange er sie als solche erkennen konnte. Er spielte damit, wie ein Dichter mit Worten spielt.
Vermissen ist ein schweres, tiefes Wort, das in jeder irischen Seele seinen Platz hat wie das Rosenkranzgebet oder das Spiel auf der Tinwhistle. Niemand würde wirklich zugeben, dass er das alte, elende, verregnete, stürmische, unfruchtbare Land vermisste, aber nachdem sie die Welt gesehen haben, wissen die meisten Iren, dass es zu Hause doch am schönsten ist – was nicht gerade für den Rest der Welt sprach...
Christopher fürchtete diese Wirklichkeit, diese ungeschönte Wahrheit und ihre Folgen, die er nicht zu beeinflussen vermochte, mehr als das, was er sich selbst vormachte, verloren zu haben. Er brauchte die Vorstellung der Kontrolle über sein Leben, er brauchte das Gefühl, sich einerseits etwas vormachen zu können, andererseits aber genau zu wissen, dass er nie besessen hatte, was er betrauert. Das war Macht. Zu bedauern und gleichzeitig zu wissen, dass es nicht nötig war, daran zu zerbrechen. Ein Schicksal, das man wie einen Schild tragen konnte, ohne dass es einen wirklich belastete. Ein Lied, das man singen konnte, ohne dass jedes Wort darin wahr war.
In der Lüge liegt größere Schönheit als in der Wahrheit, das ist das Gift, dass der Teufel in die Welt gebracht hat, dachte Christopher. Und doch wollte er sie um keinen Preis der Welt eintauschen gegen die spröde, gnadenlose, kaltherzige Wirklichkeit, die im Takt der Sekundenzeiger voranschritt und keine Zeit zum Atmen, Nachdenken oder Träumen ließ. Vielleicht träumten deshalb so viele davon, die Uhren zu zerstören.
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