Kapitel 2
Bevor Rebecca McCarthy nach Manchester gekommen war, hatte sie in Swansea einem Arzt assistiert. Zumindest hatte er behauptet, er sei Arzt und dann an den Verzweifelten herum gedoktert, die ihm glauben mussten, weil sie sich sonst keine Behandlung leisten konnten. Es handelte sich fast ausschließlich um hoffnungslose Fälle von Tuberkulose, Typhus, Cholera oder Bronchitis. Der Alte pflegte zu sagen: „Die Luft in Swansea macht krank." Und Rebecca glaubte, dass er damit recht hatte. Noch nie hatte sie auf einem Flecken Erde so viele Lungenkranke gesehen wie in dieser Stadt. Die Leute hier waren so krank, dass sie nicht wussten, wie sich Gesundheit anfühlte und eine chronische Kurzatmigkeit für natürlich hielten.
Als Rebecca ihre Tätigkeit beendete, um Wales den Rücken zu kehren, sagte sie zu ihm: „Sie sollten nicht die Menschen behandeln, sondern die Schornsteine, die Minen und die Giftstofflager. Sie könnten auf einen Schlag tausende Menschen retten, wenn sie nicht nur Symptome, sondern Ursachen behandeln würden. Swansea ist keine Stadt, sondern eine bewohnte Giftfabrik. Würde mich nicht wundern, wenn die Luft hier immer noch arsenverseucht ist. Und wissen Sie warum? Weil hier alle so denken wie Sie: Eine Verbesserung der Luftqualität würde nicht nur Sie um ihren Profit bringen, sondern auch diejenigen, denen man auferlegen würde, ihre Chemikalien sauberer zu produzieren. Keinen Fußbreit darf den Interessen der Bevölkerung nachgegeben werden, sonst verlangen sie am Ende immer mehr und mehr und richten die ganze Ökonomie zu Grunde, nicht wahr? Sie haben Angst vor Verbesserungen, weil Zufriedenheit keinen Gewinn einbringt. Man muss die Menschen unzufrieden, immer ein bisschen kränklich, immer ein bisschen ärmlich halten, gerade so weit vom Kuchen entfernt, dass sie ihn noch riechen aber nicht erreichen können. Sehen Sie, Sie tun nur das, was in diesem System logisch und die einzige Möglichkeit für Sie ist, zu überleben. Aber die Menschen, die mit Bluthusten zu Ihnen kommen, haben keine Möglichkeiten mehr. Nicht mal ihre Kinder – es sei denn jemand setzt sich für ihre Interessen ein. Aber Interessen sind wie Ideen, wie ein Lauffeuer, das sich verbreiten und bestehende Ordnungen niederbrennt. Und dann haben Sie keine Möglichkeiten mehr. Das ist die Angst all derer, die Hilfe verweigern oder nur vortäuschen. Aber wenn Sie den Arbeitern nicht den kleinen Finger geben, werden sie Ihnen irgendwann die ganze Hand abhacken. Sie werden sehen. Deshalb sollten Sie persönlich jetzt ein wenig Integrität beweisen und die Problematik der schlechten Luft ansprechen. Ich weiß, Sie haben nicht viel Einfluss, aber Sie haben doch mehr davon als die meisten. Sie behaupten, Arzt zu sein, aber ich habe nie gesehen, wie Sie mit Ihren Methoden und Mittelchen ein Menschenleben gerettet haben. Sie sollten nicht glauben, dass so etwas unbemerkt bleibt. Die Menschen sind nicht dumm, nur verzweifelt."
Als Rebecca das sagte, war sie noch jung und naiv genug, zu glauben, ein intelligenter Mann müsste diese Worte als guten Rat und nicht als Abrechnung verstehen. Doch während ihre Jugend bereits zu welken begann, hatte sie sich ihre Naivität erhalten. Sie wollte immer noch daran glauben, dass die Wahrheit niemals verletzend sein konnte und dass ein Mensch, der anderen Menschen helfen wollte, dies nicht aus egoistischen Gründen tat. Sie glaubte einfach daran, dass es so etwas wie menschliche Güte gab. Man fand sie nicht in jedem Menschen, aber doch bei manchen. Man musste schließlich an irgendetwas glauben, sagte sie sich und um an Gott zu glauben, habe ich zu viel Elend gesehen und zu oft erfahren, wie seine angeblichen Gesetze gebrochen wurden, ohne dass es dafür göttliche Konsequenzen hagelte. Nur einmal hätte ein Zuhälter vom Blitz getroffen werden müssen, um Rebecca zurück auf den Pfad der christlichen Lehre zu führen, aber so etwas geschah nie. Stattdessen schalteten und walteten die größten Widerlinge in den Straßen der Slums, wie es ihnen beliebte, scheffelten gestohlenes oder abgepresstes Geld, ließen es sich gut gehen auf Kosten der anderen, die ohnehin schon im Dreck lebten.
Natürlich gibt es überall Egoisten, dachte Rebecca, in den Chefetagen der Fabriken, genauso wie in der Politik, genauso wie in den Kirchen, genauso wie in den Elendsquartieren. Abschaum war wie Edelmut nicht auf eine Klasse festgelegt, aber Egoismus und Skrupellosigkeit in den Erbanlagen, bedeuteten einen gewissen evolutionären Vorteil in der englischen Gesellschaft.
Und Rebecca hatte den lebenden Beweis für ihrer Theorie von der Existenz der Güte im Menschen. Er lag direkt neben ihr und versuchte noch im Schlaf, nicht allzu laut zu schnarchen. Auch ein Mörder kann ein guter Mensch sein, überlegte sie dann. Es kommt darauf an, wen er warum getötet hat. Konnte ein Menschen sein Recht auf Leben verwirken? Gab es überhaupt ein solches Recht? Rebecca zweifelte. Überhaupt ginge es vielen Menschen besser, wenn sie nicht geboren worden wären und es gibt viele Menschen, die, wenn sie nicht geboren worden wären, anderen das Leben erleichtert hätten.
Ich handele mit dem Tod, dachte sie, aber es ist ein einvernehmlicher Handel. Ich verkaufe den Tod, nicht lebendige Wesen, wie zum Beispiel das Militär. Bei mir bekommen alle, was sie verlangen. Eine Abtreibung ist keine Mogelpackung, die man erst in Patriotismus und falsche Versprechungen von sozialem Aufstieg verpacken muss, um sie interessant zu machen. Wer zu mir kommt, der weiß, was sie erwartet und wie es danach weiter geht. Kein verkrüppelter Soldat hat mit der Ächtung zu leben, die einer Frau entgegenschlägt, von der man weiß, dass sie abgetrieben hat. Ein verlorener Krieg ist eine geringere Schande, als das beendete Leben eines Fötus.
Wie scheinheilig! Sie predigen, wie wertvoll das Leben ungeborener Kinder ist, schicken dann aber geborene Kinder in Fabriken und Kohleminen, um sich dort zu Tode zu schuften. Sie reden den Schwangeren ein, sie müssten Verantwortung übernehmen, zucken aber nur mit den Achseln, wenn in den Armenhäusern die Kinder zu hunderten verhungern oder erfrieren. Das ist Gottes Wille, heißt es. Es ist immer alles Gottes Wille, außer, wenn es der Wille einer Frau ist, dann ist es der Wille des Satans, der leichte, verführerische Weg, der Pfad der Verdammnis. Der freie Wille sei eine von Gottes Gnaden, ein Zeichen seines Vertrauens. Wenn ein Mensch ihn aber einsetzt und eine Entscheidung trifft, so nennen sie es einen Vertrauensmissbrauch gegenüber Gott.
Es war nicht so, dass Rebecca nicht an Gott glaubte, sie zweifelte nur daran, dass diejenigen, die die Deutungshoheit seines großen Plans für sich in Anspruch nahmen, ihre damit einhergehende Macht nicht missbrauchten. Wieso sollte ein Priester oder ein Politiker besser über das Schicksal von Frauen und ihren Kindern Bescheid wissen als die betreffenden Frauen selbst? Wieso sprachen sie sogar Medizinern ab, die konkrete Situation einschätzen zu können?
Es war auch nicht so, dass Rebecca keinen Respekt aufbringen konnte, sie glaubte nur, dass man sich Respekt erst verdienen musste und ein Mann, der in seinem Leben offiziell niemals Sex haben durfte, war sicher nicht der kompetenteste Ansprechpartner, wenn es um Frauen, ihre Gesundheit und ihre Schwangerschaften ging. Sollten denn alle Menschen so leben wie sie? Was hatten Frauen davon, enthaltsam zu sein? Man begegnete ihnen auch nicht mit mehr Hochachtung. Nein, statt Hure oder Schlampe nannte man sie alte Jungfer und Rebecca hatte längst durchschaut, dass man es als Frau grundsätzlich nicht richtig machen konnte. Wieso es also überhaupt erst versuchen? Was hatte eine Frau von einem Leben als Ehegattin? Je nachdem, als was für ein Filou sich ihr Angetrauter erwies, war sie am Ende weder finanziell abgesichert, noch vor Übergriffen geschützt.
Dennoch zweifelte Rebecca manchmal an ihrem Beruf, denn: Behandelte sie am Ende nicht auch nur Symptome? Machte sie nicht den gleichen Fehler, den sie ihrem Arzt zu Hause in Swansea vorgeworfen hatte. Wurde man müde, wenn das Elend den Alltag bestimmte? Wurde man egoistisch, wenn man einen Weg fand, dem Elend alleine zu entfliehen? Wurde man rücksichtslos, wenn man Geld als Bezahlung annahm?
Diese Gedanken kreisten nachts in ihrem Kopf, wenn sie nicht schlafen konnte. Ruhe fand sie nur bei dem Gedanken, dass, solange sie zweifelte, sie nicht vollkommen verdorben sein konnte. Ihr vielleicht verwirktes Seelenheil beunruhigte sie weniger als das Schicksal ihrer Patientinnen und sie glaubte, dass das einen guten Menschen aus ihr machte, einen festen Charakter, der der Verdammnis mit erhobenem Haupt entgegensah, solange sie sich selbst überzeugen konnte, das Richtige zu tun und wenn sie damit Gott selbst herausforderte, dann war es vielleicht an der Zeit, auch diese Herrschaft zu hinterfragen.
Überhaupt: Was war schon ein Gott, der nichts als den Erfüllungsgehilfen einer Kaste vollgefressener Kleriker darstellte. Was war das für eine Güte, die jene vergaß, bei denen die Verzweiflung am größten war? War Gott nicht immer nur so stark, wie der Glaube an ihn? Und war der Glaube nicht nur nichts weiter als der menschliche Drang, sich zu unterwerfen, um der Schuld zu entgehen, die man im Laufe seines Lebens auf sich geladen hatte? Rebecca fand, dass, wer seine Schuld nicht selbst tragen konnte, es nicht wert war, Vergebung zu erfahren. Vergebung... Wer konnte sie geben? Wer konnte sie erlangen? Und wie? Wieso klammerte man an dieser Stelle die Opfer systematisch aus und setzte Gott an ihre Stelle? Lügen bringen den kleinen Jesus zum Weinen. Soll er sich halt aus dem Leben anderer Menschen heraus halten!
Das Problem war der Anstand, fand Rebecca. Die Leute waren anständig genug, einem Bettler eine Münze zu schenken, aber sie waren nicht bereit, ihr Haus mit ihm zu teilen. Gut manche waren vielleicht sogar so anständig, ihr Haus zu teilen, aber dann verlangten sie irgendwann doch eine Gegenleistung, Arbeiten oder Geld. Wer nichts hatte, der hatte gefälligst für die Erfüllung seiner Grundbedürfnisse zu schuften. Das war nur anständig. Anstand bedeutete immer, dass man sich seinem Stand gemäß verhielt. Es bedeutete nicht, dass man Rechte einfordern oder Ansprüche stellen konnte. Man musste betteln, um etwas zu bekommen. Man musste abhängig sein. Man musste dankbar für die erwiesene Gnade sein. Man musste bescheiden und fromm auftreten, seinen Platz kennen, eine Rolle spielen. Die anständigen Leute wollten belogen werden.
Das Fundament einer funktionierenden Gesellschaft war der Anstand, das Wissen darum, was man sich leisten konnte. Es waren subtile Gesetze, die nirgendwo niedergeschrieben standen und die mit Nichten für alle gleichermaßen galten. Ein Gentleman konnte sich aus den meisten Kalamitäten heraus kaufen, eine Straßendirne konnte nur versuchen, zuerst an einer Quecksilbervergiftung zu sterben, bevor die Syphilis ihr den Verstand raubte.
Vor allem nachts sah Rebecca die verängstigten Gesichter ihrer Patientinnen vor sich. Beinahe jede Nacht wurde sie vom Geist der kleinen Jane heimgesucht. (Rebecca fand es interessant, dass sie von den Geistern der Frauen und nicht von den Geistern ihrer Kinder heimgesucht wurde...) Zumindest nannte ihre Mutter sie Jane. Man konnte nie sicher sein, ob die Frauen Rebecca ihre richtigen Namen nannten, aber das war Rebecca einerlei. Ein Name sagte ohnehin nichts über eine Person aus. Er wurde einem nicht für eine Eigenschaft oder eine Leistung verliehen wie bei den Völkern der Wilden. Einen Namen bekam man in der Hoffnung, dass man ihm Ehre machte, dass man seinem religiösen oder historischen Vorbild nacheiferte. Die meisten Leute scheiterten dabei kläglich. Aber wer wollte auch schon die Kopie einer idealisierten Figur sein?
Jedenfalls machte Jane ihrem historischen Vorbild – der Jungfrau von Orleans – sicherlich keine große Ehre, war sie doch schon mit dreizehn Jahren schwanger geworden. Die Frau, die bei ihr war, als sie vor Rebeccas Tür stand, war auch nur vielleicht ihre Mutter. Wahrscheinlicher war, dass sie ihren Lebensunterhalt als Kupplerin irgendwo in einem Etablissement am Hafen verdiente. Die jungen Mädchen arbeiteten normalerweise nur als Putzkräfte oder servierten den Besuchern Getränke, aber was ohnehin schon illegal war, wurde nicht noch illegaler, wenn man moralische Grenzen verletzte. Welche Hemmungen blieben bestehen, wenn man vor Hunger langsam vor die Hunde ging? Wenn es eine Nachfrage gibt, war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand ein passendes Angebot machte.
Jane, wie sie mit ihren großen, leeren, unwissenden Schafsaugen Rebecca anstarrte, hatte so viel erlebt und gesehen, dass nichts sie mehr entsetzte. Es gab keinen Schmerz, den sie nicht zu ertragen in der Lage gewesen wäre. Sie gab keinen Laut von sich. Keinen einzigen. Sie lag da, ließ alles über sich ergehen, brav wie ein Lamm, erstarrt wie ein Stück Holz. Rebecca sah ihr zu, wie sie blasser und blasser wurde, je weiter die Nacht voranschritt. Es war, als wich ihr ganzes Blut aus dem schmalen, knöchernen Gesicht. Und es war auch kein Wunder, dass dieser Eindruck entstand, denn Jane hörte und hörte einfach nicht auf zu bluten. Ein Leintuch nach dem anderen musste Rebecca fortbringen, weil es sich nicht reinigen lassen würde.
Eine ganze Nacht wachte sie an Janes Seite, bis das Mädchen wegdämmerte und nicht wieder zu sich kam. Wo wäre sie wohl heute, wenn sie das Kind bekommen hätte? Wäre sie vielleicht bei der Geburt gestorben? Hätte man das Kind in ein Waisenhaus gebracht? Das Geld, das die Frau Rebecca für den Eingriff gegeben hatte, spendete sie der örtlichen Kirchengemeinde als Pfand für diese eine Sünde.
Und dann sagten die Männer, Frauen seien zartbesaitet, man könnte ihnen keine schrecklichen Nachrichten, keine Bilder des Grauens zumuten, sagten, das schwache Geschlecht könne kein Blut sehen, sei zurecht mehr den schöngeistigen Seiten des Lebens zugewandt. So hatten sie uns gerne: Als Unterhaltung, als Dekoration, als Hüterinnen der Moral. Unsere Probleme sollten wir gefälligst unter uns und im Geheimen lösen. Damit hatten die Herren nichts zu tun, mussten sie doch die Zivilisation zu den Heiden bringen. Dafür gab es Auszeichnungen und Ehrentitel. Nicht so für den Vertrieb von Frauenhygieneartikeln und die Aufklärung über die Funktionen des weiblichen Körpers. Alles, was auch nur im entferntesten die Selbstbestimmung der Frauen gefördert hätte, wurde als unrein und schmuddelig gebrandmarkt. Frauen, die taten, was sie wollten, taten grundsätzlich das Falsche, brachten vorsätzlich die Herren in Verlegenheit.
Jane war zu Rebecca gekommen, noch bevor sie ihr Bett mit Christopher teilte und noch bevor Elizabeth in ihr Leben getreten war. Jane war eine Geschichte, mit der sie alleine fertig werden musste und Elizabeth war eine Geschichte, für die sie sich bei dem Menschen rechtfertigen musste, der ihr von allen Menschen der Liebste war. Rebecca wusste nicht, was davon schlimmer war.
Misserfolge haften stärker im Gedächtnis, als alles Glück, das man gehabt hatte. Leute, die einem die Hand drückten, sich bedanken und gingen, erachteten dies als selbstverständlich. Sie wussten nicht, was es alles für Risiken gab oder sie glaubten, Rebecca könnten sie ihnen abnehmen. Aber die Leute verwechseln Risiko mit Verantwortung. Die Misserfolge aber gaben einem nicht die Hand und gingen. Sie starrten einen nachts mit großen, verwunderten Augen an und fragten: „Warum ich?"
Christopher und Elizabeth hatten die gleichen, runden, treuen Kinderaugen und manchmal konnte Rebecca ihrem Geliebten nicht ins Gesicht blicken vor Scham. Sie teilten vielleicht das Bett, aber ihre Schuldgefühle wollte Rebecca für sich behalten. Sie war überzeugt davon, dass Schuld unteilbar und unvergänglich war. Wenn sie Christopher ansah, starrten die wässrigen Augen seiner Schwester ihr entgehen und am schlimmsten daran war die Tatsache, dass darin keinerlei Vorwurf lag.
Vielleicht behalte ich Christopher nur, überlegte Rebecca, damit seine Augen mich daran erinnern, mich nicht als Herrin über Leben und Tod aufzuspielen, damit ich mir meiner Sache nie zu sicher bin, damit ich das alles nicht auf die leichte Schulter nehme. Ich neige dazu, Dinge für selbstverständlich zu halten, doch das Leben ist alles, aber nicht selbstverständlich.
Dem schloss sich die Frage an, ob und wenn ja, wem man dankbar sein, beziehungsweise wen man verfluchen musste. Gott, die Eltern, die Hebamme, einen Quacksalber?
Rebecca war eine Frau mittleren Alters, die trotz ihres Schlafmangels nicht verhärmter aussah als die anderen Frauen in Hulme oder Salford, die sich aber dagegen gewehrt hätte, wenn man ihr Aussehen als erstes Merkmal ihrer Persönlichkeit genannt hätte. „Wir leben in einer Zeit, in der Frauen einerseits nur über ihr Aussehen definiert sind", sagte sie, „andererseits aber Eitelkeit als Charakterfehler gilt."
Rebecca war keineswegs uneitel. Sie bildete sich etwas darauf ein, nicht eitel zu sein und doch einen gewissen Hochmut auszustrahlen. Und sie konnte ihn sich leisten, denn sie besaß ein gewisses Ansehen unter den Frauen und den Männern – insbesondere denen, die an ihren Machtpositionen klammerten – flößte sie Angst ein. Rebecca merkte sehr schnell, wenn die Leute Angst vor ihr hatten. Der katholische Priester, der ihr vor die Füße spuckte und sie nachts in seinen Gebeten verfluchte, sorgte sich nicht um das ungeborene Leben irgendwelcher Slumkinder, sondern darum, dass ihm die Deutungshoheit über den Wert des Lebens entgleiten könnte.
Wenn es ihm dabei wenigstens um diesen Wert ginge, dachte Rebecca, aber es geht ihm lediglich darum, dass er reden konnte und die anderen ihm andächtig zuhörten. Wenn er schon nicht heiraten dürfe, so verschaffe er sich so seine Befriedigung. Jeder Gottesdienst ist im Grund eine geistige Massenvergewaltigung und am Ende gehen die Leute schwanger mit der Idee, der heilige Irgendwer könnte sie aus ihrer Misere befreien, wenn sie nur eifrig genug beteten.
Jeder Mensch mit Macht über andere Menschen hat Angst. Weil die Mächtigen so wenige sind und die Machtlosen so viele kann sich das Verhältnis jederzeit umkehren. Deshalb muss man die Machtlosen mit Angst impfen und ihnen einreden, nur die Mächtigen könnten sie beschützen. Und hin und wieder war ein Bauernopfer fällig, das als schlechtes Beispiel vorgeführt wurde. „Seht her, das gefallene Mädchen! Das ist, was mit solchen passiert!"
Da passte eine Frau wie Rebecca natürlich nicht ins Bild. Sie bot Lösungen für liebgewonnene, nützliche Probleme. Sie untergrub die Logik auf der die Festung der gesellschaftlichen Klassen errichtet war.
Früher nannte man Frauen wie Rebecca Hexen. Sie verbreiteten einerseits Angst und Schrecken, genossen andererseits aber auch hohes Ansehen, denn sie nahmen sich der Dinge an, für die sich alle anderen zu schade waren. Die Rebeccas dieser Welt galten als unschicklich, doch sie waren unentbehrlich. Die Menschen wussten das, mieden sie aber trotzdem. Nur zur Sicherheit. Wenn sie schon den irdischen Machthabern die Stirn bieten konnte, was wenn sie dereinst vor ihren Schöpfer treten würde? Dann wollte man ungern an ihrer Seite stehen.
Die Menschen sind bigott. Das war die erste Lektion, die Rebecca in ihrem Beruf lernen musste. Nicht nur die Mächtigen waren es, nein auch die Arbeiter, die Bettler und die Straßendirnen. Sie begingen heimlich jede erdenkliche Sünde, wollten aber nicht mit einer offensichtlichen Sünderin gesehen werden. Es sollte ihr recht sein. Rebecca legte keinen Wert auf Plaudereien oder Teekränzchen. Sie wollte nicht Mitglied im Chor der hiesigen Kirchengemeinde werden. Sie wollte keine Kuchen für wohltätige Zwecke backen. Sie aß ihren Kuchen lieber selbst.
Christopher war da ganz anders. Er hätte sein letztes Hemd für einen wohltätigen Zweck gespendet, auch wenn er damit nichts hätte ausrichten können. Er war ein Romantiker und glaubte an die einfachen Lösungen. Eigentlich ergänzen wir uns gut, dachte Rebecca. Ich halte ihn am Boden und er hält mich davon ab, auf direktem Weg in die Hölle zu fahren.
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