Kapitel 13
In der schummrigen Kneipe begrüßten alle Mitglieder der Fortschrittsbruderschaft Christopher, als wäre er von den Toten auferstanden. Er bekam sein Bier umsonst und einen freundlichen Händedruck von jedem einzelnen Mitglied. Er kannte längst nicht alle, aber er fühlte sich geschmeichelt.
Eigentlich hatte er sich überlegt, ein paar Worte zu sagen, aber die Gelegenheit ergab sich einfach nicht. Stattdessen wurden Lieder angestimmt und Parolen gegrölt. Jeden Tag wurden nun tote Schwäne auf dem Kanal gefunden und längst glaubte niemand mehr an einen Zufall oder eine natürliche Ursache.
„Wie ein Kaninchen hab ich ihn abgeknallt!", brüstete sich ein junger Kerl, der daraufhin anerkennenden Applaus erntete.
„Mir ist einer in die Falle gegangen. Ich hab ihn geköpft wie eine Gans und meine Frau hat den besten Braten daraus gemacht, den man sich vorstellen kann", erzählte ein anderer.
„Ganz schön gefährlich, Fallen aufzustellen", bemerkte Christopher, aber seine Bedenken wurden übertönt von jemandem, der eine neue Runde ausgab und auf die Schwäne von Manchester anstoßen wollte.
„Meine Frau hat ihrer Schwester in Liverpool von unserer Sache erzählt und ihr Mann findet die Idee auch ganz großartig. Er überlegt, eine Gruppe drüben in Liverpool zu gründen."
„Damit muss er sich dann aber beeilen", reif jemand dazwischen, „Bald ist es vorbei mit den Schwänen. Pat hatte schon Recht, als er sagte, mit Symbolen verändert man keine Realitäten. Wir haben die einmalige Chance, an den alten Drachen persönlich heran zu kommen. Wieso sollten wir es nicht versuchen? Wir können einen Schwan erschießen, wieso also nicht auch eine Königin?"
„Ich war von Anfang an nicht dafür, dass wir schießen", sagte Christopher, aber auch das ging unter.
Stattdessen ergriff Brian dar Wort: „Wie ihr alle mitbekommen habt, wird Ihre Majestät die Königin uns in nicht allzu ferner Zukunft mit einem Besuch beehren, um den von uns allen so geliebten Ship Canal offiziell zu eröffnen. Ich denke, dies gibt uns die Gelegenheit, ihr zu sagen und zu zeigen, was wir von ihr und diesem Kanal halten. Was meint ihr? Bitten wir die Königin um eine Audienz?"
Gelächter schallte durch den Raum und jemand brüllte: „Das wünscht sie sich vielleicht, aber ich kann wahrhaftig bessere haben."
„Unser Pat hier", Brian zerrte den Jungen, der neben ihm saß, zu sich hinauf, „findet, dass es Zeit wird, dass Vicky ihren Posten räumt, weil sie versagt hat. Weil dieses ganze System versagt hat. Er sagt, anderswo habe man Könige bereits zur Rechenschaft gezogen, wieso sollte man das nicht auch in unserem guten alten England tun?"
Das Gejohle dröhnte in Christophers Schädel und er selbst wurde stiller und stiller. Das hier entwickelte sich in eine Richtung, die ihm nicht gefiel. Sie respektierten ihn zwar, aber nicht für das, was er sagte, sondern für das, was man ihm in den Mund legte. Fühlte sich Jesus so? Irgendwo schmutzig. Irgendwie schuldig. Aber nicht sicher, woran.
Große Menschenmengen waren wie Fieberträume und vielleicht war Christopher noch nicht ganz gesund. Man konnte high werden oder in Panik geraten. In jedem Fall dachte man nicht mehr rational, weil man mit Reizen überflutet wurde.
Bevor man eine Parole hinterfragen konnte, war bereits die nächste gebrüllt worden. Bevor man das Wort ergreifen konnte, hatte jemand es einem schon wieder abgeschnitten. Es gab immer jemanden, der lauter und schneller war. Es gab immer jemanden, der den Unterschied zwischen Traum und Realität nicht kannte.
„Ich werde", rief einer, „die Königin höchstpersönlich teeren und federn. Dann ist sie der fetteste Schwan, der bäuchlings auf dem Kanal treibt!"
„Und ihren ganzen Tross sollten wir mit Spitzhacken aus der Stadt verjagen!"
„Und jeden, der ihr zu Ehren ein Fähnchen schwenkt!"
„Nordengland muss Republik werden!"
„Aufhängen! Jeden einzelnen fettschwabbelnden Lord!"
„Wir kippen Öl in den Kanal und brennen die ganze Stadt nieder!"
„Wow, Augenblick!", ging Brian dazwischen, „Wir brennen doch nicht unser eigenes Viertel nieder!"
„Wieso nicht? Ist doch sowieso alles Scheiße da! Brennt den Scheißhaufen nieder!"
„Wenn Hulme bis zu den Grundmauern niederbrennt, haben wir zumindest Platz, um unsere eigene Stadt zu bauen."
„Wir bauen uns einen Palast aus den Trümmern unserer Hütten!"
Ach ja, werdet ihr das?, fragte sich Christopher. Auf den Gräbern eurer Frauen und Kinder? Man kann ein ganzes Land in einen Friedhof verwandeln, aber für wen will man es dann wieder aufbauen?
In Christophers Phantasie wehte ein heißer Wind stickige Giftgase und Staub über die verkohlten Ruinen einer toten Stadt. Wer hier nicht umgekommen ist, der ist geflohen. Fliehen, immer wieder fliehen die Menschen vor sich selbst. Weil sie es nicht mit sich aushalten, nicht miteinander und nicht mit sich allein.
Sie werden sich so lange bekriegen, bis nur noch einer übrig ist. Dann kann ihm niemand mehr widersprechen. Darum geht es doch. Niemand erträgt es, wenn ihm widersprochen wird und man den anderen einfach nicht überzeugen kann. Vielleicht sind Royalisten der letzte Abschaum, aber muss man sie töten, um Befriedigung zu erlangen? Und wer sind die nächsten? Wenn die Royalisten weg sind, wen verfolgen sie dann? Die Juden? Die Ungläubigen? Die Frauen, die sich weigern, sie zu heiraten? Die Kinder, die sie auf der Straße frech angrinsen?
Und was, wenn sie die Königin wirklich lynchen? Lynchen sie dann auch den Kronprinzen und alle anderen Mitglieder der königlichen Familie? Und dann? Setzen sie das Parlament in Brand? Schreiben sie die Bill of Rights neu? Wer soll dann regieren? Sie? Wer hat sie bestimmt? Sie sich selbst? Für wen sprechen sie? Das Volk? Sich selbst? Ihre Unterstützer? Die Toten?
Christopher wollte fragen, ob er es hier überhaupt mit Demokraten zu tun hatte, aber er wurde wieder übergangen. Ihr seid ein Mob, dachte er. Ich wollte nie einen Mob schaffen. Die Republik, ja. Nein, den Traum von der Republik. Aber wie sollte man so etwas umsetzen, ohne unschuldiges Blut zu vergießen? Es ging ihm nicht um die Königin. Er hätte kein Problem damit, sie an einem Laternenpfahl baumeln zu sehen, aber er fürchtete sich vor dem Chaos, das sich danach anbahnen würde und dessen Vorgeschmack er hier und jetzt kosten konnte.
Drei Leute, die ein paar Schwäne vergifteten, waren nicht gefährlich. Hundert Leute, die planten, das Land zu übernehmen, waren es vielleicht. Vielleicht nicht für das ganze Land, aber für ihn – Christopher – persönlich.
Er stellte sich vor, wie er Brian zur Rechenschaft zog. Er gegen ihn, Mann gegen Mann, Faust gegen Faust. Was hast du aus unserer Idee gemacht? Zu was hast du uns werden lassen? Zu was bist du geworden? Vielleicht sorgte eine Gehirnerschütterung dafür, dass er wieder zur Besinnung kam. Aber vermutlich hätte er gegen Brian gar keine Chance. Christopher war zu träge, zu behäbig, wie die Kaltblüter, die er den Menschen vorzog. Brian hingegen war agil und präzise mit seinen Worten und seinen Schlägen. Er würde sagen: Wenn du unseren Weg nicht mit zu Ende gehst, bist du ein Betrüger. Wer hinwirft, was er erreicht hat, nimmt in Kauf, dass es jemand aufhebt, dem es nicht zusteht und der es missbraucht.
Und Christopher würde sagen: Lieber werfe ich weg, womit ich nicht umgehen will, als dass ich mir etwas aufbürde, womit ich mich nicht mehr im Spiegel betrachten kann.
Und Brian würde sagen: Und jetzt kannst du dich noch ansehen? Als Saboteur deiner eigenen Interessen? Als Betrüger deiner Freunde?
Und David würde sagen: Wem wir nicht vollständig vertrauen können, stellt eine Gefahr für unsere Sache dar. Wir können dich nicht gehen lassen, du weißt zu viel!
Und Christopher würde sagen: Was wollt ihr tun? Mir den Schädel einschlagen?
Und Brian würde nichts sagen. Und David würde ihm den Schädel einschlagen. Und seine Knochen würden brechen und seine Zähne würden ausgeschlagen werden und auf dem Kopfsteinpflaster würde ein Blutfleck zurückbleiben, den der Regen wegwaschen würde. Und es würde Frühling werden und an der Stelle, an der er gestorben war, würde sich ein Löwenzahn zwischen den Steinen hindurch zum Licht hinauf graben. Und irgendeine Dirne, die in irgendeinem der Zimmer in der Umgebung hauste, würde ihn herausreißen, weil sie kein Unkraut auf dem Gehweg duldete. Was sollten die Nachbarn denken? Dies war eine ordentliche Gegend. Ordentliche Leute. Niemand, der Probleme machte. Wer Probleme machte, der wurde zurecht gestutzt. So machte man das in einer ordentlichen Gegend.
Und Brian würde sagen: Er hätte nicht sterben müssen. Er war ein guter Kerl. Aber er hat Probleme gemacht.
Und David würde sagen: Es gibt Menschen, die sind nicht für das geschaffen, was wir erreichen wollen. Wenn sie zu schwach sind, gefährden sie unser Ziel. Wir können uns nicht mit Schwächlingen umgeben. Wir haben keine Chance, wenn wir sie mitschleppen und Rücksicht auf ihre Befindlichkeiten nehmen. Die Revolution ist eine blutige Angelegenheit. Das hat er vorher gewusst. Er hätte die Klappe halten sollen.
Und Rebecca würde sagen: Ich habe euch alle gewarnt!
Und Oscar Wilde würde sagen: Wenn der Sozialismus autoritär ist, dann wäre der neue Status des Menschen schlimmer als der bisherige. Für den Künstler ist es unmöglich, mit dem Volke zu leben.
Was passierte hier gerade? Hatte er nicht genau davor von Anfang an gewarnt? Das heißt... Hatte Rebecca nicht von Anfang an davor gewarnt, dass die Sache aus dem Ruder laufen könnte, wenn zu viele dabei involviert waren? Wohlweißlich hatten sie Rebecca abgesägt und ihn zum Schweigen gebracht, indem sie ihn hofierten. Ein entmachteter König, dem sie zwar zujubelten, der aber in Wirklichkeit nur noch eine Witzfigur war. Welch Ironie.
Freddy ergriff nun das Wort und rief: „Und die Polizei! Allesamt einsperren! In ihre eigenen Löcher!"
Begeisterung brandete auf. Nicht wenige dieser Männer hatten schon unangenehme Erfahrungen mit der Polizei gesammelt.
Brian, mein Freund, mach dem ein Ende!, betete Christopher. Wir haben ein Monster geschaffen. Ein Lindwurm aus menschlichem Abschaum wird sich zusammenrotten und nicht mehr fragen, wofür sie plündern, schlagen und verbrennen.
Christopher war auf dem besten Wege, seinen Glauben an die Menschheit zu verlieren. Er ekelte sich vor diesen Männern, vor den Phantasien, die sie laut aussprachen, um sich vor den anderen zu profilieren. Ein furchtbarere Wettstreit, wer die abartigsten Ideen hatte.
„In Stücke sollten wir sie hacken und Reliquien verkaufen!"
„Ihr Fett auskochen und den Hunden zum Fraß vorwerfen!"
„Ihren Kopf vor dem Rathaus aufspießen und von den Raben aushöhlen lassen!"
Sie hatten es tatsächlich geschafft, dass Christopher Sympathien für die Königin aufbrachte. Setz dem ein Ende, Brian!, dachte er erneut, Sag etwas! Auf dich hören sie!
Aber Brian sagte nichts. Was er entsetzt oder entzückt? Christopher konnte es nicht sagen. Er konnte ja kaum sein Gesicht sehen. Es war zu dunkel hier. Mordphantasien äußerte man nicht, wenn man einander in die Augen sehen konnte. Die Menschen versteckten sich hinter ihren Stimmen. Glaubten in der Masse nicht als Einzelperson erkannt zu werden. Stimmen, Geister konnte man nicht festnageln. Niemand konnte ihnen etwas beweisen, aber reden, grölen, nach Blut lechzen wollten sie trotzdem.
Feiglinge, dachte Christopher. Einen Spiegel. Man sollte hier einen großen Spiegel aufhängen, damit sie sich selbst sehen konnten! Überall sollten Spiegel hängen. Alle Wände im Parlament sollten verspiegelt sein! Sie sollten sich selbst in die wilden, kalten, unmenschlichen Augen blicken müssen, wenn sie vorschlugen, die Königin bei lebendigem Leibe auszuweiden. Sie sollten sich selbst in die Augen blicken müssen, wenn sie einen Krieg beschlossen, wenn sie junge Männer in den Tod schickten und junge Frauen in der Gosse sterben ließen. Sie sollten von ihren eigenen Blicken verfolgt werden. Immer und überall hin. Sie sollten nicht einschlafen, ohne ihren eigenen Augen Rechenschaft ablegen zu müssen. Sie sollten sich selbst sehen, wie sie die Messer wetzten, wie ihnen der Geifer über ihr Kinn tropfte, wie sie sich zusammenrotteten aus allen schmierigen Ecken der Stadt, in denen sie sich herumdrückten wie Ungeziefer. Ihre Haltung bucklig, ihre Bewegungen schleppend und ihre Glieder steif vom Nihilismus, der sie immun machte gegen Zweifel, Ängste und am gefährlichsten von allem: Ein Gefühl für ihre Würde, ihren Selbstwert. Wer sich selbst egal war, der riss dem Feind den Kopf mit den Zähnen ab. Sie sollten sich dabei beobachten, wie sie unmenschlicher und unmenschlicher wurden. Vielleicht würden sie dann vor Abscheu zusammenbrechen und wimmernd ihr Spiegelbild um Verzeihung bitten.
Da ist kein Gott, der euch richtet, dachte Christopher, aber das heißt nicht, dass niemand euch richten wird. Wenn ihr noch einen Funken Menschlichkeit in euch habt, werdet ihr früher oder später erkennen, was ihr angerichtet habt. Leider lehrt uns die Geschichte, dass es dann meist zu spät sein wird.
Was würde geschehen? Sie werden jeden einzelnen von uns festnehmen. Sie werden uns den Prozess machen. Sie werden uns einsperren. Vielleicht werden sie ein Exempel statuieren. Dann werden wir hängen. Brian und ich. Ich vor Brian. Er weiß es. Aber auch er hat die Kontrolle verloren. Er schweigt, weil er die Kontrolle verloren hat. Er fürchtet sich. Oh ja, Recht hast du! Fürchte dich, Brian! Sie werden dich aufhängen. Dich und mich! Du weißt, dass wir vielleicht fliehen müssen, aber du hast Angst davor, allein zu sein. Du hast Angst, mich vergrault zu haben. Du hast Angst, dass ich dich verraten könnte, um meine Haut zu retten. Du hast Angst, dass ich dich belaste und Rebecca wird mich bestätigen. Was wird Cathy tun? Hast du einen Fürsprech? Hast du irgendjemanden, Brian? Wir werden rennen müssen. Wie schnell kannst du laufen? Und wie weit?
Zu Hause kochte Rebecca Eintopf und ließ gleichzeitig eine Wut in sich schwelen, die sie schon seit einiger Zeit schürte, ohne sie richtig aufflammen zu lassen. Es war eine Kunst, die nur sie beherrschte. Der Zorn musste glühen. Wenn man ihn ausgehen ließ, weil man ihn in sich erstickte, erstickte man irgendwann selbst an zu viel Asche im Herzen. Wenn man ihn aber zu einem ungezügelten Feuer werden ließ, so konnte er zerstörerischer sein, als man es geplant hatte. Zorn durfte nicht außer Kontrolle geraten. Rebecca hatte ihr ganzes Leben Zeit gehabt, diesen Balanceakt zu perfektionieren.
Das Problem der modernen Frau, dachte sie, ist, dass sie ihren Zorn nicht pflegt. Sie fürchtet sich vor ihrem eigenen Potenzial, fürchtet sich vor dem Kontrollverlust mehr, als dass die Möglichkeit, die Kontrolle zu übernehmen sie anstachelt. Es war die größte Niederlage der Weiblichkeit, als die Frauen es zugelassen hatten, dass ihre Wut pathologisiert wurde.
Die meisten erstickten daran, dass sie nicht mehr zornig sein konnten. Statt zu explodieren, verkümmerten sie, zerbrachen und das letzte, was ihnen blieb, war, sich in ihrem Selbstmitleid zu suhlen. Das gebrochene Mädchen war eine romantische Phantasie, die gebrochene Mädchen brauchten, um nicht durchzudrehen. Irgendjemand wird sie schon erretten. Sie mussten nur mitleiderregend genug dreinschauen... Die Wahrheit war, dass niemand sie überhaupt wahrnehmen würde, wenn sie den Mund nicht aufmachten. Und wenn doch, dann nur, damit die feinen Herren auf sie spucken konnten.
Rebecca hatte sich früh in ihrem Leben dazu entschlossen, dass niemand auf sie spucken würde. Und wenn einer es versuchte, so würde sie zurückspucken. Gift und Galle, wenn es sein musste.
Jonathans Besuch hatte nicht nur Christopher zugesetzt, sondern auch ihr. Noch nie hatte sie Christopher Wörter wie „Wichsen" in den Mund nehmen hören. Noch nie hatte sie sich selbst dabei beobachtete, wie sie die Wut in ihrer Brust so sehr dämpfen musste. Hätte sie sich nicht so zusammengerissen, wäre sie vermutlich mit Haut und Haar in Flammen aufgegangen.
Tragisch, dachte Rebecca, wie andere uns dazu bringen, Dinge zu tun und zu sagen, die wir gar nicht meinen. Sie reizen uns. Bis aufs Blut. Walisisches Blut. Zigeunerblut. Blaues Blut. Blut, Blut, Blut. Kochendes Blut. Kaltblütig.
Tragisch, wie wir Entscheidungen treffen. Unter Druck. Da ist immer Druck. Jemand provoziert uns. Wir schlagen zu. Jemand schlägt uns. Wir schlagen zurück. Jemand feuert uns an. Wir gehen weiter, als wir wollen. Jemand warnt uns. Wir bekommen Skrupel und weichen vor unserem Ziel zurück. Jemand ignoriert uns und wie versinken in Selbstzweifeln und fragen uns, war wir nur falsch gemacht haben, um ihn zu verärgern. Wem kann man noch vertrauen, wenn wir uns durch all das manipulieren lassen?
Wir wollen das eine und werden mit einer Welle aus Emotionen mitgerissen in eine Richtung, die wir eigentlich gar nicht einschlagen wollten, von der wir vielleicht gar nicht wussten, dass sie existiert. Und dann sind wir allein auf hoher See und kein Land ist mehr in Sicht.
Christopher würde nie jemandem in die Suppe wichsen. Nicht einmal der Königin. Und sie? Rebecca? Wie viele Skrupel hatte sie? Wie sehr konnte sie sich noch zügeln? Wie viel war angemessen?
Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Rebecca alle Schattierungen der Angemessensheitsskala gekannt, aber irgendwann hatte sie beschlossen, darauf zu pfeifen. War es angemessen, kontrollierte Vergiftungen an Menschen durchzuführen? War es angemessen, in ihren Körpern herumzustochern, bis sie bluteten? War es angemessen, Werkzeuge herzustellen, mit denen sie ungeborenes Leben auslöschte, vernichtete, herausriss aus ihrem potenziellen Dasein? War es angemessen, den niedersten Kreaturen des Planeten, den Huren von Manchester, eine Zuflucht zu bieten, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken? Wenn man Aufmerksamkeit schenkt, wenn man wahrnahm, anerkannte, dass etwas existierte, musste man sich selbst in eine Beziehung dazu setzen. Und das war das Problem aller Personen aus Rebeccas Kindheit gewesen: Sie wagten es nicht, wahrzunehmen, weil sie es nicht wagten, sich eine Meinung zu bilden. Meinungen konnten schließlich Freundschaften kosten und Freundschaften bedeuteten Sicherheit und Wohlstand. Freundschaften waren Geschäftsbeziehungen, keine Mitleids-, Bewunderungs- oder Zuneigungsbeziehungen.
Aber Rebecca konnte gefährliche Dinge nicht einfach ignorieren. Sie war eines dieser Kinder, die in den Tierkadavern herumstocherte, die am Rand der Landstraße liegen geblieben waren. Sie stocherte bis heute.
Das Problem war, dass man nicht mehr wegsehen konnte, wenn man einmal hingesehen hatte. Wenn man einmal hingehört hatte, bekam man sie Stimmen nicht mehr aus dem Kopf. Die Klagen, die Geschichten, die Schicksale. Man konnte nicht vergessen, man konnte nicht mehr schlafen, wenn man nicht anfing, sich einzumischen.
Es war nicht so sehr eine Frage der Schuld, wie man vielleicht dachte. Es gibt keine Schuldigen, wenn es keine Ankläger gibt. Aber es gibt doch Möglichkeiten, die man nicht brach liegen lassen darf. Man muss ausprobieren, muss daran feilen, bis etwas funktioniert. Rebecca war Wissenschaftlerin, nicht Richterin, nicht Politikern, nicht Geistliche. So etwas wie eine Sünde gab es nicht, aber die Existenz eines Gewissens – zumindest ihres Gewissens – konnte sie nicht leugnen.
Leid ist universell und persönlich zugleich. Leid hält die Gesellschaft zusammen. Kollektives Leid schafft Vertrauen und eine Bewusstsein für die Abhängigkeit voneinander. Individuelles Leid hält die Erinnerung daran, dass wir alle Menschen sind am Leben. Leid lehrt Demut und Demut muss überwunden werden. Aber zu welchem Preis? Zu dem, dass man nicht mehr sicher sein konnte, ob ein netter Kerl einem nicht irgendwann in die Suppe wichste, wenn er gerade einen schlechten Tag hatte?
Stärke bedeutete in Rebeccas Vorstellung, genau diesen Impulsen zu widerstehen. Egal wie wütend man war, man durfte nicht vergessen, abzuwägen, was Probleme lösen und was Probleme verursachen würde. Wie viel war man bereit, zu zahlen? Was konnte man ertragen? Was konnte man schlucken und was musste man ausspucken? Wenn Christopher ihr in die Suppe wichste, würde er jedenfalls erhebliche Probleme bekommen...
Das Problem war auch, dass Männer sich im Gegensatz zu Frauen immer für unglaublich wichtig hielten. Jeden Satz, den sie von sich gaben, wollten sie am liebsten in Stein meißeln lassen und als universelle Weisheit verstanden wissen. Dabei hörte doch im Grunde niemand zu. Niemand hörte je jemandem zu. Die Worte flogen einem um die Ohren und dann waren sie verklungen. Auf alle Ewigkeit verschwunden. Vielleicht hafteten die Gedanken, die man in einem klugen Buch las, einige Tage nach, aber früher oder später wurden sie von neuen Gedanken verdrängt, die man für klüger, aktueller oder interessanter hielt.
Daran dachte Rebecca, als plötzlich jemand gegen ihre Haustür hämmerte.
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