Kapitel 12
Was für eine erbärmliche Kreatur ist der Mann, der darauf angewiesen ist, dass seine Frau ihn aus der Scheiße rausholt, aber nennt mir einen, der das nicht ist! Rebecca und Brian stützten Christopher und schleppten ihn die Treppe hinauf ins Bett, wo er seinen Rausch ausschlafen konnte.
Unten in der Küche sagte sie zu Brian: „Ich finde es unaufrichtig von dir, dass du Christopher allein lässt. Du hast Verantwortung für ihn. Alle einsichtsvollen Menschen haben sie gegenüber den Verunsicherten. Aber alles, was du tust, ist ihn zu foppen."
„War das nun ein Lob oder eine Kritik?", fragte Brian.
„Es war eine Anmerkung. Christopher ist ein Mensch, der allein nicht zurecht kommt und du weißt das so gut wie ich. Sieh dir an, was er heute Nacht angestellt hat. Was glaubst du, würde passieren, wenn er allein leben müsste? Er ist gut darin, sich um andere zu kümmern, aber er schafft es nicht, seine eigenen Angelegenheiten auf die Reihe zu bekommen. Das Leben anderer Leute füllt ihn so sehr aus, dass da kein Platz mehr für ihn selbst ist. Er hat sich sozusagen sich selbst abgewöhnt. Und wenn er dann mal allein mit sich ist, passiert sowas."
„Wirst du jetzt zur Abstinenzlerin, Rebecca? Behandel mal deinen Mann nicht wie ein kleines Kind. Christopher weiß sehr wohl, was er tut und wie er es zu tun hat. Er hat jahrelang allein jeden Tag auf einem Kutschbock gesessen und ist dadurch weder verrückt noch sonderbar geworden."
„Dadurch vielleicht nicht. Aber es kommt ihm zupass. Wenn niemand ihm zur Seite steht, gerät er auf die schiefe Bahn. Es gefällt ihm nicht, wenn man ihm das sagt und ich bin froh und dankbar, dass du ihm hin und wieder einen Schubs in die richtige Richtung gegeben hast, aber wenn du abdriftest, wird er dir nicht folgen, Brian!"
„Na schön, das war dann jetzt aber eine Drohung, nicht wahr? Vielleicht ist das Problem auch einfach, dass du, Rebecca, nicht in der Lage bist, dich klar auszudrücken. Es ist nicht dein Problem. Die meisten Frauen können oder trauen es sich nicht. Die Unbestimmtheit der Frau ist ein Mysterium und die Würze des Lebens, aber, meine Liebe, sie hilft uns ganz sicher nicht weiter bei der Ergründung der wichtigen Fragen der Menschheit."
„Und wenn du Menschheit sagst, meinst du Männlichkeit", wand Rebecca ein, „Findest du es nicht interessant, dass das Argument, warum Frauen keine Geheimnisse ergründen sollen, ist, dass sie für euch ein Geheimnis darstellen? Ihr wollt Probleme ignorieren, um sie zu lösen. Womit ich nicht sagen will, dass Frauen Probleme sind, aber übermäßiger Alkoholkonsum ist es. Du kannst es nicht ignorieren und behaupten, du wolltest dich nicht in seine persönliche Freiheit einmischen oder es sei gar kein Problem, weil noch nie jemand es vorher so formuliert hat. Das ist mir zu billig. Wenn es um schlechte Eigenschaften geht, haltet ihr zusammen, weil ihr euch vor Veränderungen und Kritik fürchtet. Brian, ich mache dir keinen Vorwurf, dass du ihn heute so hast trinken lassen. Aber wenn du es morgen und übermorgen wieder zulässt, dann werde ich dich zur Verantwortung ziehen, weil du sein Freund bist und Freunde ihre Freunde nicht verkommen lassen."
„Du übertreibst, Rebecca", sagte Brian, aber weniger vorwurfsvoll, als man es erwartet hätte nach ihrem Streit.
„Du bist ein guter Kerl, auch wenn man dir wie allen Männern ab und an auf die Sprünge helfen muss. Und weißt du, warum du ein guter Kerl bist? Weil du noch nie ganz unten angekommen bist, weil du noch nie die Hoffnung verloren hast, weil du noch nie ganz allein in der Welt warst. Wer alle Hoffnung fahren lässt, den kümmert weder Tod noch Elend, den kümmert nicht, dass die eigenen Kinder so enden werden wie man selbst, der schindet sich mit Gleichgültigkeit zu Tode und hält Liebe für die Vorstufe des Unglücks. Du warst noch nie an diesem Punkt, an dem dir egal war, ob du lebst oder stirbst, an dem du Schmerz nicht nur in Kauf nimmst, sondern herbei sehnst, aber du warst tief genug unten, um zu wissen, dass du niemanden dorthin abrutschen lassen willst, hab ich Recht?"
„Was weißt du schon über mich?", schnappte Brian.
„Mehr, als dir vermutlich lieb ist. Du schwingst gerne große Reden, also musst du das jetzt aushalten. Ich würde dir das nicht sagen, wenn ich nicht wüsste, dass du dich insgeheim für Cathy aufopferst. Du hängst das nicht an die große Glocke, weil dir das vielleicht peinlich ist – was weiß ich – aber du tust es. Du stehst zu ihr, wie ich zu Christopher stehe und deshalb solltest du mich verstehen. Mir gefällt nicht, wohin sich das alles entwickelt. Freundschaft wird absorbiert von Nützlichkeit. Früher oder später kollabiert jede Gruppe. Akkumulation und Isolation sind keine Gegensätze. Beides geht mit Verlusten einher. Verlusten von Autonomie. Im Augenblick ballt sich alles zusammen. Ihr seid im Rausch eurer eigenen Stärke. Passt bloß auf, dass euch dabei nichts abhanden kommt. Euer Verstand zum Beispiel."
Brian schaute sie an, als würde er kein Wort verstehen, also versuchte Rebecca es noch einmal: „Verwahrlosen kann man auch in Mitten einer großen, zivilisierten Gesellschaft. Es gibt Leute, denen gefällt es, anderen dabei zuzusehen. Wahrscheinlich, weil sie sich selbst dann besser fühlen... Aber du und ich, wir sind nicht so hart. Wir fühlen noch etwas. Wir können noch klar sehen und die Lage beurteilen. Wir haben Mitleid und nicht nur Lust am Verderben. Wenn da draußen Menschen verrecken, bespucken wir sie nicht, weil wir es unerhört finden, dass sie es vor unseren Augen tun. Das war doch die Idee hinter euren Aktionen, oder nicht? Ihr konntet das Elend nicht mehr ertragen. Und jetzt? Jetzt feiert ihr euch selbst für eure Brutalität und eure Skrupellosigkeit. Hochmut kommt vor dem Fall, mein Lieber."
„Ich glaube nicht, dass dir ein Urteil zusteht", sagte Brian knapp, „Werte und Normen sind doch letztlich auch nur Übereinkünfte einer Mehrheit gegen die Minderheit. Was du Verwahrlosung nennst, nennen andere vielleicht Freiheit. Was du Schmerz nennst, nennen andere vielleicht Erfüllung und Leben. Was dich anekelt, kann andere beglücken. Was gesund ist, entscheidest nicht du. Das ist ein gängiger Irrglauber aller Ärzte. Für manche Menschen ist der Tod das gesündeste, was ihnen passieren kann und für manche Menschen ist das Leben eine Krankheit, die überwunden werden muss. Jeder lebt, wie er es für richtig hält, niemand braucht die Gängelei einer selbsternannten Autorität."
„Du vielleicht nicht und ich auch nicht. Aber es gibt Menschen, die sind verloren in ihrer Freiheit", sagte Rebecca, „Und es ist unsere Verantwortung, ihnen zu helfen."
„Helfen, das zu tun, was du von ihnen erwartest?"
„Helfen, sich selbst zu helfen. Sie ermächtigen, selbst zu entscheiden."
Zu den nächsten beiden Treffen im Pub konnte Christopher sich nicht durchringen. Er lag krank im Bett. Vermutlich hatte er sich bei Rebecca angesteckt oder bei sonst irgendwem. Draußen bei einem dieser Menschen, die ihm mit einem Mal so fremd vorkamen. In seinem Kopf pulsierte das Bild einer geifernden Meute, die Blut sehen wollte. Blut. Wessen Blut?
„Die Königin!", rief Rebecca entsetzte und aufgeregt zu gleich.
„Es war Pats Idee", erklärte David. Er saß gelangweilt vor seine Tasse Tee. Man hatte ihn offensichtlich zu diesem Krankenbesuch gezwungen, aber er zeigte ohne Scham, was er von derartigem Anstand noch hielt.
Seine Zeit würde kommen, ihre Zeit war vorbei. Krankheit, jedes Zeichen von Schwäche war ihm zuwider geworden, nachdem er zum ersten Mal erfolgreich getötet hatte. Wie sich das anhörte... Er, David Dunne, hatte erfolgreich getötet. Normalerweise nichts, worauf man stolz sein sollte, aber es hatte einem Zweck gedient. Er hatte einem Zweck gedient. Er war nützlich und wer nützlich war, war angesehen.
Ähnliche Gedanken schienen viele weitere Männer aus der indirekten Nachbarschaft zu haben, denn sie erschienen voller Dankbarkeit vor Rebeccas Tür und brachten Brot, Kuchen und Tinkturen für den Kranken. Rebecca blieb skeptisch. Männer, die sich um jemandes Gesundheit sorgten? Das kannte sie nicht und mehr als ein kurzes „Danke" brachte sie nicht über die Lippen.
„Wir kennen uns schon sehr lange", sagte einer, „Wir haben lange zusammen gearbeitet. Er immer mit den Pferden, du weißt schon. Und ich sag immer, der Chris ist ein guter Kerl. Immer hilfsbereit. Ein bisschen verträumt, ja. Aber nur Träumer kommen auf die guten Ideen, stimmt's?"
„Du hörst dich an, als wolltest du mir kondolieren", erwiderte Rebecca, „Er ist nicht tot und er wird auch nicht sterben. Aber es ist schön, dass du ihm so viel Respekt entgegenbringst. Weißt du, normalerweise sind die Männer, die hier her kommen, ein wenig vorurteilsbelastet."
Brian kam nicht, aber bevor Rebeccas Enttäuschung in Zorn umschlagen konnte, stand jemand anderes vor ihrer Tür.
„Guten Tag, Rebecca", sagte Jonathan brüsk und drängte hinein in die Wohnung, „Du bist vielleicht zu feige, um persönlich bei mir vorbeizukommen, aber ich sehe es dir nach."
„Wie großzügig", sagte Rebecca und folgte ihrem Gast zum Esstisch, wo dieser sich niederließ, „Aber wie kommst du darauf, dass ich den Wunsch verspüre, bei dir vorbeizukommen?"
„Den verspürst du natürlich nicht, aber wie die Sache liegt, ist es unvermeidlich gewesen, nehme ich an. Aber du hattest schon Recht, einen Laufburschen zu schicken. Man stelle sich nur all die Blicke vor, die du auf dich gezogen hättest."
„Was denn für ein Laufbursche?", fragte Rebecca in dem Versuch diesen Ringkampf um die am besten gespielte Gelassenheit zu gewinnen.
„Du weiß schon, der lange, dürre Rotschopf. Er sagte, du seist im Augenblick zu sehr damit beschäftigt, Christopher zu pflegen und könntest nicht persönlich kommen. Wie schlimm steht es denn um ihn? Werde ich unserem Vater davon berichten müssen?"
„Vielleicht möchtest du dir selbst ein Bild machen? Ich denke, es ist in weniger als einer Woche ausgestanden. Eine Grippe, nichts weiter. Da hat der lange, dürre Rotschopf dich ganz schön an der Nase herumgeführt. Jetzt bist du wegen nichts in diese verrufene Gegend gekommen. Es wird ein Alptraum werden, diesen Schmutz wieder von deinen Kleider zu bekommen. Ich hoffe, du hast ein fähiges Dienstmädchen für derlei Angelegenheiten?"
„Für unsereins gibt es Wäschereien, Rebecca", sagte Jonathan.
„So? Kannst du dir noch kein eigenes Personal leisten? Wie schade."
„Ist er oben?"
„Im Schlafzimmer gleich rechts, wenn du die Treppe hinaufkommst. Er freut sich sicher, dass du kommst. Er hatte ja so viel Besuch in den letzten Tagen, man hätte meinen können, er segnet das Zeitliche und hätte etwas zu vererben."
„Rebecca, bei allem Respekt, aber ich bin hier, um einen Arzt untersuchen zu lassen, ob mein Bruder das Zeitliche segnen wird oder nicht. Es ist dir vielleicht ein fremdes Gefühl, aber Familienmitglieder stehen einander näher als – nun ja – Zufallsbekanntschaften."
„Oh, es steht dir natürlich frei, einen Arzt zu beauftragen, wenn du meinen Kenntnissen nicht vertraust. Natürlich musst du all die Fehler, die du bei Elizabeths Erkrankung gemacht hast, irgendwie kompensieren. Ich bin sehr froh, dass du dich so um deinen Bruder sorgst."
Während Rebecca Jonathan und Christopher sich anschließend oben streiten hören konnte, knirschte sie unten mit den Zähnen, um sich zu beruhigen. Dem langen, dürren Rotschopf würde sie gehörig denselben waschen müssen. Brians Eigeninitiative in allen Ehren – und dass er sich offensichtlich schämte, Rebecca unter die Augen zu treten -, aber er konnte nicht einfach diesen Kotzbrocken von Jonathan unvermittelt zu ihr nach Hause beordern! Hatte er etwa ein schlechtes Gewissen? Oder Angst vor Rebeccas Gardinenpredigten? Was war los mit diesem Kerl? Brian hatte mehr Geheimnisse als sie, dachte Rebecca und fragte sich, ob sie einfach nur diesen kruden, unausgesprochenen Wettbewerb gewinnen wollte, oder ehrlich neugierig war.
Jonathan kam mit Christopher im Schlepptau zurück nach unten und noch bevor Rebecca etwas wegen Christophers Aufzug – er stand in Unterwäsche vor ihnen – sagen konnte, ergriff Jonathan das Wort: „Es ist kein Wunder, dass man sich in dieser Gesellschaft alle möglichen Krankheiten einfängt. Chris, du weißt, dass die Gesundheit unserer Familie nicht die beste ist und dass uns aus diesem Grund daran gelegen sein sollte, unseren Umgang zu verbessern. Du kannst jederzeit bei mir einziehen, bis du wieder auf die Beine gekommen bist."
„Wirklich, ich finde, das ist respektlos!", sagte Christopher.
„Respektlos? Welchen Respekt haben diese Menschen verdient, die ihr eigenes Leben nicht auf die Reihe bekommen?"
Rebecca starrte die beiden nur an. Sie wollte sehen, wie das weiter ging.
„Ich will nicht, dass du so endest. Unsere Eltern haben uns hierher gebracht, damit aus uns etwas werden soll, nicht damit wir hier zu Grunde gehen. Zu Grunde gehen hätten wir auch in Irland können. Du solltest lieber ein wenig Respekt zeigen. Selbstrespekt, Christopher!"
„Wie kann man Selbstrespekt beweisen, indem man verleugnen, was man ist und wo man herkommt? Dir ist es doch peinlich zuzugeben, dass du einen Bruder hast, der in Hulme lebt und einen Vater, den du vor die Hunde gehen lässt. Rebecca ist dir peinlich. Selbst wenn ich sie heiraten würde, würdest du sie nicht als Mitglied der Familie akzeptieren. Elizabeth war dir peinlich, bis sie endlich tot war und du sie öffentlich betrauen konntest."
„Nach allem, was ich höre, bist du unzufrieden mit dem Leben hier. Ich will das Beste für dich. Wir stehen auf derselben Seite, du siehst es nur nicht."
„Der Unterschied ist, dass du nach oben willst, indem du andere niederstampfst und zurücklässt und ich hier bleiben und vor Ort etwas ändern möchte. Du flüchtest vor der Realität und ich blicke ihr ins Auge."
„Und dann? Handelst du auch? Was tust du, außer zu reden? Wie willst du mit Gerede vorwärts kommen?", fragte Jonathan.
„Wenn meine Freunde und ich zusammenarbeiten..."
„Du verlässt dich auf Nichtsnutze und so wirst du einem von ihnen."
„Vielleicht gefällt es mir."
„Vielleicht gehst du dabei zu Grunde."
„Ja, vielleicht", gab Christopher zu, „Aber ein angepasster Büroangestellter, der sich den Arsch am Schreibtisch platt sitzt, ist noch nie zum Helden geworden."
Jonathan musste sich sein reptilienhaftes Lachen verkneifen und sagte: „Ihr wollt Helden ein? Der Arbeiterklasse muss es ja gut gehen, wenn sie ihre Zeit mit Ruhmesphantasien verschwenden kann."
„Im Gegenteil", sagte Christopher, „Es geht ihr so schlecht, dass ihr nichts anderes mehr im Leben bleibt, als es sich schön zu träumen. Aber glaub nur nicht, dass wir untätig sind."
„Das glaube ich keinen Augenblick, Chris. Arbeitslose sind doch immer die fleißigsten. Da kannst du jeden von ihnen fragen. Alle werden es dir bestätigen."
„Jeder braucht diese kleinen Lügen, um die Selbstachtung zu behalten", verteidigte Christopher seine Freunde.
„Sie bräuchten diese Lügen nicht, wenn sie ihre Selbstachtung aus ehrlicher Arbeit generieren würden."
„Es gibt aber keine Arbeit!", schrie Christopher und begann danach so stark husten, dass er sich setzen musste.
„Du versuchst es ja nicht einmal, Bruderherz."
„Was denn, mich anzubiedern? Vielleicht bin ich ganz froh, dass ich den Herrschaften nicht mehr dabei behilflich bin, ihnen das Geld heran zu scheffeln. Ja, vielleicht bin ich sogar glücklicher als sie, die in ihren Badezimmern Parfum im Wert dieses ganzen Hauses stehen haben. Wer kann ihnen schon versichern, dass nicht jemand hinein gepinkelt hat. Alles, was sie besitzen, wird ihnen angeliefert. Es geht durch tausend Hände, weil sie mit ihren eigenen Händen nichts mehr selbst zu Stande bringen. Wie können sie sich sicher sein, dass nicht eine ihrer dienstbaren Geister, ihnen eines Nachts den Hals umdreht? Wusstest du dass die Königen Manchester einen Besuch abstatten wird? Ich frage mich, wie viel Sperma sie in ihrem bisherigen Leben gefressen hat, weil ihr jemand in die Suppe gewichst hat."
„Christopher!"
„Ach, bist du jetzt auch noch zum Royalisten geworden, Jonathan?"
„Ich verstehe nur diese Wut nicht, Christopher. Was hat die gute Frau dir denn getan? Dir ganz persönlich? Nichts. Sie lässt dich leben, wie du willst. Sie behelligt dich kein bisschen und doch hasst du sie. Was ist nur für ein Mensch aus dir geworden, Christopher. Hass ist so ein unschönes Gefühl. Diese Umgebung tut nicht nur dir und deiner Gesundheit, sondern auch deinem Charakter nicht gut."
„Die Slums machen den Slumbewohner, nicht umgekehrt", sagte Christopher, „Alles, was du hier siehst, ist die Schuld derer, von denen du willst, dass ich sie nicht hasse. Was soll ich sonst tun? Ihnen die Füße küssen?"
„Es gibt durchaus noch Vorgehensweisen, die zwischen diesen Extremen liegen", meinte Jonathan.
„Ja. Untätigkeit. Hast du das nicht eben noch verurteilt?"
„Du könntest dein Schicksal in die Hand nehmen, statt herum zu jammern. Die Klassenunterschiede, die du zu sehen glaubst, sind nicht wirklich existent. Du wirst nicht in den Schmutz geboren, um dort zu bleiben. Der Unterschied zwischen der Mittel- und der Arbeiterklasse ist die Bildung und für seine Bildung ist jeder selbst verantwortlich."
„Jetzt bist du aber naiv, Brüderchen", sagte Christopher, „Du weißt so gut wie ich, worin die Unterschiede liegen, denn deshalb bist du ja fortgezogen. Egal wie mies dein Gehalt ist, wenn du vorgeben kannst, aus der Mitteklasse zu stammen, wirst du besser behandelt. Es ist der Schein, der dafür sorgt, dass man dich nicht mehr warten lässt, dass man keine Entscheidungen über deinen Kopf hinweg trifft, dass man dich nicht für minderwertig und verblödet hält. Sein Schicksal hat in der Hand, wem es in die Hand gegeben wird, weil er den Eindruck erweckt, es in der Hand zu haben. Respekt, Jonathan, das ist der Unterschied zwischen den Klassen, aber du weißt ja nicht mehr was das ist. Du kennst ja nur noch Verachtung und Zynismus!"
„Und ich zeige meine Verachtung, indem ich dir nicht nur einen Arzt zur Seite stellen, sondern dich auch in mein Haus aufnehmen will? Was hast du jemals für jemanden getan? Welche Mittel hast du denn, um denen zu helfen, die dir angeblich am Herzen liegen?", fragte Jonathan.
„Mit dir kann man nicht mehr reden", schloss Christopher resigniert, „Du warst mal ein guter Bruder, aber irgendwas hat dich verdorben."
„Und du bist verbissen und verfahren in deinem Hass. Bei dir gilt man also schon als verdorben, wenn man Gewalt und Verbrechen ablehnt."
„Verbrechen sind nur Verbrechen, wenn jemand sie dazu erklärt", mischte sich Rebecca ein, „Ist die Kupplerin eine Verbrecherin, weil sie ermöglicht, was alles sich wünschen? Bin ich eine Verbrecherin, weil ich töte, was niemand will?"
„Wenn du mich so direkt fragst, meine Liebe, ja. Ja, es ist ein Verbrechen zu töten, egal, ob jemand es will oder nicht", sagte Jonathan.
„In diesem Fall würde ich es vorziehen, wenn du mein Haus verlassen würdest. Ich will schließlich nicht, dass du in Verruf gerätst, weil jemand dich hier ein- und ausgehen sieht. Schließlich sollst du nicht in Verbindung mit Verbrechern gebracht werden. Ich schätze, das schadet deiner gesellschaftlichen Stellung, die du dir so hart erarbeitet hast."
Jonathan ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Rebecca rauchte vor Wut und zerschlug eine Teetasse, die ihr schon länger ein Dorn im Auge war.
„Ich glaube", sagte sie zu Christopher, „du solltest dich wieder ins Bett legen. Du holst dir hier nur den Tod."
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