Kapitel 11

„Immer mehr tote Wasservögel" titelten die Zeitungen. Aber der Ton der Meldungen veränderte sich. Das Sterben der Schwäne war nun kein Lückenfüller mehr, keine Randbemerkung, die höchstens dazu geeignet war, gelangweilten Hausfrauen ein mitleidiges „Och" zu entlocken, sondern etwas, das so langsam einen Anlass zur Sorge gab.

Man müsse sicherstellen, dass das Wasser des Kanals nicht giftig sei und die Industrie Rücksicht auf diese majestätischen Tieren nehme.

„Das ist dann wohl die legendäre englische Tierliebe", kommentierte Rebecca.

„Ihr Waliser habt einfach keinen Sinn für Majestätik", sagte Christopher.

„Ihr Iren doch auch nicht! Außerdem bezweifle ich, dass Majestätik ein Wort ist."

„Die einzige Kritik, die sie anbringen, ist die an den Fabriken", sagte Christopher enttäuscht, „Auf die Idee, dass jemand vorsätzlich die Schwäne vergiftet, kommen sie nicht. Sie sehen zu, wie die Arbeiter ihre Jobs verlieren, aber wenn ein paar Schwäne ihr Leben lassen, werden sie plötzlich alle zu Antikapitalisten."

„Wenn sie erführen, dass ein paar arbeitslose Stadtstreicher die Vögel um die Ecke bringen, würden sie härtere Strafen für Stadtstreicherei fordern. Was erwartest du von der bürgerlichen Presse? Die haben keine Überzeugungen, die verkaufen nichts als Empörung. Jeden Tag zünden sie ein neues Strohfeuer an. Heute sind sie vielleicht gegen die Bosse, morgen wirft einer einen Stein ins Fenster einer Fabrikhalle und übermorgen fordern sie mehr Polizei, die dieses dreckige Arbeiterpack endlich zur Räson bringt. Sie sind auf niemandes Seite, sie kämpfen für niemanden, außer dafür ihre Zeitungen zu verkaufen."

„Dann sollten sie das schreiben, was die Arbeiter hören wollen", wand David ein, „Davon gibt es mehr als von den Geldsäcken."

„Wenn die nur alle lesen könnten, hättest du vielleicht Recht", sagte Rebecca.

„Und dann müssten sie es sich noch leisten können, eine Zeitung zu abonnieren", sagte Christopher.

„So lange sie sich Weißbrot leisten, können sie sich auch Zeitungen leisten", meinte Rebecca, „So schlecht steht es um die Menschheit nun auch wieder nicht. Das Problem ist, dass sie den ganzen Quatsch nicht verstehen, der da drin steht. Die Wörter sind zu kompliziert. Diese Leute schuften von morgens bis abends, da wollen sie sich nicht noch mit abgehobenem, pseudointellektuellem Wirrwarr auseinandersetzen, der von Leuten geschrieben wurde, die jedem beweisen wollen, dass sie was Besseres sind. Geltungssucht schlägt Überzeugung!"

Brian war schon wieder nicht aufgetaucht und das ärgerte Christopher. Für einen Menschen, der anderen gerne die Welt und ihre eigene Seele erklärte, war er, was seine eigenen Angelegenheiten betraf, ein ausgemachter Geheimniskrämer. Oder war etwas zwischen ihm und David vorgefallen? David jedenfalls verhielt sich völlig normal und gab an, von nichts zu wissen, ließ aber die Bemerkung fallen, dass er Brian nicht gerade für zuverlässig hielt. Dass Brian flatterhaft war und es mit der Pünktlichkeit generell nicht so genau nahm, wusste Christopher allerdings selbst.

Rebecca kommentierte Brians Fehlen nicht. Sie war wohl noch sauer auf ihn und vielleicht war er auch noch beleidigt mit ihr, weswegen er sich in ihrem Haus nicht blicken ließ.

Stattdessen hatten Davids Freunde zuverlässig weitere Sympathisanten angeschleppt und Rebeccas Missfallen konzentrierte sich auf sie. Pat und Thomas hatten eine ganze Reihe Junge und Mädchen mit angeschleppt, die nun auch die Schwäne füttern wollten.

Es waren zum größten Teil ihre Geschwister und deren Schulfreunde. Dreckig, struppig und vermutlich verlaust. Ein Mädchen mit einer großen Zahnlücke kratzte sich verdächtig am Kopf und Rebecca trat schaudernd einen Schritt zurück.

„Nein", sagte sie bestimmt.

„Aber wir wollen helfen", sagte ein Junge, der Pat verblüffend ähnlich sah, nur etwas kleiner und schmächtiger war.

„Ihr helft euch selbst am besten, indem ihr zur Schule geht", sagte Rebecca.

„Pff", machte der Junge und Rebecca seufzte.

Eine Schande, dachte sie, dass die Eltern ihren eigenen Kindern nicht beibringen, dass sie etwas erreichen können. Diese Kinder wachsen mit dem Gedanken auf, es ohnehin niemals besser zu haben, wie sollten sie sich also anstrengen? Überleben war das einzige, auf das sie hoffen konnten.

Christopher hatte Unrecht, wenn er glaubte, dass die Arbeiterklasse sich auflösen würde, wenn ihre Kinder aufstiegen. Niemand würde jemals aufsteigen. Nicht diese kleinen Bastarde jedenfalls, die niemals eine Perspektive sehen würden, weil es in ihrem Vokabular dieses Wort gar nicht gab.

Eine Schande auch, dass die Schulen ihnen nur beibrachten, das Lernen zu verabscheuen. Rebecca fragte sich, ob das System hatte: Kinder, die sich gar nicht aus ihrem Schmutz erheben wollten, weil sie nie gelernt hatten, dass es eine Welt ohne Schmutz gibt. Ignoranz ist Glück, hieß es, aber stimmte das? Nahm man wirklich alles als Glück an, wenn man nicht wusste, was einem an Glück entging? Oder meinte dieser zynische Satz nicht eher reiche Menschen, die ihre Leben glücklicher verbringen konnten, wenn sie nicht wussten, wie in den unteren Klassen ums Überleben gekämpft wurde?

Rebecca kannte beide Leben und Glück hatte sie nirgendwo erlebt. Langsam zweifelte sie auch daran, dass ausgerechnet Wissen den Ursprung von Unglück darstellen sollte. Vielleicht war auch diese Redensart nur ein schnell daher gesagter, dummer Spruch, der die vorwurfsvolle Stille und die Unsicherheit übertönen sollte. Ignoranz ist Glück. Seelig die Einfältigen. Beneidenswert das bescheidene Leben. Ekelhaft!

Rebecca hörte ihre Mutter sagen: „Ach, sie haben es doch gut. Ein mittelloses Leben ist ein sorgloses Leben. Wer nichts zu verlieren hat, kann nur gewinnen. Wer nichts mehr zu gewinnen hat, dem bleibt nur die Furcht vor dem Verlust. Sie tragen keine Verantwortung, sie entscheiden nicht über ihr Schicksal. Das ist wahres Glück."

Und dann hörte Rebecca sich sagen: „Niemand wird kommen, um euch zu retten. Rettet euch selbst!"

„Was?", fragte Christopher.

„Nichts", erwiderte Rebecca schnell, „Ich glaube, ich fühle mich nicht wohl."

„Willst du dich hinlegen?"

„Ja, das wird wohl das beste sein. Ich sollte mich hinlegen."

„Es muss ihr wirklich schlecht gehen, wenn sie einfach so einen Ratschlag annimmt", sagte David bissig, als Rebecca das Zimmer verlassen und nach oben gegangen war, „Aber was sagst du dazu, dass die Kleinen mitmachen wollen? Sie können viel unauffälliger Brot verfüttern als wir. Was meinst du?"

„Ich bin auf Rebeccas Seite", sagte Christopher knapp, „Keine Kinder. Das ist zu gefährlich. Und es gefällt mir nicht, wie diese Sache sich verbreitet. Wir müssen vorsichtig sein, habt ihr das vergessen?"

„Bisher hat sich noch kein Polizist eingemischt. Alle haben bisher dicht gehalten", sagte David, „Sie spekulieren immer noch über giftige Abwässer. Es wird langsam Zeit, dass sie diese Aktion verstehen!"

„Wer sind „sie"?", fragte Christopher.

„Na, die da oben, du weißt schon."

„Da bin ich mir nicht mehr sicher..."

Da es kein neues Brot gab, trollte sich die Gruppe bald und die Kinder schlenderten murrend und widerwillig nach Hause.

Christopher stieg die Treppe nach oben und fand Rebecca im Bett schlafend vor. David hatte Recht gehabt: Es ging ihr wirklich schlecht, wenn sie ohne Widerworte zu Bett gegangen und so schnell eingeschlafen war.

Rebecca träumte, durch den Wald zu einem Friedhof zu laufen. Aus der Ferne konnte sie Stimmen zweier ihrer Tanten hören, die sich darüber stritten, ob es eine Beleidigung darstellte oder Wertschätzung ausdrückte, einer Frau Kleidung zu schenken.

Kleidung? Wieso Kleidung? Weil sie schlecht gekleidet war? Weil sie keinen Geschmack oder kein Geld hatte? Und immer die Angst, entdeckt zu werden... Es galt, einen Standard aufrecht zu erhalten. Es galt, den Kopf oben zu halten, mitzuhalten, dabei zu sein.

Aber sie meinen es nur gut. Aber sie wissen Bescheid. Wissen, das sich über einen verbreitet, macht angreifbar. Güte ist Demütigung in diesen Kreisen.

Und am meisten verletzte Rebecca, dass nie ein Wort offene Kritik fiel. Für sie hatten sie nichts als Mitleid übrig. Mitleid ist die Abscheu distinguierter Leute...

Dabei war sie gar nicht auf die abgelegten Kleider anderer Leute angewiesen. Sie hatte Kleider ausreichend an Anzahl und Qualität. Aber eben nur ausreichend... Es reichte nie, wenn etwas nur ausreichte. Alles musste im Überfluss vorhanden sein. Notwendig war, was nicht notwendig war. Denn es war schon schön, wenn man es besaß, nicht wahr?

Ein schönes Leben, soll der Mensch haben. Danach streben die Damen der Gesellschaft. Schönheit ist eine Notwendigkeit der Dekadenz und Dekadenz ist eine Notwendigkeit für echtes Glück. Und echtes Glück ist ein Bild von sich selbst.

Der Friedhof befindet sich mitten in einer Hotelanlage. Vermieten sie hier Zimmer an die Lebenden oder Särge an die Toten? Und was von beidem war Rebecca?

Es ist ein Bild aus ihrer Kindheit: Ein Strand, zu dem die Menschen pilgern – nicht um Buße zu tun oder sich einer spirituellen Reinigung zu unterziehen, sondern um dem profanen Bedürfnis nach Müßiggang zu frönen und zu zeigen, dass man es sich leisten konnte, dies zu tun, obwohl man um Grunde gar nicht wusste, was man hier tun sollte, außer die Promenade hin und her zu spazieren. Zu stolzieren? Einen Sonnenschirm in der Hand. Die Schuhe so unbequem und viel zu eng bei dem heißen Wetter.

An jeder Ecken versuchen sie einem etwas zu verkaufen und Rebecca kann sich nicht entscheiden. Zu viel Auswahl, zu viele Möglichkeiten. Sie ist der Esel, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert. Was soll nur aus diesem Kind werden, das den Verzicht vorzieht, das überfordert ist mit dem Angebot in ihrem Leben?

Die Welt ist zu bunt, der Meinung ist Rebecca schon immer gewesen. Zu bunt, zu laut, zu schnell, zu voll. Die Regale sind zu hoch. Niemand kann die obersten Fächer erreichen, wieso sie also vollstellen? Musste man immer alle um jeden Preis überwältigen wollen? Die Korridore sind zu eng, wie soll man da aneinander vorbei gehen? Alles ist dafür ausgelegt, dass alle in der gleichen Geschwindigkeit in die gleiche Richtung gehen. Alle haben das gleiche Ziel. Aber dies ist ein Rundweg. Er führt an den Gräbern ihrer Großeltern vorbei. Irgendwo dort drüben, wo ein wilder Nussbaum die angelegten Hecken überwucherte.

Gut, dass sie das nicht mehr miterleben müssen, sie hätten es nicht ertragen, ihre Enkelkinder in geflickten Kleidern zu sehen. Es hätte ihnen das Herz gebrochen, wenn sie dich so hätten sehen müssen, Rebecca. Was soll nur aus dir werden?

Rebecca weiß nicht, ob dies ein Vorwurf oder echte Sorge war. Aber der Satz hallt in ihrem Kopf nach, als befinde sich sonst nichts darin. Es gibt diese Sätze, die Raum einnehmen, die alles um sie herum verdrängen, um ein Echo werfen zu können.

Was soll nur aus dem Kind werden? Das bedeutet: Sie wird nicht heiraten können, aber wir können sie auch nicht arbeiten schicken. Wovon soll man da noch träumen? Träume werden abgelöst von Sorgen. Geborgenheit wird abgelöst von Ekel. Die Nähe zu ihrer Familie erzeugt mit den Jahren Reibungshitze.

Wenn deine Großmutter sehen könnte, was du wieder mit deinen Haaren angestellt hat, Rebecca! Und wenn sie all den Dreck unter deinen Fingernägeln sehen würde...

Ja, was dann?

Zu meiner Zeit wärst du für so etwas mit dem Rohrstock bedacht worden.

Und heute? Konnte man sich heute nicht einmal mehr einen Rohrstock leisten? Dafür setzt es eine Ohrfeige.

Was für ein Druck auf ihnen liegt, den Schein aufrecht zu erhalten. Wie gerade sich ihre Mutter immer noch hält, obwohl sie zu Hause immer über Rückenschmerzen klagt. Aber an der Strandpromenade gibt es keine Schmerzen. Hier ist das Leben perfekt. Hier geben Töchter keine Widerworte. Hier haben Eltern ihr Ansehen, ihre Finanzen und ihre Familie im Griff.

In den Cafés schlürfen die Damen Likör aus Teetassen und lästern über die Passanten. Es ist wie auf dem Viehmarkt. Alles und jeder wird von jedem bewertet. Pflicht und Kür bei Tag und dann Entspannung beim Versuch während der Abendgesellschaft die besten Freunde auszustechen.

Und auf dem Friedhof gibt es genauso wenig Schmerz. Der Tod ist der ewig währende Urlaub vom Leben. Wenn man erst einmal in einer solchen Kiste liegt, fragt niemand mehr, ob das letzte Hemd geflickt ist oder nicht. Auch den Würmern ist es egal.

Und dann ist sie plötzlich ganz allein in einem Wirbel aus Bildern, die ineinander zerfließen zu einem bitterschmeckenden Farbenbrei. Zu viele Erinnerungen im Angebot. Vergessen ist keine Option. Zu teuer. Das kann Rebecca sich nicht leisten. Und noch etwas kann sie sich nicht leisten: Schlaf. Wie kam sie dazu jetzt zu schlafen?

Und schließlich geschah etwas, das Rebecca häufig in Träumen widerfuhr und woran sie noch im Traumzustand erkannte, dass sie träumte: Sie kippte nach hinten über, nicht willenlos, sondern bei vollem Bewusstsein in einem Akt der selbsterzwungenen Ohnmacht. Die einzige Form der Entspannung, die sie sich zugestand. Kontrollierter Kontrollverlust, der Wunsch, aufgefangen zu werden, die Lust an der Angst und der Gratwanderung zwischen Selbstaufgabe und Vertrauen.

Manchmal wünschte sich Rebecca derartige Anfälle auch in der Realität zu erleben. Niemand würde einer Epileptikerin vorwerfen, wenn sie einen Teil ihrer Selbstverantwortung abgab.

„Du hast Fieber", stellte Christoper fest, als sie die Augen aufschlug und festzustellen versuchte, wo sie war.

„Das ist nur die warme Decke", murmelte Rebecca und machte Anstalten, aufzustehen.

„Nein, das wirst du nicht! Du bleibst im Bett und kurierst dich aus!"

Zerknirscht blieb Rebecca liegen und fühlte, wie ihr der Schweiß aus allen Poren drängte.

Sie hatte sich eine ganz schöne Erkältung eingefangen, die sie die nächsten drei Tage ans Bett fesselte. Christopher bestand darauf, ordentliche Kohlen und ordentliches Brot vom Bäcker zu besorgen. Dass Rebecca keine Einwände vorbrachte, zeigte ihm, dass sie wirklich kaum noch Kraft hatte.

„Wenn du Brian siehst", sagte sie schließlich zu ihm, „dann sag ihm, dass er ein verdammtes Großmaul und ein Drückeberger ist! Und wenn er sagt, er kümmere sich um Cathy, dann sag ihm, dass er alles nur schlimmer macht. Dieser Frau ist nicht zu helfen. Sie ist gemeingefährlich. Hörst du? Zu ihrer eigenen Sicherheit sollte er sie einweisen lassen!"

„Ich bitte dich, es nicht zu überreizen", erwiderte Christopher, doch er bekam keine Antwort. Hier waren die Fronten offensichtlich verhärtet.

Was ein paar Tage Bettruhe doch ausmachten... Danach jedenfalls war die Welt eine ganz andere. Brian, das Großmaul, triumphierte über Brian, den Drückeberger und entfachte mit einer großzügigen Aktion im örtlichen Pub einen Flächenbrand. Am nächsten Morgen sprachen die Männer auf der Straße davon, wie ungewöhnlich generös sich der angeblich arbeitslose Brian mit einem Mal gab. Eine Runde nach der anderen hatte er geschmissen und mit jedem Glas Bier war er übermütiger geworden.

Seltsamer Kerl, hieß es. Viel zu klug für diesen Stadtteil. Viel zu gewitzt und viel zu gutherzig. Er habe eine seltsam verquere Art zu denken, das war bekannt, aber was er jetzt erzählt hatte, klang doch reichlich absurd.

„Habt ihr das mit den Schwänen gehört?"

„Die toten Schwäne auf dem Kanal?"

„Ja."

„Was ist mit denen? Die sind verhungert oder was?"

„Nein, vergiftet."

„Jemand vergiftet die Schwäne?"

„Ja. Die Schwäne der Königin."

Die Frage, ob es sich hierbei um Vandalismus, Terror oder einen Befreiungskampf handelte, war schnell geklärt: „Helden sind das, würde ich sagen!"

„Guter Kerl, Brian. Einer meiner besten Freunde."

„Wie wollen wir uns nennen?", fragte einer in die Runde. Das Licht im Pub war schummriger als sonst und der Pfeifenrauch hing schwer in der Luft. Christopher hatte Probleme zu atmen, ohne permanent husten zu müssen. Brian hatte ihn hierher geschleppt.

„Dir gebührt der Ruhm!", hatte er verkündet, „Du musst dabei sein! Du musst es erleben!"

Christopher wankte zwischen peinlicher Rührung, Stolz und Scham. Er war nicht für die große Bühne gemacht, aber so ein bisschen genießen durfte man seinen Erfolg ja wohl, oder nicht.

„Ja, wie ist unser Name? Wir brauchen einen Namen!"

Diese Begeisterung, dieser absolute Wille, Teil einer Bewegung zu sein, die bedingungslose Zustimmung... Das machte Christopher ein wenig Angst. Kaum einer von diesen Männern hatte bei einer ihrer Aktionen bisher mitgemacht. Keiner hatte sich in Gefahr begeben oder eine Idee gehabt und doch redeten sie bereits von „Wir" und „Uns". Und wie selbstverständlich gehörte Rebecca nun nicht mehr zu „ihnen". Sie war nicht eingeladen. Niemand hatte an sie gedacht und Brian hatte ihren Beitrag zur Gruppe geflissentlich verschwiegen. Seine Form der Rache, dachte Christopher, aber einmischen wollte er sich nicht, da konnte er nur verlieren.

David saß zufrieden im Mittelpunkt des Geschehens und ließ die allgemein gute Stimmung auf ihn wirken. Nichts anderes hatte er sich erhofft. Von Anfang an hätte Brian ihr Anführer sein sollen. Er wusste, wie man Leute begeisterte. Christopher war zu zimperlich für eine solche Position. Es mochte sein, dass er gute Ideen hatte, aber verkaufen konnte er sie und vor allem sich selbst nicht. Schon gar nicht mit dieser Frau im Schlepptau.

Es stimmte, dass Frauen nicht einfach waren. Man musste mit ihnen umzugehen wissen. Wenn man die Leine zu locker hielt, tanzen sie einem auf der Nase herum und wurden zu keifenden, besserwisserischen, hochmütigen Furien. Dann doch lieber eine wie Cathy, dachte David. Nicht besonders schlau, aber fügsam um loyal. Brian hatte sie im Griff und sie schien zufrieden zu sein. Im Gegensatz zu Rebecca, die nie genug bekam und nie zufrieden wirkte.

Man musste den Frauen zeigen, wann es genug war. Von alleine merkten sie es nämlich nicht. Wenn man sie allein ließ, wollten sie immer mehr, forderten und jammerten. Sie brauchten jemanden, der ihnen die Grenzen aufzeigte und ihnen erklärte, was möglich war und was nicht. Rebecca war eine unmögliche Frau, Cathy war eine, die sich mit ihren Möglichkeiten arrangiert hatte und so sollte es sein. Cathy drängte nie in die Öffentlichkeit. Cathy ergriff nie das Wort, wenn sie nicht angesprochen wurde und sie beschwerte sich nicht. Kein Mann der Welt, konnte eine Frau gebrauchen, die sich ständig beschwerte. Das Leben eines Mannes war schon schwer genug.

Das dachte David, als er sich zurücklehnte und genüsslich an seiner Selbstgedrehten zog.

„Die Gesellschaft für Wasserhygiene", schlug jemand vor und vereinzelt waren Lacher zu hören.

„Verein der königstreuen Vogelfreunde von Salford und Hulme", sagte ein anderer.

„Die Fortschrittsbruderschaft", darauf wurde schließlich angestoßen und bierschwangere Selbstzufriedenheit machte sich auf den Gesichtern breit.

Christopher fühlte sich unwohl. Das alles ging ihm zu schnell. Dinge wurden zu schnell abgehandelt, abgeurteilt und vergessen. Isabelles Cousin hatte sich aufgehängt und Rebecca hielt ihn für einen Feigling. War es das etwa? Hatte sich die Angelegenheit damit erledigt. Konnte man ein Leben ad acta legen, wenn man sagen konnte, dass jemand ein Feigling, ein Held, ein Schurke oder ein Opfer war? Ließen sich Menschen so leicht kategorisieren und mussten sie in ihren Schubladen bis an ihr Lebensende bleiben?

Christopher starrte in sein Bier und ekelte sich von dem bitteren Gesöff.

Isabelles Cousin hatte sich aufgehängt. Seine Gedanken klammerten sich an diesem Satz fest, wie seine Finger das Glas festhielten. An irgendetwas musste er schließlich denken und lieber dachte er an eine Mann, der sich aufgehängt hatte, als daran, wo er sich befand und warum.

Entscheidungen wurden zu schnell getroffen und dann waren sie nicht mehr rückgängig zu machen. Wenn man sich erst einmal aufgehängt hatte, gab es kein Zurück mehr.

Entscheidungen erforderten Mut. Feiglinge warten darauf, dass ihnen die Dinge zustießen, dass sie einem Unfall zum Opfer fallen, dass sie ermordet oder gerettet werden. Christopher fragte sich, wie viele Menschen Visionen darüber hatten, dass und wie sie sterben würden. Visionen, Phantasien. Der Übergang war fließend.

Isabelles Cousin hatte sich aufgehängt. Wer war eigentlich Isabelle? Irgendeine von Rebeccas Bekannten. Rebecca kannte ja Gott und die Welt. Aber wer kennte eigentlich sie? Kannte er Rebecca? Wieso war sie nicht hier? Er fühlte sich unsicher ohne sie, obwohl sie es zumeist war, die ihn verunsicherte.

Aufgehängt. Wer ihn wohl gefunden hatte? Seine Frau, die schwanger ist? Eines seiner Kinder? Oder hatte Isabelle die Geschichte nur erfunden, um sich wichtig zu machen? Oder Rebecca, um ihr Argument zu unterstreichen?

Wie fühlte es sich wohl an, wenn einem das Genick brach? Ob man es noch knacken hörte, bevor man starb? Oder erstickte man, wenn man sich selbst aufhängte? Woher wussten die Leute, wie man so etwas anstellte? Hatten sie es vorher schon mal ausprobiert? Hatten sie mal jemandem assistiert?

Es gab so viele Geheimnisse in der Welt. Der Tod, das Sterben... Christopher trank sein Glas aus, aber auf dessen Grund fand er die Antwort auch nicht. Es war so laut hier und doch verstand er kein Wort. Wie in einem dieser Träume, in denen man versuchte, einen Text zu lesen, aber die Wörter ergaben keinen Sinn. Sobald man eines verstanden hat, veränderte es sich und dann verändert sich der Kontext und dann reden alle durcheinander und dann steht man als einziger da in einer an einem vorbei rauschenden Welle von Information. Sie alle bewegten sich, tauschten sich aus, begeisterten sich gegenseitig. Nur er blieb auf der Strecke, blieb hängen, hatte sich aufgehängt. Wer würde ihn finden, abholen und mitnehmen?

Es ist ein seltsames Gefühl, frei herabzubaumeln, keinen Boden unter den Füßen mehr zu benötigen, sicheren Halt zu haben, auch ohne Kontakt zur Erde. Das Atmen ist der Preis den man für diese Sicherheit bezahlen muss. So ein Seil ist härter, rauer und unerbittlicher als die Hand eines Feindes. Das eigene Werkzeug, das man gegen sich anwendet. Kontrolle über den Kontrollverlust. Gott selbst hat den Teufel erschaffen...

Wenn man erstickt, geht das viel schneller, als die meisten glauben. Da ist eine Enge, die einen erst zerquetscht und dann in Stücke reißt. Der Hals trennt und verbindet Körper und Geist, die Maschine und ihren Zweck. Erst wird alles rot, dann wird alles schwarz. Dann wird alles hell und dann ist alles vorbei.

Als Isabelles Cousin sich erhängte, musste er sich so etwas vorgestellt haben. Christopher starrte auf das neue Bierglas, das vor ihn gestellt worden war. Jemand hatte es ihm ausgegeben. Niemand verlangte Geld von ihm. Niemand redete mit ihm. Er war zwar da, aber er hatte keine Bedeutung, außer dass er Platz verbrauchte – und Sauerstoff. So etwas ähnliches. Wenn man lebt, spürt man den Tod im Nacken. Wenn man den Tod nicht im Nacken spürt, lebt man nicht, sondern vegetiert nur vor sich hin – ziellos, emotionslos, wartend. Wie eine Zecke im Gras.

Wenn man leben will, muss man sich dem Tod aussetzen, man muss ihm nahe kommen, ihn spüren, ihn annehmen. Man starb mit jedem Augenblick des Lebens und die Zeit war der Countdown allen Sterbens. Und Isabelles Cousin hatte einfach vorzeitig abgebrochen, nicht bis zur Null gewartet, sondern bereits bei Fünf, seine Seele hinaus ins All geschleudert.

Komische Vorstellung... ein Weltall, das von körperlosen Seelen bevölkert wird, die lautlos umher schweben wie Motten in der Finsternis, die nicht leben, die nicht die Zeit verbringen, sondern für immer stillstehen in der Ewigkeit.

Ob sie auf uns herabblicken? Die Toten. Die Dahingegangen, die von Krankheiten Zerfressenen, die Ermordeten, die Getöteten, die Gefallenen, die Vergessenen, die Gerichteten, die Geopferten, die Alten, die Schwachen und die Schwäne. Was sagen sie zu unserer Schuld? Unseren Sünden, die wir an ihnen begangen haben? Was sagen sie zu unserem leichtfertigen Vergessen und Verleugnen?

Isabelles Cousin würde sagen: „Wieso habt ihr mich nicht gesehen, bevor ich über dem Küchenboden baumelte? Habe ich davor nicht existiert? Wieso redet ihr erst über mich, wenn ich tot bin? Wieso redet ihr nicht über meine Frau und meine Kinder? Wieso sind euch die Toten wichtiger als die Lebenden? Könnt ihr Leid erst ertragen, wenn es vollendet ist? Nicht mehr gefährlich? Betrügt ihr euch nicht selbst, wenn ihr sagt, Selbstmord sei eine undenkbare, ungeheuerliche, untragbare Versündigung gegen Gott den Allmächtigen? Nennt mir einen, nur einen Grund, warum man es nicht tun sollte! Einen triftigen Grund, nachdem dieses Leben lebenswert, nützlich, sinnvoll, erfüllend und erfreulich ist! Es gibt nur einen: Gott zu zeigen, dass er keine Macht über einen hat. Sich der Macht der anderen entziehen, das ist der Sinn des Lebens und die Begründung meines Todes. Wer sonst hat derartiges vorzuweisen?"

Christopher schauderte. Sprach hier der Alkohol mit ihm oder der Geist eines Toten aus einer anderen Daseinssphäre? Inzwischen hing er mit dem Kopf auf dem bierfeuchten Holztisch und bemühte sich gar nicht mehr die Augen offen zu halten. Die Müdigkeit und Überanstrengung hatten ihn übermannt wie zuvor der Zweifel. Hatte er das alles geträumt? Hatte er geschlafen? Vom Geschehen um ihn her hatte er zumindest nicht mehr viel mitbekommen in der letzten halben Stunde. Brian stand vor ihm wie ein rothaariger, verschwommener Fleck in dem missratenen Kunstwerk, das seine Wahrnehmung darstellte.

„Ich bring dich nach Hause, Kumpel. Du bist ja gar nichts mehr gewohnt!"

Christopher ließ sich darauf ein und sich von ein paar Kerlen aufwuchten, bis er schwankend, aber doch aufrecht stand. Brian stützte ihn, als sie nach draußen stolperten und ihnen dort der eiskalte Wind entgegen peitschte.

„Mein Leben ist keine Metapher", sagte Christopher plötzlich, „Ich will nicht als Gedicht enden oder als innere Stimme von jemandem. Was meinst du: Wenn man stirbt, bekommt die Seele dann einen neuen Job? Als Gewissen von jemandem oder als Zweifel? Als Lüge oder als Schuldgefühl? Als Mahnung oder etwas, das dich langsam in den Wahnsinn treibt? Glaubst du Seelen werden zu Engeln oder zu Dämonen? Glaubst du, die können mit uns in Kontakt treten? Ich glaube, ich will das nicht. Ich will einfach irgendwann sterben und dann meine Ruhe. Nichts mehr mit niemandem zu tun haben. Kein Spuk, keine Beschwörungen, keine Visionen. Ich will niemanden belästigen und niemanden belasten."

„Was immer du meinst, Chris", sagte Brian freundlich.

„Du sagst, ich bin ein Dichter. Was wenn es sowas gar nicht gibt. Was wenn Dichter nur Medien sind, die verirrte Ideen einfangen und auf Papier bannen? Was wenn Worte und Ideen unabhängig von unserem Geist existieren und immer existiert haben? Dann müssten wir nichts mehr erfinden, sondern nur noch suchen, um zu finden. Und wir könnten für nichts bestraft werden, weil wir nichts aus eigenem Antrieb tun. Wir sind nur Werkzeuge, Zahnräder in einem Getriebe. Wir wissen nur nicht, ob wir in die richtige Richtung laufen, ob wir festklemmen oder zu locker sind. Was passiert, wenn wir ausfallen? Wie viel können wir lahmlegen, wenn wir einfach aufhören zu funktionieren? Sind wir Erfüllungsgehilfen oder Saboteure des großen Plans, den niemand kennt? Man kann nicht verurteilt werden, wenn man nicht weiß, was man tut oder was man bewirkt!"

„So ist es", sagte Brian.

„Ich glaube, es ist falsch, Lebewesen zu töten", erwiderte Christopher schließlich.

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