Kapitel 1
„Das kann ich so nicht schreiben", sagte Christopher, „dafür können sie mich drankriegen. Wegen Aufwiegelei oder was auch immer."
Er war hin und her gerissen zwischen dem Stolz, einen möglicherweise gefährlichen Text verfasst zu haben, und der Scham eines Künstlers, der sich seines Werkes noch nicht so ganz sicher ist. Aber es war zu spät, Rebecca linste schon seit einiger Zeit über seine Schulter und hatte jedes Wort auf dem Stück Papier gelesen, das er soeben beschriftet hatte.
„Es ist nur ein Entwurf", beschwichtigte er schnell den Protest, der von Rebeccas Seite überhaupt nicht kam. „Es klingt ein bisschen umständlich, findest du nicht?", ermutigte er sie, „Nicht wie aus einem Guss."
„Du brauchst eben noch ein bisschen Übung", sagte Rebecca, damit er endlich Ruhe gab. Christophers ewige Selbstzweifel würden sie noch irgendwann in den Wahnsinn treiben. Wieso konnte er nicht wie jeder andere Mann auch glauben, der größte und stärkste Kerl im Umkreis zu sein, sodass sie ihn nicht ständig aufbauen musste, sondern zurechtstutzen konnte – was ihr, um ehrlich zu sein, mehr Spaß bereitet hätte.
„Wieso schläfst du nicht eine Nacht drüber?", schlug sie vor. „Das hier ist ja kein Gedicht, für das der Dichter sich quälen muss, damit es authentisch wird."
Christopher schnaubte einen sarkastischen Lacher heraus, legte den Bleistift bei Seite, erhob sich von seinem Stuhl, drehte sich zu Rebecca um und küsste sie fahrig auf den Mund. Diese Routine war eine der wenigen Dinge, die sie gutmütig über sich ergehen ließ, obwohl sie es recht albern fand. Ein Gute-Nacht-Kuss... Waren sie etwa ein altes Ehepaar?
Erst später, als sie allein bei einer letzten Tasse Tee an ihrem Esstisch saß, kam Rebecca der Gedanke, dass Christophers Kuss weniger mit Zuneigung als mit Nachsicht zu tun gehabt haben mochte. Natürlich auch mit Zuneigung, aber am heutigen Abend schien er eher sagen zu wollen: „Du weißt wie immer nicht, was du gesagt hast, aber ich verzeihe dir trotzdem!"
So war es immer. Rebecca verstand die Tragweite und Bedeutung ihrer eigenen Worte immer erst, wenn es viel zu spät war. Ein Wunder, dass Christopher sich Tag für Tag immer wieder dafür entschied, bei ihr zu bleiben.
Jetzt lachte sie über sich selbst: Er solle sich nicht quälen wie ein Dichter, der authentisch sein will...
Soll er etwa nicht authentisch sein wollen? Quälte er sich nicht sowieso jeden Tag – egal ob er dichtete oder nicht? Erst heute Nachmittag hatte er sich gequält, als er zur Beerdigung seiner Schwester gegangen war. Und hatte nicht sie sich auch gequält in all den Jahren?
Es war ein Witz, dachte Rebecca, was die Leute glaubten, das der Tod sei. Kerngesunde Leute ließen sich in Sanatorien einweisen, weil es gerade der Mode entsprach, ein bisschen morbide zu sein. Todkranke Leute hingegen schufteten bis zur Erschöpfung, ohne jemals einen Arzt zu Gesicht zu bekommen, weil sie sich seine Dienstleistungen einfach nicht leisten konnten.
In den Kirchen predigten sie den Wert eines jeden Lebens und dann brachten zu Tode geschwächte Mädchen Babys auf die Welt, die dann als Waisen heran wuchsen, um später für Königin und Empire in irgendeinem sinnlosen Krieg und in irgendwelchen nutzlosen Kolonien draufzugehen, zu verhungern, an Seuchen zu verrecken oder – wenn sie Glück hatten – noch mehr dem Tode und dem Elend geweihte Kinder in die Welt zu setzen. Das nannte man Leben.
So richtig wagte es jedoch niemand, über diesen Witz zu lachen. Ihn zu erkennen, kam ja bereits einer Blasphemie gleich. So lange sie Gott auf ihrer Seite haben, dachte Rebecca, wird sich nichts ändern. Sie hob ihre Teetasse an, prostete einem imaginären Teufel zu und murmelte: „Auf dein Wohl, alter Junge!"
Elizabeth war ein nettes Mädchen gewesen. Genauer gesagt, war sie der Grund gewesen, warum Rebecca und Christopher sich kennen gelernt hatten und eines dieser zu Tode geschwächten Mädchen, die Rebeccas Dienstleistungen in Anspruch nahmen. Rebecca hatte allerdings sofort gemerkt, dass Elizabeth weit schlimmere Probleme hatte, als das, weswegen sie sie aufgesucht hatte.
„Bist du sicher, dass du das Geld wirklich ausgeben willst?", hatte Rebecca gefragt, „Wenn ich mir das recht betrachte, wird die Natur auf ihre eigene Art und Weise das Problem ganz ohne mein Zutun lösen."
Aber Christopher hatte darauf bestanden. Er sagte: „Wenn du ihr hilfst, wird sie sich vielleicht erholen."
Und Rebecca hatte gesagt: „Mein Lieber, es ist die Tuberkulose, die ihr zusetzt, nicht die Schwangerschaft. Sie wird sich nicht erholen und den Geburtstermin so oder so nicht mehr erleben."
Es war das erste Mal gewesen, dass sie ihn vor den Kopf gestoßen und es später bereut hatte und – was noch schlimmer war – sie hatte Unrecht gehabt: Elizabeth erwies sich als zäher als erwartet und lebte noch ganze zwei Jahre, ehe es tatsächlich die Tuberkulose war, die sie unter die Erde brachte.
Bei ihrer Beerdigung anwesend waren nur ein Priester und ihre beiden Brüder Christopher und Jonathan und für alle beteiligten war es eine Qual gewesen. Niemand hatte etwas zu sagen gehabt. Am wenigsten die Brüder einander. Christopher lehnte den Priester ab, Jonathan lehnte Christopher ab und der Priester hatte es abgelehnt, einer Kindsmörderin seinen Segen mitzugeben, weshalb Jonathan ihn zuvor bestechen musste.
Es war kompliziert. Zuvor hatte es unschöne Szenen in Rebeccas Hausflur gegeben. Jonathan wies darauf hin, dass Elizabeths letzter Wunsch gewesen sei, von einem Priester beerdigt zu werden und Christopher diesen Wunsch respektieren und deshalb seinen Teil dazu zahlen musste. Christopher hingegen erklärte, dass er gar nicht daran dachte, sein Geld für so etwas aus dem Fenster zu werfen, woraufhin Jonathan einwarf, dass es überhaupt kein Problem gegeben hätte, wenn er – Christopher – Elizabeth damals nicht eingeredet hätte, ihr Kind abzutreiben. Jeder im Viertel wisse davon und es folgte die übliche Streiterei, Rebeccas Person betreffend.
In solchen Sachen, dachte Rebecca, bleibt er standhaft. Er ist ein verfluchter Dickkopf ohne einen Funken Selbstvertrauen. Eine Kuriosität, wenn man darüber nachdachte.
„Mach's gut, Elizabeth", murmelte Rebecca, „Wo auch immer du bist: Es ist sicher besser als der Himmel, den die Prediger dir versprochen haben."
Eine Kuriosität, ja. Ein Dichter war euch eine Kuriosität und Christopher hatte tatsächlich viel von einem solchen, auch wenn er nicht ernsthaft dichtete. Er besaß eine gewisse Schwermut, sodass man auf ihn aufpassen musste. Er kannte Begeisterung und Enttäuschung, schien immer zwischen den Extremen zu pendeln und war von sich selbst eingeschüchtert.
Die manische Depression ist irisches Kulturgut. Rebecca kannte keinen Iren, der nicht wenigstens ein bisschen verrückt war und der nicht die Schönheit eines guten Gedichts oder einer pathetischen Ballade zu schätzen wusste. Es lag ihnen im Blut. In ihrer Kultur hatte der Dichter ein höheres Ansehen als der Wissenschaftler oder der Politiker. Der Dichter und der Balladensänger konnten effektiver heilen und verständlicher zu den Menschen sprechen. Sie wurden emotionaler geliebt und freimütig unterstützt als jeder König, jeder Landbesitzer und jeder Priester. Wären die Iren ein freies Volk, so würden sie sich von ihren Sängern regieren lassen, da war Rebecca sich sicher.
Und deshalb war es dumm gewesen, was sie zu Christopher gesagt hatte. Natürlich war ein Text, der nicht als Gedicht oder Ballade durchging, völlig nutzlos. Er konnte nicht authentisch sein, wenn er nicht Emotionen hervorrief und er rief keine Emotionen hervor, wenn er nicht aus ihnen heraus entstanden war.
Es war Rebeccas Art, auf diese Weise die Tage ausklingen zu lassen. Wenn Christopher schon zu Bett gegangen war, setzte sie sich noch eine Tasse Tee auf und dachte in Ruhe darüber nach, was der Tag gebracht hatte. Meistens war sie so müde, dass ihre Gedanken unkontinuierlich hin und her sprangen, aber es half ihr dennoch bei der Einordnung und der Erkenntnis von Fehlern, die sie zukünftig vermeiden wollte.
Manche Menschen führen Tagebuch. Rebecca McCarthy führte einen imaginären Aktenschrank, in den sie Begebenheiten einsortierte und den sie bei Bedarf nach Erfahrungen durchstöbern konnte. Sie hielt das für eine wissenschaftliche Vorgehensweise und ein gutes Training für ihr Gedächtnis.
Sie brauchte weniger Schlaf als Christopher. Anständige Leute brauchten mehr Schlaf als die anderen, das hatte Rebecca schon vor langer Zeit festgestellt. Wer schläft, sündigt nicht und wer sündigt, der schläft nicht. Schlaflosigkeit ist die Strafe Gottes für bewusste Übertretungen seiner Gesetze. Das schlechte Gewissen nagt an einem wie die Heimsuchungen durch Alpträumen und andere Dämonen. Oder aber es war der starke Tee, der Rebecca nachts wach hielt.
Trotzdem schlurfte sie die Treppe hinauf, in das kleine, Schlafzimmer, wo das schmale, muffelige Bett aufgeschlagen stand und auf dem Christopher auch im Schlaf noch vergeblich versuchte, nicht zu viel Platz einzunehmen. Er war so rücksichtsvoll...
Rebecca mochte es, in einem Bett zu liegen und wie ein Schmarotzer von der Wärme eines anderen Lebewesens zu zehren. Sie selbst fröstelte sehr leicht. Ihre Kleider streifte sie fast lautlos und mit kunstvoller Geschmeidigkeit ab. Wenn nur Christopher sie jetzt sehen könnte, aber sogar für diese Dinge war er zu anständig. Lieber schlief er, lieber grübelte und zweifelte er. Zumal seine Schwester... Sie sollte rücksichtsvoller mit ihren Phantasien sein, fand Rebecca. Wer anfing, Menschen in Phantasien auszubeuten, dem kamen irgendwann die Skrupel abhanden, es nicht auch in Wirklichkeit zu tun.
Also ließ sie sich so leicht und behutsam, wie es ihr nur möglich war, auf dem Bett nieder und kroch unter die gemeinsame Bettdecke. Christopher und sie schliefen Fuß an Kopf, um Platz zu sparen. Leider ging so ein erheblicher Teil aller möglichen Intimitäten verloren.
Christopher registrierte, dass sie eingestiegen war und rückte noch ein Stück zur Seite. Rebecca seufzte unhörbar und beide stellten sich schlafend.
Man sollte nicht zu viel darüber nachdenken und nicht zu viel in die Dinge hineininterpretieren. Dann aber wiederum sollte man nicht zu sorglos sein, denn wenn man alles als selbstverständlich begriff, kamen einem die wichtigen Dinge irgendwann abhanden. Wie machten andere Paare das? Zerdachten sie ihre Beziehung ebenso oder waren sie gerade deshalb so glücklich, weil sie es nicht taten? Andere Frauen hatten andere Männer, schloss Rebecca, und andere Männer rückten im Bett nicht zur Seite, sondern ließen ihre Frauen auf der Küchenbank schlafen. Und andere Frauen besaßen den Verstand von Schafen und damit nichts, was ihren Männern gefährlich werden konnte.
War es richtig, von Frauen wie von Schafen zu denken, fragte sich Rebecca manchmal. Was der Kirche recht war, war ihr noch lange nicht billig. Dann aber hatte sie ihren mentalen Erfahrungsaktenschrank und musst sich selbst eingestehen, dass die meisten Frauen, die zu ihr kamen, zum Opfer ihrer eigenen Unwissenheit und Unsicherheit geworden waren und dass es offensichtlich gewollt war, dass diese Frauen unwissend und unsicher waren, damit man sie anklagen und verdammen konnte, damit es Opfer gab, an denen man ein Exempel statuieren, die man an den Pranger stellen konnte und deren Schicksal andere abschrecken und in Schach halten sollte. Frauen werden von Frauen klein gehalten, von Müttern, Großmüttern und Tanten. Es sind nicht die Männer, dachte Rebecca, die Frauen richten sich selbst zugrunde. Gib einer Frau gerade so viel Macht, dass sie andere Frauen – ihre Töchter – unterdrücken kann und dein System funktioniert. Frauen werden sagen: „Seht her, wenn wir uns anständig betragen und unseren Platz in der Gesellschaft ausfüllen, so werden wir respektiert! Ausgeschlossen sind nur jene, die sich nicht anzupassen wissen. Sie sind verdorben und schlecht!" Männer werden sagen: „Wir lieben und respektieren Frauen, aber sie müssen anständig sein! Unser Interesse ist eine funktionierende gesellschaftliche Ordnung und dafür müssen sich alle an gewisse Regeln halten!"
Nur, dass ein Regelverstoß für einen Mann für gewöhnlich folgenlos blieb, für eine Frau jedoch oft genug mit einem Besuch bei Rebecca oder einem Leben in Schande endete.
Nehmen wir Elizabeth, dachte Rebecca. Sie erlaubte sich, an sie zu denken, weil sie hörte, wie Christopher wieder schwerer atmete. Wenn er schlief, würde er ihre Gedanken nicht lesen oder erahnen, was sie alles Gemeines über seine Schwester wusste – oder zu wissen glaubte. Weil sie wusste, wie sensibel er bezüglich ihr war, mied Rebecca das Thema Elizabeth, seit sie in die Geschichte involviert worden war. Es war kompliziert und hatte inzwischen eine persönliche Ebene hinzugewonnen, die über das Professionelle hinausging. Aber Fakt war eben auch, dass Männer einfach überhaupt nichts von dem verstanden, was in Frauen vorging und Rebecca hatte nach zwei Minuten zusammen mit Elizabeth mehr von der jungen Frau kennen gelernt, als Christopher je fähig gewesen wäre, in Erfahrung zu bringen. – Geschweige denn Jonathan.
Nehmen wir also Elizabeth. Sie war das jüngste der drei Geschwister und erinnerte sich an Connemara nur mit dem verklärten Blick zurück auf eine vermeintlich sorglose Kindheit. Welche Härten das karge Land und das raue Klima für die Menschen, die hier siedelten, bereit hielt, hatte sie am eigenen Leib nie erfahren, da ihre Eltern und Brüder Elizabeth davor schützten.
Für sie bestand Galway nur aus Wiesen, Blumen, den Klippen und dem Salz in der Luft. Die Unfruchtbarkeit des Bodens, die Abhängigkeit von wenigen, krankheitsanfälligen Feldfrüchten, die Armut, der allgegenwärtige Mangel, die Krankheiten, der Hunger und die schwere Arbeit berührten Elizabeth nicht. Sie stromerte durch die Wildnis wie ein junger Fuchs, lebte ein Leben nach dem christlichen Prinzip, dass Sähen und Ernten gleichermaßen unnötig sind, weil der himmlische Vater einen am Ende doch ernährte, wenn er wollte.
Schon als Kind hatte Christopher seine Schwester um deren Sorglosigkeit beneidet. Er besaß gleichermaßen einen Sinn für Magie und falsche Hoffnungen – die Tragik seines Lebens. Er verstand die Faszination, wusste aber, wieso sie einen ins Verderben führen musste und so führte er ein Leben in Furcht, während Elizabeth ihres im Vertrauen auf Gott führte.
Jonathan hielt die beiden für Traumtänzer, wenngleich er Christopher für seinen Pessimismus mehr schalt, als Elizabeth für ihre naive Frömmigkeit. Sie stand einem Mädchen immerhin gut an. Christopher aber war ein Verlorener, einer, der sich entfernt hatte von Gott und den Traditionen seines Volkes gleichermaßen.
Und die Tradition wollte es beispielsweise, dass die älteren Kinder sich um ihre jüngeren Geschwister kümmerten. Das hätte Jonathan in eine machtvolle Position gegenüber Christopher und Elizabeth versetzt, aber zumindest der widerspenstige Bruder erkannte diese natürliche Hierarchie nicht an.
Hier begann das Zerwürfnis der beiden Brüder. Hier in den satten, grünen Hügeln, der rauen, sturmgepeitschten Küstenlandschaft Galways, wo der Wind nicht nach Ölschmiere und Fäkalien stank, sondern nach der Würze der See. Es war kein Ort, an dem man leichtfertig Streitereien anfing. Wer hier leben wollte, musste sich Freunde machen, durfte keinen schlechten Ruf erlangen, denn hier war jeder auf jeden angewiesen. Man musste sich aufeinander einlassen und lernen zuzuhören, statt immer nur reden zu wollen.
„Sie versuchen einen Keil zwischen uns zu treiben", hatte Christopher mal einen sagen hören, „Sie wollen uns ihre Philosophie des Konkurrenzkampfs einimpfen. Sie wollen, dass wir uns um das wenige, was sie uns lassen, prügeln. Das dürfen wir nicht zulassen!"
Und doch war der Keil zwischen Jonathan und ihm bereits platziert. Der Zankapfel hieß Elizabeth, verlieren sollten sie ihn am Ende beide.
Die Eltern, landlose Bauern, die den größten Teil ihrer Ernte für die Pacht aufbringen mussten, klagten nicht. Ihre Sorgen behielten sie in ihren Herzen, als sei es eine Sünde, sie zu äußern. Gier womöglich, oder Völlerei.
Christophers Erinnerungen an Irland glichen Fetzen – und so konnte Rebecca nur ein unvollständiges Bild des ehemaligen Lebens der Familie Jones in ihrer alten Heimat zusammensetzen. Wenn es Freundschaften, Feindschaften oder Liebschaften gegeben hatte, so hatte keiner der drei Geschwister davon jemals gesprochen. Alles, was sie zu Irland zu sagen hatten, war durchzogen von einer seltsamen Sehnsucht, die sich alsbald in Ekel wandelte, wenn die Erinnerungen zu konkret wurden.
„Die Frauen wuschen ihre Leintücher am Fluss", sagte Elizabeth, „Und sie sangen dabei, schwatzten und lachten. In Irland lachen die Menschen mehr als in England, obwohl es ihnen dort viel schlechter geht."
„Das ist, weil sie hier den direkten Vergleich zu den Reichen haben", erklärte Christopher, aber das war ihr in ihrem geschwächten Zustand zu kompliziert. Sie beließ es bei: „Es ist ein gottloses Land, in dem die Menschen von Neid zerfressen sind!"
Es musste Christopher das Herz zerreißen, seine einst so wilde und fröhliche Schwester dahinsiechen zu sehen. „Man hat ihre Gutmütigkeit ausgenutzt!", sagte er, „Sie ist ein Opfer der englischen Anstandslosigkeit!"
„Sie ist ein Opfer ihrer eigenen Anstandslosigkeit", hatte Jonathan sich eingemischt. Es gefiel ihm, Öl ins Feuer zu gießen, wenn er damit jemanden zur Weißglut bringen konnte, der ohnehin schon machtlos war. Jonathan war in gewisser Weise englischer als die meisten Engländer und das machte wiederum Christopher ihm zum Vorwurf.
Elizabeth, die in jeder Hinsicht ein dem Diesseits abgewandtes Wesen besaß, litt unter den ständigen Kämpfen ihrer Brüder, weshalb sie es vorzog, sich nicht einzumischen und zu hoffen, alles möge auf magische Weise gut werden. Aber das Leben war nun mal kein Märchen, nicht in Irland und noch weniger in England. In ihrer Erinnerung trauerte sie den Farben ihrer Heimat nach, verklärte sie zu einem mythischen Feenreich, in dem sie ihre Kindheit zurücklassen musste. Seither hatte sie nichts mehr gehasst als Straßen.
„Sie bringen einen fort, sie reißen einen mit sich, sie lassen es nicht zu, dass man sich frei im Raum bewegt. Es gibt immer nur eine Richtung. Und der Wagen rumpelt unaufhörlich gen Westen. Und die Räder drehen sich, reißen Furchen in den feuchten Boden, wollen stecken bleiben, werden gezwungen, sich weiter zu bewegen. Immer geradeaus, durch den Nebel, in unbekannte Gegenden, in denen die Menschen fremde Sprachen sprechen und fremde Götter anbeten." Wenn Elizabeth etwas sagte, klang es immer wie ein Lied oder ein Gebet. Sie wählte ihre Worte intuitiv, aber nicht beliebig.
Sie wurde herausgerissen, während die anderen – ihre Eltern und Brüder – freiwillig gingen, den Wagen anschoben, den Esel antrieben. Elizabeth aber gehörte nach Galway wie die halbwilden Ponys in den torfigen Sümpfen von Connemara. Sie konnte nirgendwo anders überleben. Sie verstand die Menschen außerhalb ihrer Heimat nicht und die Menschen in England verstanden sie nicht, was diese jedoch nicht davon abhielt, sie und ihre Gutgläubigkeit auszunutzen.
Und ich beschuldige Jonathan, dachte Rebecca, als das Chaos ihrer Gedanken die ganze Geschichte unübersichtlich werden ließ. Jonathan sagte zu ihr, sie solle erwachsen werden und endlich aufhören, einem Land und einem Leben hinterher zu trauern, das so unfreundlich zu so vielen Menschen gewesen war, das so viele Leben gefordert hatte, das ihre Eltern vorzeitig hatte altern lassen, das sich kaum Nahrung abringen ließ und das vor allem aus Dunkelheit, Sturm, Regen und Kälte bestand. Sie sollte realistisch sein. Sie sollte endlich aufwachen und sich anpassen, denn sonst werde sie niemals Anschluss finden.
Und als sie dann Anschluss fand, endete das alles ebenso tragisch wie ihre Kindheit: Mit dem Herausreißen eines Lebewesens aus seiner natürlichen Umgebung.
Für reiche Leute war es vielleicht chic, etwas kränklich zu sein, aber für die Armen bedeutete eine körperliche oder geistige Schwäche, dass sie unweigerlich auf der Strecke bleiben würden. Auf die eine oder andere Weise würden sie vor die Hunde gehen und das war dann keine romantische, vornehme Angelegenheit, sondern eine Katastrophe, die eine ganze Familie in den Ruin treiben konnte.
Rebecca kannte die Geschichten: „Es war nur einmal und wir haben eigentlich gut aufgepasst."
„Ich habe unbedingt schnell Geld gebraucht."
„Ich dachte, er wollte mich heiraten."
„Ich dachte, er hätte achtgegeben."
„Dabei haben wir doch..." und man glaubte gar nicht, auf welche aberwitzigen Verhütungsmethoden diese Mädchen vertrauten.
Die Wahrheit war jedoch – und jede Frau in Rebeccas Metier wusste das – dass keine dieser Geschichten wirklich wahr war. Was mit den Mädchen wirklich geschah, war in den meisten Fällen so abscheulich, dass sie es selbst verdrängten und lieber an eine erfundene Geschichte glaubten, die sie sich selbst zurechtlegten. Es ist ihnen lieber, sich selbst die Schuld für etwas zu geben, für das sie nichts können, als zuzugeben, dass sie völlig machtlos sind, dachte Rebecca.
Die einzigen Frauen, die ehrlich waren, waren diejenigen, von deren Würde nicht mehr viel übrig war, die dafür aber umso ungenierter leben konnten. Unter den Huren von Manchester hatte Rebecca die besten Freundinnen und Kundinnen.
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