𝔎apitel 9

𝔑achdem Lady Ducane mitten in der Nacht auf ihrem Anwesen eingetroffen war und auf den verdutzten Blick ihrer Haushälterin nur mit den erschöpften Worten geantwortet hatte, dass man sie bitte erst gegen Mittag wecken solle, hatte sie es gerade noch geschafft, sich aus dem aufwendig gearbeiteten Kleid zu schälen, ein Nachthemd überzuwerfen und ins Bett zu fallen. Doch als sei es mit der Aufregung für diese Nacht nicht genug gewesen – sie fand keinen Schlaf. Ruhelos lag sie in der unendlichen Weiche ihres Bettes, rastlos wälzte Ophelija ihre Gedanken. Die angenehme Kühle ihrer Seidenwäsche vermochte es nicht, ihr erhitztes Gemüt zu beruhigen. 

       Erst nach weiteren drei Stunden, so zeigte es die große Standuhr, die in ihrem Gemacht stand, gelang es ihr, ihre Gedanken einigermaßen beiseite zu schieben. Ihre Augenlider wurden schwer, ihre Gedanken träge und letztendlich glitt sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

       Als sie nach wenigen Stunden bereits wieder durch das gedämpfte Sonnenlicht geweckt wurde, kam es ihr so vor, als hätte sie nicht eine Sekunde Erholung und Ruhe gefunden. Ihr Körper fühlte sich seltsam schwer an, ihr Geist stumpf. So etwas hatte sie noch nie erlebt – weder, dass ihr Zustand so ausfiel, noch, dass sie einen Vampir verschont hätte. Immer wieder spielte sich die Szenerie zwischen ihr und Castiel vom gestrigen Abend vor ihrem geistigen Auge ab. Es hatte grundsätzlich und schlichtergreifend keine Logik, dass sie Castiel nicht bekämpft hatte...

       Und doch – ihr erschien es immer noch so, als habe sie richtig gehandelt. Tief in ihrem Inneren begriff die Huntswoman, dass sie nie in der Lage wäre, es nicht über ihr sonst so starkes Herz bringen würde, Castiel etwas zu tun – mochte er auch in manchen Moment zu einer Bestie werden. Was konnte er schon für seine wahre Natur? Sie wusste nicht mal, ob er sich der Verwandlung zu einem Wesen der Nacht freiwillig unterzogen hatte oder ob es die Umstände gewesen waren, die ihn praktisch in diese Entscheidung gedrängt hatten.

       Sie entschloss sich dazu, ihm diese Fragen zu stellen, wenn sie sich das nächste Mal – schon am morgigen Tag – wiedersehen würden. Erst, wenn sie seine Antworten gehört hatte, auch wenn es viel verlangt war, es ihr so offenherzig zu erzählen, konnte sie ungefähr sagen, woran sie bei Castiel war. Sie konnte ihn nur schwerlich einschätzen.

        Übersinnige Freuden schien ihm sein Leben als Vampir jedoch nicht zu bereiten. Das konnte sie ihm auch kaum verdenken, wenn sie daran dachte, wie einsam so ein Dasein war beziehungsweise unweigerlich werden musste.

       Wie viele seiner Freunde hat er bereits zu Grabe tragen müssen?

       Außerdem wusste Ophelija, dass er kaum seine menschlichen Gewohnheiten ablegen konnte. Im Laufe des gestrigen Abends hatte er die ganze Zeit über normal geatmet – und das war nur ein Beispiel für zahlreiche Handlungen, die er als Vampir nicht hätte durchführen müssen. Genau aus diesem Grund wusste Ophelija auch, dass er sich am heutigen Tage nicht auf die Flucht begeben würde, denn dazu hing er zu sehr an seinem gewohnten Umfeld.

       Ihr Blick aus jadegrünen Augen glitt plump aus dem Fenster, hinter dessen gewölbten Glas sich ein recht fröhlicher, sonniger Tag abzeichnete – zumindest für Londoner Verhältnisse. Ein leises Seufzen glitt über ihre Lippen, während sie sich in ihrem Bett aufsetzte. Für ein paar Minuten saugte sie einfach den Anblick der einzelnen Sonnenstrahlen in sich auf. Diese vermochten sich durch das Wolkenmeer zu kämpfen und hinterließen dabei helle, goldene Tupfen auf der weitläufigen Wiese vor dem Anwesen.

        Nachdem ihre Gedanken aber selbst dadurch nicht aufhörten, sich unablässig in ihrem Kopf zu drehen und sie ganz wirr zu machen, ließ sich Ophelija spontan ein Bad ein. Das hätte auch ohne Weiteres einer ihrer Angestellten übernehmen können, doch die Jägerin hatte schon immer die Vorstellung genossen, so autark wie möglich zu sein. Sie bürdete ihren Bediensteten schon genug mit der Tatsache auf, dass sie diese ab und an durch ihre gefährlichen Machenschaften in Bedrängnis brachte. Außerdem sorgte das stete Rauschen des Wassers und der Lavendelduft ihres Badezusatzes dafür, dass sie sich wenigstens ein wenig entspannen konnte. Durch das heiße Nass konnten sich ihre angespannten Muskeln entkrampfen und auch ihr Geist klärte sich zunehmend, frischte auf und erlaubte es Ophelija, sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die am heutigen Tag vor ihr lag.

       Sie verbrachte jedoch vorerst eine gute Stunde in dem Badezuber, sodass das Wasser schon stark erkaltet war, als sie sich daraus erhob. Sie kleidete sich in ein legeres, alltagstaugliches Kleid und war dankbar dafür, dass in dieses keinerlei Korsage eingearbeitet war. Trotz des heißen Bades verspürte sie noch immer den Nachhall der Anstrengungen, die sie der Abend in Gegenwart von Lord Worthington gekostet hatte. Dabei musste sie doch noch nicht einmal einen Kampf mit ihm ausfechten ...

       In der Hoffnung, ein ausgiebiges Frühstück, bestehend aus frischem Obst und Gebäck, sowie zwei heiß aufgebrühten Tassen Kaffee, könne ihr neuen Elan und genügend Energie schenken, ließ Ophelija sich damit reichlich Zeit. Sie unternahm diese nächtlichen, bedrohlichen Ausflüge und Konfrontationen nun schon lange genug, um ihren Körper in- und auswendig zu kennen. So wusste die Huntswoman auch, wann sie an ihre Grenzen stieß und eine Auszeit brauchte. Die Anspannung der letzten Stunden in Kombination mit dem Schlafmangel taten wohl ihr Übriges, um sie zu ermatten. Doch das Bad, das schwarze Gold und das ausgewogene Essen schafften es, dass Lady Ducane sich in der Lage sah, ihr Vorhaben für heute in die Tat umzusetzen.

       Neuen Mutes begab sie sich nun in die große Bibliothek im Erdgeschoss, in welcher neben zahlreichen Büchern auch Unmengen an Aufzeichnungen ihrer Ahnen und Verbündeter lagerten. Sie hoffte inständig – sowohl für Castiels als auch ihr Wohl – dass sie hier fündig werden würde. Zwar hatte sie sich schon vor dem Durchforsten der ganzen vergilbten und teils eingestaubten Papiere darüber Gedanken gemacht, wie man Castiels missliche Lage lösen konnte und im Zuge dessen war ihr auch schon ein Ansatz in den Sinn gekommen, während sie noch einmal den Abend Schritt für Schritt durchgegangen war. Es war aber lediglich eine Mutmaßung und nun galt es, Beweise dafür zu finden.

       Zu Ophelijas großem Bedauern fand sich nichts – aber rein gar nichts – in den gesamten Aufzeichnungen. Sie lernte während ihrer Recherchen viel Neues über die Körpersprache und Physiologie der Blutsauger; Dinge, die ihr Vater vor seinem Ableben nicht mehr an sie hatte herantragen können und die sie sich in den letzten Monaten eigenständig anzueignen begonnen hatte. Außerdem stieß sie ab und an auf abstruse, längst veraltete Methoden, einem Vampir den Garaus zu machen. Doch dem Anliegen, zu dem sie sich eigentlich auf die Suche begab, ließ sich nichts auftreiben. Dies erfüllte sie zunehmend mit einer sonderbaren Traurigkeit. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass ihre Vermutung sich irgendwie fundieren ließe; dass Sir Castiel bei seiner Suche erfolgreicher war.

       Als die Sonne sich schon vor einigen Stunden hinter dem Horizont zur Ruhe gebettet hatte und Ophelijas Augen vom angestrengten Lesen im flackernden Kerzenschein bereits brannten und ihre Lider immer schwerer wurden, beschloss sie, die Angelegenheit für erledigt zu betrachten. Mit vom langen Sitzen steif gewordenen Gliedern, erhob sie sich von ihrem Leseplatz, räumte die raschelnden Schriftrollen an ihre angestammten Plätze in die hohen, eichenen Regale zurück und begab sich nach einer erneuten kleinen Mahlzeit zur Ruh'. Bei dem zweiten Treffen mir Castiel bräuchte sie jegliche Konzentration, die sie kriegen konnte, damit es nicht wieder so brenzlich werden würde.

       Ihr Schlaf war zwar von ausreichender Dauer, aber nicht wirklich erholsam. Ophelija starrte noch ein paar Herzschläge lang an die Decke über ihr und versuchte sich in der bewussten Übung ihres Atems, wie ihr Vater es ihr gelehrt hatte. Als sie sich nicht mehr ganz so zittrig und unfokussiert fühlte, raffte sie sich schließlich auf und rief eine der Bediensteten in ihr Gemach. Diese half ihr in den folgenden Minuten dabei, sich in das Gewand zu kleiden, dass die Jägerin am Abend zuvor ausgewählt hatte. Es bestand aus einem fließenden, petrolfarbenen Stoff, der zwar recht untypisch für die aktuelle Mode war, gleichzeitig jedoch genügend Bewegungsfreiheit gewährte und ihren hellen Teint sowie ihre rostbraunen Locken perfekt untermalte.

       Um ihre Frisur kümmerte sie sich selbst. Sie steckte ihre Haare mithilfe einer Klammer und wenigen geschickten Handgriffen an ihrem Hinterkopf zusammen. Einige wenige Locken ringelten sich jedoch widerspenstig wie eh und je um ihr Gesicht und rahmten es ein. Nachdem sie sich noch einen Hauch Rouge auf die Wangen und einen sanften Roséton auf die Lippen getupft hatte, betrachtete sie sich noch einmal nachdenklich in der ovalen Spiegelfläche ihres Schminktischchens. Ein, zwei Spritzer Rosenwasser aus dem Flacon und Schuhe mit leichtem Absatz rundeten das Ergebnis ab. Sie hoffte, dass das Parfüm den Duft ihres Blutes wenigstens ein bisschen zu überlagern vermochte.

       Während sie die breite, dunkle Treppe ihres Anwesens hinunterschritt, wurde ihr erneut bewusst, wie froh sie war, dass ihre Angestellten ebenfalls Zimmer in diesem Herrenhaus bewohnten. Andernfalls hätte sie die kühle, um sich greifende Leere des Gebäudes sehr zu schaffen gemacht. Im Grunde war Ophelija ein sehr geselliger, umgänglicher Mensch – doch ihre Aktivitäten und die damit einhergehenden Einsichten bereiteten ihr so manche Schwierigkeit, sich wirklich auf Gesellschaft einzulassen. In dieser Hinsicht war sie wohl durch ihre Berufung zur Einsamkeit verdammt, wie Castiel durch sein Naturell.

       Lady Ducane teilte ihrer Haushälterin, die bereits am Fuße der Treppe mit einem anderen Mantel auf sie wartete, mit, dass sie noch nicht wisse, wann sie heute Abend nach Hause käme. Sie solle sich jedoch keine Sorgen machen, wenn es wie gewohnt etwas später würde. Mrs Chainley nickte daraufhin nur verstehend. Ophelija war ihr überaus dankbar dafür, denn hätte sie sie jetzt darauf angesprochen, was heute anstand, dann würde sie wahrscheinlich noch mehr unter der Aufregung leiden, die ihren Körper durchfuhr, wenn sie daran dachte, dass sie Sir Castiel bald wieder gegenüber stand.

       Diese innere Aufruhr legte sich auch kaum, als sie nun in der Kutsche saß. Eine Weile holperten die Räder über die unebenen Straßen und schließlich hielt Anthony das Gefährt mit einem sanften Ruck vor dem großen Anwesen des Vampires an. Ob des winterlich verschneiten Wetters, sah sie nicht viele Menschen auf den Straßen und genoss den Ausblick aus dem Kutschenfenster auf die weiß gepuderten Dächer und rauchenden Schornsteine. Sie liebte London bei solch einem Wetter, selbst, wenn man manchmal die eigene Hand kaum vor Augen sehen konnte.

       Nebenbei griff sie noch einmal überprüfend nach dem Leinenbeutel, welcher sich in der tiefen Manteltasche befand und bereute zeitgleich, dass sie jegliche Art von Waffe in ihrem eigenen Haus gelassen hatte. Das konnte man als überaus nachlässig bezeichnen, da nicht sicher war, ob diese Treffen wirklich so friedlich ausging, wie sie es sich erhoffte. Aber sie empfand es dennoch als respektlos, das Haus von Sir Worthington bewaffnet zu betreten – abermals, hatte sie ihn doch das letzte Mal beinahe überfallen.

       Als die Fahrt nun viel zu früh zu Ende war, bedankte sich Ophelija durch das Schneegestöber hindurch bei Anthony, seinen warnenden Blick so gut es ging ignorierend und wandte sich mit einem etwas flauen Gefühl im Magen in Richtung der gigantischen Fassade, hinter der Castiel in diesem Moment sicher schon auf sie warten würde. Sie merkte, dass ihre Kehle auf einmal ganz trocken wurde, als sie kurz darauf an dem schweren Seil zog, das eine Glocke im Inneren des Gebäudes anschlug. Es dauerte nicht lange, schon vernahm sie ein paar schnelle Schritte und es stand ihr Castiel gegenüber, der sich offenbar dazu entschlossen hatte, sie persönlich zu empfangen. Das Vergissmeinnichtblau seiner Augen strahlte noch heller als das unverkennbar charmante Lächeln, das sich bildete, kaum sah er sie an.

       Ohne es zu bemerken schlich sich ebenfalls ein Lächeln auf ihre Lippen, als sie seine so sanfte Stimme hörte. »Lady Ophelija. Es ist mir eine große Freude Euch wieder in meinem Haus begrüßen zu dürfen. Ich hoffe, der viele Schnee hat Euch keine Schwierigkeiten bereitet.«

        Diese Nonchalance ist wirklich bewundernswert ...

        »Es ist mir eine große Ehre, dass Ihr mich ein weiteres Mal empfangt«, erwiderte sie, ihre Stimme ebenso höflich und wohlklingend. »Oh und seit unbesorgt – der Schnee hat mir nicht das Geringste ausgemacht.« Sie musste zugeben, dass es sie zum erneuten Male erstaunte, wie viele Gedanken sich Castiel machte. Dass er Dinge im Auge behielt, über die er sich nicht sorgen brauchte. Sie ließ ihrem Satz noch ein weiteres Lächeln folgen und vollführte einen leichten, anstandshalberen Knicks vor dem Lord.

       »Ich bin erleichtert zu hören, dass Ihr gut hier hergefunden habt. Ich habe den kleinen Salon für Euch herrichten lassen. Wenn Ihr mir folgen möchtet, Lady Ophelija?«, ließ Castiel verlauten. Seine tiefe, volltönende Stimme umschmeichelte ihre Ohren und hüllte sie ein.

       Und so begab sich Lady Ophelija erneut in das wohlig warm beheizte Anwesen von Lord Worthington, nichtahnend, was dieses Treffen ergeben und wie es enden würde.

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