𝔎apitel 7
𝔖ekundenlang harrte Sir Worthington hinter dem Sessel aus, das Gesicht fassungslos, der Blick zugleich ungeniert auf das Kristallglas gerichtet. Nachdem sich kein einziger Muskel an ihm rührte, setzte Ophelija das Glas behutsam auf einem der kleinen Tische in seiner Nähe ab, zog sich aber anschließend schnell wieder zurück. Noch mochte die Situation zwischen ihnen nicht eskaliert sein, aber wer wusste schon, ob das so bleiben würde?
Ganz langsam, wahrscheinlich um die Huntswoman nicht zu erschrecken und den Beginn eines Kampfes weiterhin zu vermeiden, trat Castiel nun aus seinem Versteck hinter dem Polstersitz hervor. Mit flinken Fingern ergriff er das kunstvoll verzierte Glas und selbst auf ein paar Meter Entfernung konnte Ophelija das heftige Beben seiner Nasenflügel ausmachen, als ihm der Geruch ihres Blutes entgegenschlug. Seine Instinkte, die ganzen schrecklichen Triebe überwältigten ihn und auch, wenngleich sie es nicht für möglich gehalten hätte, wurden seine Iriden noch glühender, bis sie tiefrot leuchteten.
Scheinbar im letzten Moment gedachte Castiel sich umzudrehen, damit sie nicht mit ansehen musste, wie er ihr Blut gierig hinunterstürzte. In seinem Wahn ließ er nicht einmal einen einzigen kostbaren – rettenden – Tropfen übrig, indem er das Glas anscheinend mit seiner Zunge ausleckte, wie die Jägerin erkannte, als er das nur noch mit wenigen Schlieren durchzogene Glas wieder auf den Tisch zurückstellte. Ophelija konnte ein abschätziges Naserümpfen nicht unterdrücken, jedoch ... Verspürte sie Hunger, ließ sie auch keinen einzigen Krümel auf ihrem Teller liegen, nicht wahr?
Sie erkannte, dass Castiel sich das Tuch aus seinem Revers zog und sich damit äußerst penibel den Mund abtupfte, als wolle er im gleichen Zug alle Spuren seiner ureigenen Natur beseitigen. Angesichts des zerreißenden Hungers, der ihn noch vor wenigen Augenaufschlägen gequält hatte, schien der Vampir sich ungewöhnlich gut unter Kontrolle zu haben. Während er sich wieder zu Lady Ducane umdrehte, wurde dieser mit einem Schlag bewusst, dass der Lord ihr gerade für mehrere Sekunden den Rücken zugewandt, sich schutzlos preisgegeben und sie ihn trotz dessen verschont hatte.
Die Faszination, die in ihr aufstieg, konnte Ophelija nicht gänzlich beiseiteschieben, denn die Wandlung, die Sir Worthington nun durchmachte, als er endlich seinen Hunger gestillt hatte, war außergewöhnlich. Beängstigend und trotzdem zog es sie in einen gewissen Bann. Sie hatte zwar schon immer gewusst, dass wenige Tropfen Blut im richtigen Moment rettend sein konnten – aber bisher hatte sie es nie so hautnah erlebt.
Seine ganze Haltung war nun wieder wesentlich menschlicher und entspannter. Auch seine Augen nahmen nun innerhalb weniger Sekunden wieder ihre normale himmelblaue Farbe an, die ihn augenblicklich so menschlich erschienen ließ – vor allem im Zusammenhang mit seinen charmanten Lächeln, dass er sogleich wieder aufsetzte – dass Lady Ducane sich fragte, wie überhaupt eine so derartig schnelle Wandlung möglich war. Und wie sich so ein Monster hinter so einer gutaussehenden und wohlerzogenen Fassade verbergen konnte. Dabei musste sie es eigentlich besser wissen, immerhin stammte der Großteil der Vampire aus Castiels Schicht, da sie einfach länger unentdeckt überlebten. Daher wurden viele von ihren auch so verdammt alt. Castiel hingegen war verglichen mit manch anderem Kind der Nacht noch ein Küken.
Ein Küken, dass Ophelija aus irgendeinem Grund, der sich ihr bis jetzt nicht einmal selbst erschloss, verschont und am Leben gelassen hatte.
Für's Erste zumindest, sagte sie sich.
Um nicht weiter darüber nachzudenken, weshalb sie so gehandelt hatte – diese Grübelei würde ohnehin zu nichts führen– konzentrierte sie sich lieber auf Sir Castiels Worte, als er ihr nun in seiner angenehmen Art gegenüberstand, keinerlei Anzeichen mehr für das Monster, dem sie sich vor ein paar Minuten noch gegenüber befunden und gegen das sie fast gekämpft hätte. Auch, wenn sie schon viel mächtigere Vampire besiegt hatte. Sie verstand einfach nicht, warum sie auf einmal Skrupel besaß, es mit Sir Castiel aufzunehmen.
Vielleicht hatte sie es einfach nicht bemerkt und sein Charme, den er überall versprühte, hatte sie doch eingewickelt. Es wäre doch so einfach für sie gewesen! Besonders in dem Moment, in dem er ihr beim Trinken den Rücken zugewandt hatte und so sehr mit seiner Nahrungsaufnahme beschäftigt gewesen war, ohne noch großartig auf die zu achten.
Urplötzlich durchzuckte sie ein Gefühl der Enttäuschung. Enttäuschung über sich selbst. Das war das erste Mal, dass sie versagt hatte; dass sie es nicht aus ihrer eignen Willensstärke heraus geschafft hatte, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Und irgendwie, da war sie sich sicher, war Castiel daran schuld. Sie wusste nur nicht, in welcher Hinsicht, denn dazu war sie im Moment zu verwirrt. Ihre Gedanken sprangen unkontrolliert zu der Vorstellung, wie leicht es gewesen wäre, ihm einfach den Holzpfahl in den Rücken zu rammen. Dann wäre er einfach zu Staub verfallen, wie schon viele seiner Artverwandten durch Ophelijas Hand.
Sie schüttelte energisch den Kopf, um sich wieder auf die Stimme von Castiel zu konzentrieren, die jetzt wieder so sanft und melodisch war, wie zuvor und gar nicht mehr dem animalischen Knurren glich, welches sich den Weg über seine Lippen gebahnt hatte, als es brenzlich zwischen ihnen beiden geworden war. »Ich weiß weder, wie ich Euch gebührend für dieses Opfer danken, noch wie ich Euch dafür entschädigen kann, Lady Ophelija. Der Vorfall tut mir wirklich schrecklich leid. Natürlich ist es nicht der Erste dieser Art gewesen, den Ihr erlebt habt, doch mein Bedauern, dass es dazu kommen musste, sitzt tief. Ich kann Euch nur bitten zu versuchen mir diese Unannehmlichkeit zu verzeihen.«
Als Ophelija die Tragweite seiner Worte begriff, konnte sie nicht an sich halten und runzelte wütend ihre Stirn, ungeachtet dessen, dass diese Angewohnheit sich wahrscheinlich eines Tages mit ein paar unschicklichen Fältchen rächen würde. Das konnte Worthington doch unmöglich ernst meinen! Doch als sie nun in seine Sommertagsaugen blickte, bemerkte sie, dass er es keinerlei als Scherz gemeint hatte.
»Unannehmlichkeiten nennt Ihr das?«, stieß Ophelija beinahe atemlos hervor, da sie sich zu nichts anderem in der Lange fühlte. »Ihr mögt mit Eurer Aussage Recht haben, dass dies nicht die einzige derartige Situation war, die ich schon durchleben musste. Aber denkt Ihr allen Ernstes, Sir Worthington, dass man sich an so etwas gewöhnen kann? Denkt Ihr, dass es gangbar sein sollte und mir Freude bereitet?«
Sie schüttelte leicht ungläubig den Kopf und machte einen Schritt auf ihn zu – nicht ohne den Holzpflock von der Tischplatte aufzuheben. Falls das Ganze hier jetzt doch noch seinen Höhepunkt finden wollte, dann wäre sie bereit. Das kühle Holz des Pfahles schmiegte sich beständig und einsatzbereit in ihre unverletzte Handfläche. Das sollte Castiel besser nicht vergessen, ebenso wenig wie sie die Tatsache, dass er durch ihr besonderes Blut nun gestärkter war denn je.
Es war unvorsichtig gewesen, sich selbst eine Verletzung an der Hand zuzufügen und sich damit ein Erschwernis zu schaffen. Eine Entscheidung, vor der Ophelija noch nicht vollends einzuschätzen wusste, ob sie diese nicht vielleicht in wenigen Sekunden bereuen würde.
Dennoch beobachtete die junge Frau Castiel genauer, während sie auf eine Reaktion auf ihre hastig und aufbrausend hervorgestoßenen Worte wartete. Nur, weil sie emotional gerade sehr aufgewühlt war und nicht genau wusste, weshalb sie vorhin so gehandelt hatte, hieß das noch lange nicht, dass sie deshalb ihre Konzentration fallen lassen wollte. Auch, wenn sie gerade erst einen Kampf um Haaresbreite verhindert hatte, hieß das noch lange nicht, dass die Situation schon längst wieder unter Kontrolle war.
Castiel war nun wieder gestärkt, was zweifellos der Effekt ihres Blutes sein musste. So rein und unberührt, wie es in ihrer Familie seit vielen Generationen gewesen war, hatte es Castiel umso mehr Kraft verliehen, die er benötigte, um wieder in seine Menschlichkeit zurück zu finden. Oder das, was er nach vielen Jahres seines Vampirdaseins noch unter Menschlichkeit verstand. Er schlüpfte wieder perfekt in seine Rolle des Gentlemen, auch wenn Ophelija glaubte zu erkennen, dass sich hinter seinem Lächeln und dem hübschen Gesicht so allerlei Gedanken abspielten – über seine Fassade huschte sogar so etwas wie Verwirrung, wenn sie sich nicht getäuscht hatte – aber auf ihren Instinkt konnte sie sich wohl auch nicht mehr voll und ganz verlassen, sonst wäre hier bereits ein voller Kampf im Gange.
Aufmerksam lauschte sie Castiels Erklärung, behielt den Pflock allerdings weiter direkt neben ihrem Körper, für den Vampir sehr gut sichtbar. Das hier war noch längst nicht vorbei, dessen war sie sich sicher.
»Nun, verzeiht mit, Lady Ducane. Keinesfalls war es meine Absicht, Euch zu kränken, doch auch ich bin bei Weitem nicht fehlerlos und spreche nur aus bereits gemachten Erfahrungen. Zu oft begegneten mir Menschen, wie Ihr es seid, welche solche Zusammenstöße als größtes Vergnügen empfanden.« Sein Blick huschte kurz zu dem Holzpfahl in ihrer Hand und unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Das weiche Lächeln auf seinen Lippen sollte die Situation wohl deeskalieren, doch Ophelija hielt weiterhin eisern an ihrer Mimik fest. »Auch Ihr werdet sicherlich schon Wesen meiner Art begegnet sein, welche es als höchst amüsant erachten, sich mit einem Jäger anzulegen oder Eure Wut zu provozieren«, fuhr er nichtsdestotrotz unbeirrt fort, wählte seine Worte jedoch mit äußerster Sorgfalt.
Ophelija konnte nicht anders, als ungewollt und aus Verwunderung die Augenbraue zu heben, als Castiels Tonfall immer flehender wurde. Seine Worte waren eher an ihr vorbeigerauscht. Sie wusste, dass es Jäger gab, die vollkommen in ihrem Element steckten und eine große Freude daran hatten, einem Vampir ein Ende zu setzen. Manche machten es sich sogar noch zu einem Vergnügen, den Vampir in den letzten Sekunden weiteres Leid zuzufügen – als Vergeltung für all die Menschenleben, die er im Laufe seines Daseins ausradiert hatte, wie sie es rechtfertigten. Doch von einigen wusste Ophelija sehr wohl, dass ein bestimmter Prozentsatz der Jäger ihren Beruf ausübten, weil es ihnen ein Gefühl der Macht gab. Manche von ihnen waren in dieser Hinsicht nicht besser als die Vampire. Einige von ihnen mordeten nur zum reinen Vergnügen – einfach, weil sie dazu in der Lage waren, wie es so schön hieß. Weil sich niemand ihnen in den Weg stellen konnte oder würde.
Allerdings konnte man nicht alle Jäger und Vampire über den gleichen Kamm scheren. Ophelija gehörte nicht zu der Art von Jägern, die Vampire töteten, um ihre eigene Macht zu demonstrieren. Sie verfuhr auch nicht mit jedem Vampir gleich. Genau so war Ophelija sich nun auch der Tatsache bewusst, als sie in Castiels Augen blickte, dass Castiel auch nicht direkt mit den Vampiren zu vergleichen waren, die bereits jeglichen Sinn für Menschlichkeit und der damit verbundenen Moral verloren hatten. Er schien beinahe wirklich Skrupel mit dem Gedanken zu haben, jemanden zu verletzen oder auf andere Weise zu schaden. Oder besser gesagt: Er wollte ihr nichts tun.
»Lady Ducane, Ihr habt heute Nacht mehr als ein Leben gerettet und deswegen stehe ich in Eurer Schuld. Es mag Euch nicht bewusst sein, aber nicht jeder Vampir findet sich so leicht mit seinem Naturell ab. Ich für meinen Teil bin immer höchst erfreut und dankbar, wenn es keine Toten gibt. Lady Ophelija, ich wurde es sehr bedauern, wenn es noch zu einem Kampf kommen müsste. Nichts liegt mir ferner, als Euch zu verletzten oder gar ... Ich vermag es nicht einmal auszusprechen! Bitte versucht mir dieses desaströse Ende dieses Abends einfach zu verzeihen.«
Nach einem tiefen Atemzug, als müsse er seinen Kopf klären – doch warum nur, das Blut sollte ihm doch bereits die volle Kontrolle über seine Sinne zurückgegeben haben? –, setzte er erneut zum Sprechen an: »Ihr seid eine wirklich faszinierende Frau, ich kann nicht anders als dies offen preiszugeben. Und trotz dieser uns aufgebürdeten Todfeindschaft empfinde ich etwas für Euch, das ich seit Jahren nicht mehr empfunden habe: Sympathie.« Wich er gerade tatsächlich ihrem Blick aus? »Sollte dieser Abend also wirklich in einem Gemetzel enden, Ophelija?«
Die Huntswoman konnte nicht anders, als den Atem anzuhalten, als die letzten paar Sätze, die Castiels Lippen beinahe in einem beschwörenden Flüsterton überwunden hatten, vollends zu ihr durchgedrungen waren. Er empfand Sympathie für sie? Oder hatte sie sich doch nur verhört und der Alkohol hatte ihr doch zu sehr das Gehirn vernebelt? Das würde zumindest erklären, warum sie sich zur Zeit so komisch verhielt. Aber sie wusste irgendwie tief in ihrem Inneren, dass es das Richtige gewesen war, Castiel nicht anzugreifen oder gar zu töten. Auch wenn sie sich absolut nicht erklären konnte, warum.
Wachgerüttelt aus ihren Gedanken wurde sie erst, als Castiel sie nun beim Vornamen ansprach und dabei – ob bewusst oder unbewusst wusste sie nicht, das konnte sie nicht einschätzen – ihre Ehrentitel wegfallen ließ. Die daraus resultierende Vertrautheit war ihr irgendwie zu viel und doch fühlte es sich annehmbar an. Ungewohnt, aber annehmbar. Empfand sie zumindest zuerst, bevor sie realisierte, dass das Ganze auch eine gut organisierte Farce von Seiten Sir Worthingtons sein konnte, damit er seine Haut retten konnte.
Verwirrt schüttelte die junge Frau den Kopf. Sie wusste, dass sie manchmal zu impulsiven Entscheidungen und Handlungen neigte – aber so etwas wie heute Abend mit Sir Castiel war Ophelija noch nie passiert. Sie wollte nicht, dass ein Kampf zwischen ihnen entbrannte. Und sie wollte nicht, dass Castiel starb. Zumindest nicht durch ihre Hand. Auch, wenn sie das nicht vor sich selbst zugeben wollte, da sie den Grund dahinter immer noch nicht verstand.
Dennoch hieß die Devise weiterhin, Vorsicht walten zu lassen. So gerne sie es Castiel auch glauben wollte – vor allem, da es ihm wirklich schwer zu fallen schien, diese Worte über seine Lippen zu bringen –, dass er seine Worte ernst meinte, hatten ihre früheren Erfahrungen sie gelehrt, das man trotzdem wachsam sein sollte. Ein Hieb kam immer dann, wenn man ihn am wenigsten erwartete. Er wurde umso tödlicher, wenn man ihn nicht kommen sah.
Ophelija hatte erstmal keine andere Wahl, als die Flucht nach vorne zu ergreifen und dabei die Situation genauso wie Castiel weiter zu entschärfen. Sie schüttelte also erneut langsam den Kopf, wobei sich immer mehr Haarsträhnen aus ihrer einst kunstvollen Frisur lösten.
»Nein, Castiel, ich wünschte mir, dem wäre nicht so«, antwortete sie nun, ihre Stimme ebenso leise, um hoffentlich ein bisschen Ruhe in die Sache bringen zu können. »Aber Ihr wisst doch genauso gut wie ich, dass Ihr mir leider keine vollkommene Zusicherung dafür geben könnt, dass durch Eure Hand keine weiteren unnötigen Opfer verursacht werden. Ihr könnt Euch schlecht gegen Eure vampirischen Instinkte wehren und sie zu unterdrücken kann weitaus schlimmere Folgen haben – das hat Euch dieser Abend zweifellos gelehrt.«
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