𝔎apitel 5

       ℭastiel war deutlich anzusehen, wie sehr er mit sich ringen musste, als sie ihm die ganze Zeit gegenüber stand. Ophelija fragte sich insgeheim, was ihn noch daran hinderte, zuzuschlagen. Doch als sie genauer darüber nachdachte, während Sir Castiel immer noch versuchte, wieder Beherrschung in seinen Körper und Verstand zu bringen, erschien es ihr als nur logisch, dass er sich noch nicht sofort auf sie stürzte, um sich zu nähren. Es befanden sich immer noch ein paar der Gäste auf den winterlichen Straßen Londons vor seinem Anwesen. Es hätte zu viel Aufsehen erregt, sollte sein Opfer sich lautstark zur Wehr setzen.

       Dennoch wurde Lady Ducane das Gefühl nicht los, dass es nicht nur an der Gefahr lag, entdeckt zu werden, dass Castiel nicht schon seine Fänge in ihrem Hals vergraben hatte. Er schien sich förmlich dagegen zu sträuben ihr etwas Derartiges zu tun.

       Das ließ die Huntswoman für einen Moment zögern, ob sie ihr Vorhaben immer noch in die Tat umsetzen sollte – sie wusste durchaus, dass nicht alle Vampire gleich gestrickt waren. Manche von ihnen verzichteten sogar auf die Blutabnahme bei Menschen und ernährten sich ausschließlich von tierischem Blut, auch wenn das alleine längst nicht so nahrhaft für sie war. Ophelija wusste allerdings immer noch nicht, wie sie Sir Castiel einschätzen sollte. Er hatte sich jedenfalls die meisten menschlichen Eigenschaften beibehalten – ob dies allerdings so war, weil er nicht gegen sie ankam, oder weil er sich sie zu Nutzen machen konnte, das verstand Ophelija im Augenblick noch nicht. Wahrscheinlich etwas von Beidem.

       Offenbar war Lady Ducane genau im richtigen Moment in sich zusammengesunken, denn es schien so, als wäre er in ebenjenem dabei gewesen, die vollständige Kontrolle über sich zu verlieren. Und doch, die Überraschung vermochte es, Castiel wieder in seinen menschlichen Verstand zurückzuholen. Mit vorsichtigen Bewegungen ergriff er Ophelijas Hand und hielt sie aufrecht. Es kostete all sie ihre Anstrengung, nicht vor seiner kalten Berührung zurückzuzucken und sich trotz seiner gefährlichen Nähe so weit zu entspannen, damit er ihrer augenblicklichen Schwäche auch wirklich Glauben schenken konnte.

       »Aber natürlich. Kommt und lasst Euch fürs Erste auf der Chaiselongue nieder. Vielleicht solltet Ihr Euch hinlegen, Lady Ophelija?«, fragte Sir Worthington die Huntswoman und beobachtete sie aufmerksam, seine Iriden wieder so klar wie der Sommerhimmel. Ob er irgendetwas ahnte? Ophelija konnte es nicht sagen.

       Stattdessen ließ sie auf höchst dramatische Weise – ihr Vater wäre äußerst stolz auf ihr schauspielerisches Talent – ihre Augenlider flattern und sackte noch ein Stückchen mehr gegen den Vampir. Alles in ihr schrie sie förmlich an, den Abstand zwischen ihnen nicht noch mehr zu verringern. Sie atmete tief ein. Nach außen hin, um den Schwindel zu vertreiben, der sie ergriffen hatte; in Wahrheit, um ihre Nerven zur Ruhe zu zwingen.

       Castiel reagierte genauso, wie Ophelija es erwartet hatte. Der Braunhaarige kam einfach nicht gegen den Gentleman an, der ihm trotz deiner düsteren Natur immer noch innewohnte. Wie sie es bereits vorausgesehen hatte, führte er sie sanft zu der nächstgelegenen Chaiselongue und half ihr, sich dort niederzulassen. Zeitgleich versicherte er ihr nochmals, dass die junge Frau ihm keineswegs zur Last fallen würde.

       »Bleibt, solange Ihr es braucht«, bot er ihr bereitwillig an, doch die Sorge in seiner Stimme machte diese ganz sanft, spiegelte sich ebenfalls auf seinen Gesicht wieder. Menschliche Emotionen schienen also seine vampirischen Instinkte zurückdrängen zu können – zumindest eine Zeit lang.

       Einen leisen Dank murmelnd, ließ sich Ophelija tiefer in die Chaiselongue sinken, um einen möglichst kraftlosen Eindruck bei Castiel zu erwecken. Das Wissen darüber, dass die Situation sich nun immer weiter zuspitzte und ernster wurde, ließ ihre Wangen von ganz alleine ein bisschen blasser werden. Was für ein Glück, dass sie ihre verkrampften Hände in den unzähligen mitternachtsblauen Lagen ihres Rockes verbergen konnte. Unter den halb gesenkten Augenlidern jedoch beobachtete sie das Kind der Nacht noch aufmerksamer – immer darauf bedacht, dass er dies nicht zu sehr mitbekam.

       »Kann ich Euch etwas bringen lassen, Mylady? Ein Glas Wasser vielleicht – oder ein angefeuchtetes Tuch für Euren Kopf?«, fragte Worthington sorgsam. Er ließ sich selbst in dem Sessel unweit von ihr nieder. Als wäre es trotz seines monströsen Naturells unentschuldbar, wenn er sie nun alleine ließ oder sich nicht um sie sorgte.

       Bevor Ophelija etwas hätte erwidern können, rief Castiel auch schon nach seinem Butler. Dieser erschien so geschwind und nahezu lautlos, dass die Huntswoman der eigentümliche Gedanke kam, er könnte ebenfalls ein Vampir sein. Aber das verwarf sie beinahe im selben Herzschlag wieder. Wenn sie nur anhand dieser Eigenschaften hätte beurteilen wollen, wer ein Geschöpf der Nacht war, hätte sie genauso gut ihr eigenes Personal verdächtigen können und das war Irrsinn. Sie war über die Jahre, die sie mit der Jagd auf Vampire verbracht hatte, vielleicht paranoid geworden – aber nichtsdestotrotz war Ophelija jemand, der sich an Fakten hielt.

       Castiel betraute seinen Butler mit dem Auftrag, ihr ein Glas Wasser zu holen. Doch er ließ Ophelija keine einzige Sekunde aus den strahlend blauen Augen – ob vor Sorge oder eher wegen seiner raubtierhaften Seite, das vermochte sie nicht zu beurteilen. Etwas in seiner Mimik machte die Jägerin allerdings stutzig. Da schlummerte nicht nur eine tiefe Besorgtheit in ihm, sondern auch kaum verhüllte Argwohn.

       Ophelija war durchaus bewusst, weswegen sie dieses Gefühl in ihm hervorrief. Sir Castiel Worthington war es zweifelsohne gewohnt, dass er die Blick sämtlicher Damen in seiner Umgebung auf sich zog. Das mochte zum Teil an seinem tadellosen, beinahe umwerfenden Aussehen liegen; zum Anderen aber auch an seiner tödlich betörenden Ausstrahlung, welche ihn eindeutig als Kreatur der Finsternis brandmarkte.

       Allerdings waren die Blicke der anderen Ladies der Bewunderung geschuldet, mit einer leuchtenden Verehrung gespickt, nicht mit einer stumpfen, kalkulierenden Aufmerksamkeit. Eben das war es, was ihn wachgerüttelt haben musste, denn den Blick eines Raubtieres beherrschte Ophelija ebenso meisterhaft wieder jeder Vampir, den sie schon von seinem elenden Dasein erlöst hatte.

       Und nun hatte sie auch noch einen Anflug von Schwindel vorgetäuscht, während der Lord doch eindeutig das Adrenalin wahrgenommen haben musste, dass ihr durch die Venen rauschte. Zwei Dinge, die nicht unter denselben Hut gingen, wie Anthony es auszudrücken pflegte.

       Nun sprang ihr Gastgeber wie gestochen wieder von dem großen Sessel auf, als sein Butler in den Salon trat, einen Krug mit Wasser in den behandschuhten Händen. Erneut einen erschöpft klingenden Dank flüsternd, ergriff Ophelija diesen und nippte daran. Das kühle Nass benetzte ihre Kehle, von der die gar nicht bemerkt hatte, dass sie trocken geworden war. Es klärte ihre wirbelnden Gedanken und vertrieb den letzten Rest Wein aus ihrem Kopf.

       »Frische Luft wird Euch gut tun. Ich öffne die Türen zur Terrasse ein wenig«, lies sich Castiel vernehmen, indes er mit langen Schritten bereits durch den Raum eilte. Lautlos schwangen die hohen viktorianischen Türen nach innen und noch im gleichen Moment fuhr ein kalter, feuchter Luftstrom in den Salon. Er ließ die zahlreichen Kerzen flackern, warf lange Schatten an die Wände ringsum. Dies und auch die Vorahnung, dass sie sich nun für das Unausweichliche zu wappnen hatte, weckten eine seltsam Bedrückung in Ophelija.

       Natürlich war seine Rechtfertigung, die Luft würde ihrem Zustand zuträglich sein, nur die halbe Wahrheit. Auch Castiel brauchte den kalten Wind, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen und zu seiner Disziplin zurückzufinden. Ophelija vernahm das tiefe Seufzen, dass er von sich gab und beobachtete, wie sich seine Schultern entspannten, als er noch weiter hinaus in die Kühle der Nacht trat. Sie stellte möglichst lautlos den Krug auf den Tisch unweit von ihr und realisierte bei dieser Gelegenheit, dass Castiels Butler sich bereits wieder aus dem Zimmer begeben hatte. Die große Eingangstür hatte er hinter sich geschlossen.

       Möge das Diner beginnen, Castiel.

       Die junge Frau setzte sich so auf die Couch, dass sie durch ihre Position sowohl die große Terrassentür im Auge behalten konnte und ebenfalls mit Leichtigkeit den Holzpfahl aus ihrem Unterrock ziehen konnte, wenn es in Bälde nötig sein würde. Castiel war nicht so weit auf die Terrasse heraus getreten, dass er ihre Haarnadel hätte entdecken können, die sie zur Sicherheit dort platziert hatte. Man wusste vorher nie, wo der große Kampf stattfand und über die Jahre hatte Ophelija ihre Methoden entwickelt, an den wahrscheinlichsten Orten der Auseinandersetzung ihre Verteidigungsmittel zu deponieren.

       So sehr Castiel sich den ganzen Abend gegenüber ihr und auch allen anderen Gästen beherrscht hatte – nun war er nicht mehr in der Lage seine unmenschlichen Instinkte länger in Zaum zu halten, als er die Terrasse nach wenigen Minuten verließ und wieder in den Salon trat, in dem die Luft selbst für Ophelija unerträglich aufgeheizt und sauerstoffarm war. Sie war nicht sonderlich überrascht, als sich eine Gesichtszüge abermals veränderten und nun sein tief verborgenes Inneres zum Vorschein kam, auf dass sie den ganzen Abend schon gewartet hatte.

       Doch so sehr sich sein Aussehen und seine Stimme auch veränderten, blieb sein Verhalten immer noch das Alte. »Ich bitte Euch, verschwindet, Lady Ducane!«, flehte er sie beinahe an, sein Gesicht aufs tiefste entschuldigend verzogen, bevor ein lautes, unmenschliches Knurren eine Kehle zerriss.

       Es schockierte Ophelija zutiefst, dass er sie so dermaßen anflehte, sie möge verschwinden. Dass Castiel ihr die Möglichkeit ließ, sich in Sicherheit zu bringen, solange er sich in Schach halten konnte. Hatte er plötzlich Hemmungen ihr das gleiche Leid zuzufügen, das er nicht zuletzt schon unzähligen anderen Menschen zugefügt hatte? Beinahe hätte sie dieses Verhalten – ein Vampir, der Bedenken hatte, sein Opfer zu verletzen? – zum Lachen gebracht, aber dazu war jetzt nicht der richtige Moment.

       »Zu spät, Mylady! Verzeiht mir dieses Auftreten, doch mein Hunger nimmt Überhand und das ist nicht zuletzt eure Schuld. Natürlich habt ihr das niemals beabsichtigt, hoffe ich. Solche Anschuldigungen würde ich euch niemals machen, Lady Ducane, aber es ist wie es ist«, sagte er immer noch mit einem charmanten Unterton, welchen er selbst in diesem Zustand innehatte. Nichts würde ihn aus seiner Rolle als Gentleman drängen – auch nicht seine vampirischen Instinkte.

       Dennoch wohnte seiner Stimme eine derartiger Frost inne, dass Ophelija beinahe zurückgezuckt wäre. Stattdessen setzte sie sich noch etwas weiter auf und beobachtete geradezu fasziniert, wie Castiels Iriden immer rötlicher glühten, als ihm das Blut hineinschoss. Seine Haut wurde indes immer blasser, bis sie einen beinahe kränklichen Farbton angenommen hatte. Man sollte meinen, dass die Huntswoman sich an die fruchteinflößende Wandlung der Nachtwesen gewöhnt hätte, wurde sie doch oft genug damit konfrontiert. Einen kleinen Teil an Grauen hatte Ophelija jedoch nie ganz verbannen können.

       »Oh Castiel, ich glaube ich muss Euch hinsichtlich dieser Tatsache leider enttäuschen. Denn ich fürchte, ich habe wohl doch nicht ganz Unschuld an Eurer jetzigen – zugegebenermaßen sehr indisponierten – Lage und dass der Hunger Euch in Kürze überrennen wird.« Ophelija sprach die Worte in ihrer ausgesuchtesten Höflichkeit aus, aber inmitten der Honigsüße ihres Tonfalls schwang eine unmissverständliche Bedrohung mit. Ihre blutrot geschminkten Lippen verzogen sich langsam zu einem wissenden und ebenso abgeklärten Lächeln.

       Noch während die Worte in den Verstand von Castiel einzusickern schienen, sich ein verwirrter Ausdruck auf sein raubtierhaft verzogenes Antlitz schlich, erhob Ophelija sich langsam von ihrem Platz. Dabei unterließ sie es nicht, den Holzpfahl so unauffällig wie möglich aus ihrem Unterrock zu befreien und verbarg ihn diesen geschickt hinter ihrem Rücken, wie es schon unzählige Male zuvor getan hatte.

       Trotz dessen machte sich ein ganz bestimmter Gedanke immer mehr Raum. Der Gedanke, dass es dieses Mal anders werden würde.

       Ihr Gegenüber verfolgte jede ihrer kleinsten Regungen mit solch einem scharfen Blick, dass sie ihn beinahe körperlich spüren konnte. Ihm entging so gut wie nichts. Lady Ducane hielt kurz und instinktiv den Atem an und wartete einige Herzschläge ab, ob Castiel etwas bemerkt hatte, doch als er keinerlei Anzeichen dafür von sich gab, gab sie sich einen inneren Ruck und ging vorsichtig ein paar Schritte auf ihn zu. Dabei ließ sie ihn ebenso wenig aus den Augen, war immer auf der Hut.

       Sie erlaubte sich keine einzige Sekunde an Unaufmerksamkeit, denn ebenjene konnte besiegeln, ob sie diesen Abend und diese Konfrontation überlebte – oder auch nicht.

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