𝔎apitel 12
𝔎urze Zeit später, nachdem die Huntswoman den Kontext mit der Abhängigkeit formuliert hatte, fiel ihr auf, dass dieser Gedanke eine große Lücke aufwies. Wenn sie beide das Bündnis wirklich eingehen sollten, so wäre sie auch in gewisser Art und Weise von Sir Castiel abhängig. Würde es auch nur zu kleinen Unstimmigkeiten zwischen ihnen kommen, wäre bestimmt alle bis dahin aufgebrachte Sympathie und all das Vertrauen hinfällig – dann käme es doch wieder zum Kampf zwischen ihnen. Doch genau das wollten beide zum jetzigen Zeitpunkt nicht, so viel war gewiss.
Dieses Abkommen war auf millimeterdickem Eis gebaut und konnte nur gelingen, wenn sie beide im Einklang miteinander arbeiteten. Bewegte einer von ihnen sich zu ruckartig, zuckte vor dem Anderen zurück, dann würde dieses Eis brechen und sie ertränken beide gemeinsam. Das Handeln des Einen bestimmte ab nun das des Anderen, wenn sie es wirklich wagen wollten und die junge Frau war sich nicht sicher, ob sie wirklich dazu bereit war.
Ein wunderschönes, filigranes Lächeln zeichnete sich auf Castiels Lippen ab, als die Bedeutung ihrer Worte zu ihm vordrangen. Irrwitziger Weise schlug dieses Lächeln etwas tief in Ophelija an, von dem sie sich innständig wünschte, sie hätte es nie bemerkt – geschweige denn versucht, diese wohlige Wärme einem Gefühl zuzuordnen ...
»Wenn Ihr glaubt, dass es das wert ist, dann begebe ich mich gerne in diese Anhängigkeit«, begann er und strich sich in einer eleganten Geste eine dunkelbraune Locke aus der Stirn. Es juckte Ophelija beinahe in den Fingerspitzen, das Selbe zu tun. »Natürlich ist das auch für mich ein großer Schritt. Ich bin seit Jahren von niemandem mehr abhängig. Aber das werde ich hinnehmen. Auch ich fühle mich wohler, wenn ich weiß, dass weniger Menschen in London in Gefahr sind, durch die Grauentaten Meinesgleichen zu sterben – oder schlimmer noch ein Wesen der Nacht zu werden.«
Nach diesen Worten geriet ihr Gespräch kurz ins Stocken, denn weder Ophelija noch Castiel wussten offenbar, was nun zu sagen war. Die Jägerin beobachtete aufmerksam, wie der Lord seinen Blick auf die verschränkten Hände senkte. Anscheinend rang er ebenso verzweifelt um weitere Worte. Keiner von ihnen wollte mit der Türe ins Haus fallen, indem er gleich auf die Formalitäten ihres Bündnisses einging. Das wäre nur äußerst unschicklich.
Lady Ducane sagte sich, während das Schweigen zwischen ihnen tiefer und länger wurde, zwar immer wieder, dass es hier praktisch nur um das Geschäft ging; dass es etwas rein Profanes und Berufliches war, was sich zwischen ihnen abspielte. Aber alleine die Tatsache, dass Castiel ihr Blut zu sich nehmen würde – wo ihr Blut doch noch nie von jemanden angetastet geschweige denn berührt worden war – beschwor eine Intimität herauf, die der Rothaarigen ganz und gar nicht gefiel. Ophelija war von Anfang ihrer Kindheit an dazu erzogen worden, eigenständig zu sein, sich auf niemanden außer ihrer Selbst zu verlassen und nun, da Castiel ihr bereits so nahe gekommen war – und in Zukunft wahrscheinlich auch noch tun würde, denn die Verbindung, die das Blut aufbaute, war durchaus stärker, als manch einer sich vorzustellen vermochte – konnte sie sich nicht einmal mehr auf ihre Gedanken, Handlungen und Gefühle berufen und auf sie vertrauen.
Dieser braunhaarige, galante Vampir brachte etwas zu Stande, was nicht einmal Ophelijas eigenem Vater gelungen war: Er riss sie aus ihrem Konzept und aus ihrer tief verankerten Ruhe, mit der sie sonst immer handelte. Das war schon deutlich daran zu erkennen gewesen, dass sie nicht die Kraft gehabt hatte, ihm den Pflock in sein totes Herz zu stoßen.
»Wir müssen wohl noch ein paar Dinge besprechen, bevor wir die Lösung in die Tat umsetzen können«, begann Sir Castiel nun doch zögernd und warf ihr immer wieder einen abschätzenden Blick zu, als wollte er sichergehen, dass seine Worte nicht doch dafür sorgten, dass Ophelija es sich anders überlegte. »Zu aller erst ist wohl der Zeitraum wichtig. Ich denke, dass Euer Blut mir eine lange Zeit Kraft geben kann und meinen Hunger stillt, denn schon der Becher vom letzten Mal lässt mich bis jetzt noch keinen neuerlichen Hunger empfinden. Da ist nur das normale Verlangen nach Eurem – verzeiht mir – wirklich wundervoll duftenden Blut. Ihr werdet wohl noch etwas Zeit brauchen um Euch auf die Transfusion vorzubereiten. Wobei uns diese Entwicklung wohl die die Hände spielt, da Euch so die Zeit bleibt alles in Ruhe durchzuführen. Wenn ich das ganze richtig überblicke könnte es tatsächlich reichen, wenn Ihr mir alle zwei Monate Blut zuführt. Ein Zeitraum indem sich euer Körper ebenfalls vollständig regenerieren kann, hoffe ich. Leider kenne ich mich mit dem menschlichen Kreislauf nicht ganz so gut aus.«
Nicht mehr, dachte Ophelija leicht mürrisch bei sich, als Castiel erneut ins Schweigen verfiel, als wüsste er nicht, was er noch sagen sollte.
»Verzeiht mein plötzliches Schweigen, Lady Ophelija. Ich scheine ein wenig durcheinander zu sein«, bat der Vampir sie leise und mit einem peinlich berührten Lächeln um Verzeihung. Es hätte sie vielleicht erheitert, dass der Lord sich bei ihr zu entschuldigen gedachte, dabei war es doch eigentlich sie selbst, die diese Stille zwischen ihnen heraufbeschwor, indem sie sich geflissentlich ausschwieg. Doch all das bekam Ophelija nur am Rande ihrer Aufmerksamkeit mit, da ihre Gedanken sich bereits wieder weiter spannen. Es war nahezu so, als befände sie sich auf einem der kunstvoll ausgearbeiteten Karusselle eines Jahrmarktes – bloß hatte sie den Zeitpunkt des ungefährlichen Absprunges längst versäumt.
Trotz dessen, dass sie sich fühlte, als hätte sie in dem entscheidenden Augenblick nach Castiels Festlichkeiten versagt, weil sie seiner Existenz kein Ende bereitet hatte, verbarg sich tief im Inneren der jungen Dame die Gewissheit, dass es kein Fehler gewesen war, den Lord nicht anzugreifen. Er hatte etwas an sich, das die Rothaarige noch nie zuvor erlebt hatte. Er besaß Menschlichkeit. Keine aufgesetzte, wie es die meisten Kinder der Nacht in dieser Gesellschaftsschicht handhabten. Sondern wahrhaftige, fest in ihm verwurzelte Menschlichkeit und das verwirrte Ophelija zutiefst, während es sie gleichzeitig anrührte.
Denn es bedeutete Hoffnung für den jungen Mann. Hoffnung, dass er nicht weiter Dinge tun musste, die ihm in seinem Inneren widerstrebten. Mithilfe ihres Blutes wäre er gleichzeitig frei von all den Zwängen, die sein unfreiwillig gewähltes Dasein als Vampir mit sich gebracht hatte – und doch war er es wieder nicht. Denn nur seinem Lebenswandel, seiner unersättlichen Gier und dem Verlangen nach menschlichem Blut, war es geschuldet, dass er sich überhaupt in diese Abhängigkeit zu ihr begeben musste.
Ophelija seufzte nun leicht, da ihr Kopf bereits von all den Fragen, die unablässig durch ihn jagten, zu pochen begann. Sie griff beinahe gedankenverloren nach einem der Kristallgläser, die Sir Worthingtons Butler eigens und nur für sie auf dem Tisch platziert hatte, und trank einen tiefen Schluck des klaren und frischen Wassers. Als sie dann wieder fokussiert das Glas auf die Tischplatte zurückstellte, stand ihr lebhaft vor Augen, wie vor zwei Nächten ihr eigenes Blut in ein ganz ähnliches Glas getropft war. Noch jetzt spürte sie den sanften Schmerz in ihrer Hand, wenn sie diese bewegte und der saubere, blütenreine Verband darum zeugte für jeden sichtbar von ihrer Tat – ihrer irrwitzigen und doch so richtigen Entscheidung.
War sie wirklich dazu bereit, diesem Mann, der eigentlich noch ein Fremder für sie war, ihren Lebenssaft zu übergeben? Nahm sie all die Konsequenzen in Kauf, ihr geschwächtes Immunsystem, ihr symbiotisches Verhältnis?
Sie hatte keine Zeit, sich das zu fragen, denn sie musste sich wirklich auf das konzentrieren, was Castiel ihr nun in diesem Moment vermitteln wollte. Seit ihrer Zustimmung war er wesentlich entspannter geworden, also hatte er auch keineswegs ihre leichte Unehrlichkeit bemerkt. Oder er war einfach nur sehr gut darin, sich das keineswegs anmerken zu lassen. Ophelija wurde bewusst, dass sie sich nicht zu sicher fühlen sollte, in ihrem Gewerbe sollte man stets und ständig auf der Hut sein. Das zerrte manchmal stark an ihren Nerven, so wie es auch jetzt der Fall war.
Daher hätte sie beinahe aufbrausend reagiert, als er auf den Duft ihres Blutes ansprach, den es für ihn verströmen musste. Sie wusste, dass er es keineswegs verletzend gemeint hatte, doch der jungen Jägerin war es zuwider. Sie musste diese Abneigung wohl ablegen, auch, wenn das nicht einfach werden würde. Wenn sie die Tatsache nicht akzeptieren konnte, das Castiel ihr Blut zu sich nehmen würde – wenn auch auf indirekte Weise über eine Transfusion – dann könnte sie sich die gesamte Abmachung gleich aus dem Kopf schlagen. Doch das wollte sie nicht, da sie das beständige Gefühl hatte, dass diese Lösung, die beide im Stande waren zu versuchen, sowohl für ihn, als auch für sie und vor allem Londons Bürger am besten war.
Sie nickte nun also leicht. Doch bevor sie zu einer Antwort ansetzten konnte, dass sie es ihm nachsah, wenn er ein bisschen durch den Wind war – sie war es immerhin auch – wurde ihr plötzlich und wahrhaftig schwindelig.
Die Jägerin bekam, ganz gemächlich und schleichend, Schwierigkeiten, sich richtig auf Castiels Worte zu konzentrieren, doch das hatte sie erstmal auf die Kopfschmerzen geschoben, die im Laufe des bisherigen Gespräches immer stärker geworden waren und sie abgelenkten. Ophelija vermutete, dass dies von dem aufregenden Thema kam, über das sie gerade sprachen. Vielleicht aber auch von dem Schlafmangel, den sie in den letzten Tagen in Kauf genommen hatte, um eine Lösung für Sir Worthington zu finden, damit sie nicht in die Bedrängnis kamen, sich auf Leben und Tod zu bekämpfen, so wie es für ihrer beider Spezies eigentlich die alltägliche Normalität war. Zum Teil war der wenige Schlaf aber auch unfreiwillig geschehen, denn in den letzten Nächten, seit ihrer ersten Begegnung auf dem Fest, hatte die Frage, warum sie nicht den Mumm und die Kraft aufwenden konnte, um Castiel ein Ende zu bereiten, die Rothaarige fast jede Sekunde umgetrieben. Wertvolle Sekunden, in denen sie eigentlich hätte schlafen sollen, aber nur mit offenen Augen und verzweifelten Blick vor sich hin an die Zimmerdecke starrte.
Es war jedoch unwahrscheinlich, dass ihre Kreislaufprobleme wirklich alleine von dem Schlafmangel verursacht wurden, denn Ophelija war es gewohnt, auch in der Nacht aktiv zu sein. Was dieses Verhalten betraf war sie fast schon vergleichbar mit den Kindern der Nacht, denn auch sie schlief – sofern sie keine anderen Verpflichten tagsüber eingehen musste – in den Tagesstunden, damit sie sich auf die Jagd begeben konnte, sobald die Sonne unterging, Da sie sich schnell an einen anderen Schlafrhythmus gewöhnte und außerdem mit wenig Schlaf zurechtkam, konnte dies also nicht die alleine Ursache für ihren momentan eher schlechten Zustand sein.
In ihrem Kopf bildete sich eine vage Ahnung, womit es zu tun haben könnte, dass sie der Schwindel so plötzlich erfasste. Das war in den letzten Tagen zuvor auch schon ein paar Mal der Fall gewesen, doch dort sprach sie dem ganzen noch keine große Bedeutung zu. Doch nun, obwohl es schon zwei Tage her war, dass sie Castiel etwas von ihrem Blut gegeben hatte, war der Schwindel und Kopfschmerz immer noch nicht fort.
Vielleicht lag das daran, dass Ophelija es keineswegs gewohnt war, so viel Blut zu verlieren. Sie war eine gute Nahkämpferin. Wenn sich jemand mit ihr anlegte, dann kam sie meist mit nur ein paar kleinen Kratzern davon, welche oft so gut wie gar nicht bluteten. Es war auch schon vorgefallen, dass sie sich Blutergüsse und ein paar Prellungen und Brüche zugezogen hatte, aber das waren auch jene Verletzungen, bei denen kein Blut floss. Daher konnte sie schlecht sagen, wie ihr Körper wirklich reagierte, wenn ihm eine große Menge am Blut abgeführt werden würde.
Wenn sie jedes Mal so reagierte – beziehungsweise ihr Körper – dann konnten sie sich ihren Lösungsansatz eigentlich gleich aus dem Kopf schlagen. Denn wenn diese Vereinbarung sie negativ beeinträchtigen würde, sodass sie nicht mehr in ihrer besten physischen und psychischen Verfassung war, dann konnte sie das unmöglich eingehen. Sie war in ihrem Milieu dazu verpflichtet, jede Sekunde aufmerksam zu sein. Einsatzbereitschaft war Überlebenssicherung. Wenn das nicht gewährleitest werden konnte, dann würde sie diese Vereinbarung nicht eingehen können. Sie hoffte, dass Sir Castiel das ebenfalls bewusst war. Doch Ophelija war all dieser Hindernisse zum Trotz der Überzeugung, dass sie es versuchen sollten. Vielleicht brauchte ihr Körper auch nur ein bisschen, um sich an dieses Prozedere zu gewöhnen und es war nur die ersten paar Male so, dass ihre Verfassung sich verschlechterte. Das galt es dann wohl herauszufinden.
Ihr Blick fokussierte sich langsam wieder und sie bemerkte, dass Sir Castiel seinen Platz gegenüber des Tisches verlassen hatte und nun neben ihr stand. In seinem Blick lag etwas, das sie an Besorgnis erinnerte. Trotz dessen, dass er ihr so dicht war, zuckte sie nicht zurück, als sich seine eiskalte Hand an ihre Stirn legte. Durch die Tatsache, dass durch die Venen des Vampirs keinerlei Blut mehr floss, verstrahlte sie nicht das Geringste an menschlicher Körperwärme. Erstaunlich, dass ihr Blut es trotzdem dazu beitrug, dass seine Haut ihr keineswegs blass oder gräulich erschien, sondern einen ganz gesunden Farbton hatte. Es faszinierte Ophelija von Kindheit an, wie der Körper und das gesamte Dasein eines Vampirs funktionierte. Diese Neugier hielt bisher weiter an.
Der Lord goss ihr aus einer kunstvoll gefertigten Karaffe noch ein Glas Wasser ein und reichte es ihr mit den wohlwollenden Worten: »Bitte, Ophelija, Ihr müsst etwas trinken. Der Blutverlust vom letzten Mal setzte Euch immer noch zu. Ihr seid so etwas Derartiges nicht gewohnt. Ruht Euch noch eine Weile aus. Es bleibt immer noch genügend Zeit, um darüber zu reden, wie es nun weitergeht. Wenn es Euch beliebt, lass ich ein Gemach in meinem Haus herrichten, in dem ihr Euch ausruhen könnt.«
Wahrscheinlich sah er es als seine Pflicht an, sich um ihr Wohl zu sorgen und zu kümmern, war doch anzunehmen, dass der Blutverlust erst zu ihrer miserablen Verfassung beigetragen hatte. In dieser Hinsicht war also fester Verlass auf seine aristokratische Erziehung. »Vielleicht solltet Ihr auch etwas zu Euch nehmen«, stellte er vorsichtig fest und schob zögerlich einen der Teller samt Horsd'œuvre in ihre Richtung, bevor er sich wieder auf seinem Sessel niederließ. Als wollte er ihr keineswegs den Eindruck vermitteln, sich durch ihn bedrängt fühlen zu müssen.
Nach einigen Sekunden, in denen die Huntswoman es schaffte, sich wieder ein wenig zu sammeln, nickte sie schwach. Ihr wurde schmerzlich und überdeutlich bewusst, was für ein leichtes Ziel sie für den Vampir abgegeben hatte – so schwach, so desolat, wie sie in den Polsterung des Möbelstückes gesunken war. Es führte ihr allerdings einmal mehr vor Augen, was für ein ungewöhnliches Kind der Nacht Castiel war, nutzte er ihren Moment der Schwäche nicht dafür aus, um sie zu überwältigen. Ob es nun sein ausgeprägter Sinn dafür sein mochte, getroffene Vereinbarungen einzuhalten, oder doch ein schwacher Kompass der Moral, der dafür sorgte, dass er sich nicht auf sie stürzte und ihr auch den letzten Tropfen ihres kostbaren Lebenssaftes aussaugte; Ophelija war mehr als dankbar und erleichtert, dass sie ihn nicht fehleingeschätzt hatte.
Sie war immer noch nicht im Besitz ihrer vollständigen Kräfte, denn selbst das kleine, gläserne Gefäß fühlte sich in ihren Händen unglaublich schwer an. Ihr Magen rebellierte und einer neuer Schwindel erfasste ihren Körper. Trotzdem zwang sie sich dazu, das Wasser zu trinken, da sie wusste, dass Castiel in diesem Punkt recht hatte. Auch, was das Ausruhen betraf. Doch Ophelija war kein Mensch, der sich selbst viele oder ausgiebige Auszeiten gönnte. Sie war es gewohnt, immer auf dem Sprung zu sein, immer leistungsbereit. Sie musste es sein, sonst würde sie wahrscheinlich schon längst nicht mehr am Leben sein. Fast hätte sie sich selbst dafür rügen können, dass sie ausgerechnet dem jungen Lord gegenüber Schwäche gezeigt hatte. So etwas durfte sie sich nicht erlauben.
Und vor allem konnte sie sich ihm nicht noch weiter aufbürden, weshalb sie ihm eigentlich widersprechen wollte, dass sie ihm keine weiteren Umstände machen wollte. Sie wollte Castiel sagen, er brauche ihr nicht eigens ein Zimmer herrichten lassen. Er müsse keine Sorge tragen, dass sie es nicht wieder auf ihr Anwesen schaffen würde.
Doch dann hatte schon eine andere Frage Ophelijas zarten Lippen überwunden, bevor sie sich überhaupt bewusst war, dass sie sie laut gestellt, geschweige denn gedacht hatte: »Verzeiht mir die Frage meinerseits, Castiel, aber wie kam es dazu, dass Ihr ein Kind der Nacht wurdet?«
Eine Frage, die ihr seit Anfang an durch den Kopf geschwirrt war. Seit sie ihn genauer beobachtet, auf seinem Fest mit ihm getanzt und einen besseren Einblick in seine Wesenszüge erhascht hatte.
Eine Frage, die sie nicht hätte stellen dürfen, das sah sie ganz deutlich an dem Gesichtsausdrucks des Vampires. Seine ausgewählte Freundlichkeit, die Nonchalance, welche ihn erst zu dem Lord machte, der er war ... Nichts davon spiegelte sich jetzt noch auf seinem Antlitz. Er focht einen inneren Kampf aus, während er damit rang, ob er ihr nun eine Antwort auf ihre Frage geben sollte oder nicht, die schlanken Hände zitternd ineinander verschlungen. Die Augen, deren Farbe Ophelija seit ihrem ersten Aufeinandertreffen an Kornblumen erinnerte, waren weit aufgerissen, seine Lippen ein schmaler Strich inmitten seiner starren Mimik. Vielleicht war sie zu weit gegangen; dann wäre jetzt der angemessene Zeitpunkt, um Angst zu bekommen.
Ophelija verstand nicht, weshalb ihr die Frage einfach so entwichen war. Sonst hatte sie sich selbst immer dermaßen unter Kontrolle, war diszipliniert und immer fixiert darauf, keine Fehltritte zu machen. Und nun führte der eine Fehler – dass sie Schwäche gezeigt und auch wirklich empfunden hatte – zu einem anderen. Dieser Frage, deren Antwort sie eigentlich nicht mal wirklich hören wollte. So, wie Castiel seinem Dasein als Vampir gegenüber stand, schien es keine sonderlich angenehme Geschichte zu sein – aber das waren alle Geschichten über den Schaffungsprozess eines Blutsaugers. Es mussten wirklich höllische Qualen sein, die die Verwandlung mit sich brachte, dessen war sich die Jägerin bewusst.
Doch dann – Ophelija hätte es gar nicht mehr für möglich gehalten – fing Castiel wirklich an, ihr seine Geschichte zu erzählen. Und am liebsten hätte sie ihn auch gleich wieder unterbrochen, trotz der Neugier, die sie empfand.
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