𝔎apitel 1

𝔇er kalte Winterwind wirbelte der jungen Frau zusammen mit ein paar vereinzelten Schneeflocken ihre rotbraunen, lockigen Haare ins Gesicht, als sie aus der offenen Kutschentür nach draußen spähte. Die gegen die winterliche Dunkelheit entzündeten Gaslaternen erhellten die Straße ebenso wie der warme Schein, der durch die Fenster der großen Herrenhäuser nach draußen fiel. In der kurzen Dauer, in welcher das Gefährt, angetrieben durch die Muskelkraft der davor gespannten Pferde über die unebenen Straßen des nächtlichen Londons geholpert war, hatte Ophelija bereits ihr Ziel für den heutigen Abend erreicht. Sir Castiel Worthingstons Wohnsitz. Erhaben zeichnete sich das Gebäude vor ihr ab, seine Zinnen streckten sich in den wolkenverhangenen Himmel, als würden sie nach ihnen greifen und sie fortwischen wollen.

Ophelija strich sich in einer gedankenverlorenen Geste mit ihrer behandschuhten Hand die verirrte Haarsträhne aus der Stirn, während sie die andere geschickt dem Kutscher reichte, der ihr galant aus dem ein paar Nuancen wärmeren Wageninneren half. Vorsichtig setzte sie ihre in elegant geschnittenen, hochhackigen Schuhen steckende Füße auf den verschneiten Boden.

Man sollte meinen, dass ihre hohe gesellschaftliche Stellung Ophelija Ducane zur Genüge daran gewöhnt hätte, derartige Schuhe zu tragen. Es ergab sich aber der nicht ganz zufällige Umstand, dass sie flache Schuhe bevorzugte - aus ganz bestimmten Gründen, die den anderen adeligen Damen zu erklären viel zu mühsam und gefährlich gewesen wären.

Sie bedachte den Kutscher mit einem dankbaren Lächeln, beobachtete abwartend, wie dieser die Tür der Kutsche wieder schloss und sich anschließend mit etwas steifen Bewegungen auf dem Kutschbock niederließ. Sie spürte seinen fragenden Blick förmlich auf ihrer Haut prickeln, wie er nun dort saß, die Hände unschlüssig um die Zügel geschlungen. In ihren Augen glitzerte für einen Sekundenbruchteil warme Zuneigung auf. Ihre Stimme, leise und melodisch, wurde von einer plötzlichen Windböe beinahe übertönt.

»Danke, Anthony. Du kannst nun wieder zum Anwesen zurückfahren.« Ophelija schlug ganz bewusst einen ruhigen, nachdrücklichen Tonfall an. Als der Angesprochene jedoch immer noch mit einem skeptischen Ausdruck aus den Gesichtszügen auf sie hinabblickte, fügte sie beruhigend hinzu: »So vertraue mir doch. Mir wird nichts geschehen, es ist nicht das erste Mal, dass ich solch eine Begegnung bewusst herbeiführe, wenn du dich recht entsinnst.«

Ihr jadegrüner Blick rang mit dem Seinen, doch schließlich wandte Anthony mit einem resignierten Seufzen den Kopf ab, nickte jedoch - wenn auch mit äußerstem Widerwillen. »Es wäre mir nur lieber, wenn Ihr Euch gar nicht erst in diese Gefahr begeben müsstest, Mylady«, antwortete er, was er stehts auf ihre Beruhigungen zu sagen pflegte.

Die junge Frau verkniff sich ein höchst unmanierliches Augenrollen und ließ nun ihrerseits laut den Atem aus ihrem Mund entweichen, welcher in der kühlen Luft sofort ein kleines Wölkchen formten. »Anthony, ich bitte dich, lass uns nicht jegliches Mal diese Kontoverse führen. Wir beide wissen, warum ich verpflichte bin, mich diesem Risiko auszusetzen. Für die Bewohner dieser Stadt. Für ein sicheres London. Für ihn. Du weißt ebenso gut wie ich, dass er es so gewollt hätte. Darauf hat seine ganze Erziehung, meine Ausbildung abgezielt. Es ist an mir, dieses Vermächtnis fortzuführen, um die Dunkelheit in dieser Stadt auf Abstand zu halten.«

Ophelija war bewusst, dass sie ihrem Kutscher mit ihrer Argumentation jeglichen Wind aus den Segeln nahm, doch wenn sie ehrlich zu sich war, behagte es ihr ebenso wenig, welch ein Vermächtnis sie mit sich herum trug. Nicht, dass es nicht enorm wichtig gewesen wäre - aber mit seiner Bedeutsamkeit ging auch zugleich einher, dass es eine schwere Bürde für sie war. Seit ihr Vater gestorben war mehr denn je ...

Sie blinzelte, um ihre Gedanken wieder auf das Hier und Jetzt zu lenken und nickte Anthony auffordernd zu. Nachdem er ihr einen letzten Seitenblick zugeworfen hatte, in dem eine ernst gemeinte Warnung vor dem, was Ophelija bevor stand, lag, gab er den Pferden mit einem geübten Schnalzen seiner Zunge den Impuls, sich in Bewegung zu setzen. Ihre Augen folgten der Kutsche, wie diese sich den Weg über die Straße bis zur nächsten Ecke bahnte und dann mit dem leisen Poltern der Räder auf dem Untergrund außer Sichtweite verschwand. Sie konnte sich des kalten Gefühls nicht erwehren, das sich einen Herzschlag lang in ihr ausbreitete und keineswegs etwas mit den jahreszeitlich bedingten Temperaturen zu tun hatte.

Konzentrier dich!, schalt Ophelija sich selbst, als sie bemerkte, dass sie schon wieder in ihren Gedankenstrudel abzugleiten drohte.

Mit einem verstohlenen Rundumblick vergewisserte sie sich, das sich keine andere Person in ihrer Nähe befand. Nachdem sie selbst vorsichtshalber die Dächer nach einem Anzeichen abgesucht hatte, dass sie beobachtet wurde, aber nichts entdeckt hatte, außer den in Schwaden aufsteigenden Rauch aus den Schornsteinen, hob sie leicht ihren Rock des raffinierten Kleides, in das sie sich heute gehüllt hatte. Mit einem schnellen Blick überprüfte sie, ob der Holzpfahl, den sie zur Absicherung jeden Tag an ihrem Körper trug, sich immer noch sicher eingeklemmt unter dem Strumpfband an ihrem Oberschenkel befand. Ihre geschickten Finger griffen nach oben in ihre aufwändige Frisur. Für jeden anderen mochte es so aussehen, als würde sie den Halt der kunstvoll verschlungenen Locken testen, doch in Wahrheit stellte sie sicher, dass die eisenhaltige Haarnadel griffbereit und dennoch nicht zu auffällig inmitten ihrer rostroten Strähnen Platz fand.

Ihrem in der nächtlichen Luft kondensierenden Atem mit dem Blick hinauf zum Himmel folgend, lockerte sie ihre angespannten Schultern, um sich auf das vorzubereiten, was in wenigen Minuten - so hoffe Ophelija zumindest - im Stande war durchzuführen. Durch die träge über die Zinndächer dahinziehenden Wolken blitzte ab und an ein Stern auf, sein funkelndes Licht kämpfte sich seinen Weg durch die unendliche Dunkelheit des Kosmos bis zu ihr. Dieser Anblick hatte etwas seltsam Tröstliches für Ophelija und der Gedanke, dass sich dieser einzelne Stern gegen die Finsternis eines ganzen Universums zu behaupten wusste, schenkte ihr ein bisschen Zuversicht.

London war eine schöne Stadt, dagegen hegte Ophelija keinen Zweifel. Sie pulsierte nur so vor Leben, sowohl tagsüber, als auch in der Nacht. Und genau das war es, was die junge Frau so beschäftigt hielt. Denn sie wusste um die Gefahren, die London in der Nacht für Manchen bereit hielt. Gefahren, die sich in den Schatten zu verbergen wussten und dann zuschlugen, wenn das Opfer am Wenigsten damit rechnete.

Auch Ophelija hatte es schon einige Male unvorbereitet getroffen, aber sie hatte im Gegensatz zu den vielen Einwohnern Londons einen gewichteten Vorteil: Sie wusste, womit sie es zu tun hatte, worin genau die Bedrohung bestand - und was noch viel bedeutungsvoller war, war der Fakt, dass Lady Ducane sich dagegen zu wehren und verteidigen wusste. Sie wurde von ihrer Familie bereits als junges Kind in ein ausschlaggebendes Geheimnis eingeweiht - ein Geheimnis, dass sie bis zum jetzigen Augenblick stillschweigend bewahrt hatte. Nur einige ihrer Bediensteten, wussten um die ungewöhnlichen nächtlichen Unternehmungen ihrer Herrin. So auch Anthony, seit jeher engster Vertrauter ihres Vaters.

Ophelija wusste, dass die Gefahren der Nacht oft nicht so leicht von den scheinbar normalen Einwohnern dieser Stadt zu unterscheiden waren. Vor allem nicht für einen Menschen, der von dieser Begebenheit keinerlei Kenntnis hatte. Ophelija konnte jedoch ganz genau sagen, was den Schrecken der Nacht ausmachte.

Vampire.

In der Londoner Gesellschaft, im Munde des Volkes waren viele Mythen und Gerüchte über diese Kreaturen im Umlauf, obgleich die von den Meisten als reine Hirngespinste abgetan wurden. Doch Ophelija wusste es besser, standen ihre Nächte ganz im Dienste der Bekämpfung dieser Monster, die ihr vor vielen Jahren ihre Mutter entrissen hatten. Und am heutigen Abend hoffte Lady Ducane sich einer weiteren dieser blutlechzenden Kreaturen in den Weg stellen zu können, bevor ihr unersättlicher Hunger nach Blut das nächste unschuldige, menschliche Opfer forderte.

Schon seit geraumer Zeit hatte Ophelija die allwöchentlichen Gesellschaften von Sir Castiel Worthington verfolgt und gleichsam seine nächtlichen Unternehmungen. Es gab für die junge Frau nicht mehr den geringsten Zweifel, dass der so fein und charmant lächelnde Edelmann ein Geschöpf der Nacht sein musste. Sie konnte nur inständig hoffen, dass sie nicht zu spät kam und die liebreizende Lady Miranda, der Castiel nun schon mehrere mitternächtliche Besuche in ihren Gemächern abgestattet hatte, vor seinen Fängen zu retten vermochte.

Natürlich war das für Ophelija nicht minder gefährlich. Selbst mit ihrem jahrelangen Training und den ausgefeilten Methoden, die es ihr ermöglichten, das Überraschungsmoment für sich auszunutzen und den Kindern der Finsternis im entscheidenden Moment zuvorzukommen, raste ihr vor jeder absichtlich herbeigeführten Konfrontation das Herz in der Brust. Nur dem Umstand, dass sie sich nun schon seit gut vier Jahren auf die Jagd begab, hatte sie es zu verdanken, dass ihre Hände nicht zitterten, ihr nicht der kalte Schweiß ausbrach. Aber für sie stand es außer Frage, einen unwissenden Menschen sterben zu lassen, zumal da ihr Lebensinhalt darin bestand, die Vampire zu bekämpfen.

Ebenso wie deren Leben - sie war sich immer noch nicht sicher, ob sie es überhaupt so nennen konnte - daraus bestand, sich möglichst unauffällig von den Menschen in ihrer Umgebung zu nähren. Leider verloren viel zu viele Vampire früher oder später die Kontrolle über ihren Blutdurst; und das endete meist schrecklich.

Ein letztes Mal kontrollierte Ophelija den Sitz ihrer Ausrüstung und wischte sich anschließend ein paar Schneeflocken von dem dicken Stoff ihres Wintermantels. So langsam drang die kühle Luft der Nacht durch das Material. Sie sollte das Unvermeidliche nicht noch länger hinauszögern. Also gab sie sich einen inneren Ruck, erklomm die wenigen Stufen der breit angelegten Steintreppe und betätigte den metallenen Türklopfer. Bereits jetzt vernahm sie die plaudernden Stimmen, untermalt von Gelächter und einer lockeren Melodie, die durch die massive Eingangstür drangen.

Im nächsten Herzschlag wurde die Tür auch schon geöffnet und die junge Frau blickte in die dunklen Augen eines Herren, den sie nicht kannte. An seiner charakteristischen Art, wie er gekleidet war und sie im ausgewählten Tonfall höflich begrüßte, musste es sich zweifellos um den Butler des Hauses handeln. Ophelija zauberte ihrerseits ein ebenso freundliches Lächeln auf ihre rot geschminkten Lippen.

»Ach herrje, hat die Gesellschaft etwa schon begonnen?«, fragte sie ehrlich aufgebracht, denn eigentlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass Castiels Herrenhaus schon jetzt bevölkert von zahlreichen Adeligen war. Das hatten Vampire so an sich - mit ihrem unwiderstehlichen Charisma und dem gewissen Etwas, das ihnen anhaftete, blieben sie selten ohne Gesellschaft. Daher gestaltete es sich umso schwieriger, einen günstigen Moment abzupassen, in denen sie wirklich alleine waren, um ihnen den Garaus zu machen.

Zu ihrer Erleichterung fragte der Butler nicht nach ihrem Namen und bat sie einfach herein, während er ihr versicherte, dass es überhaupt nicht von Bedeutung war, dass sie sich ein wenig verspätet hatte, denn das Haus seines Herren stehe heute Abend für alle und zu jeder Zeit offen. Oh ja, das konnte sich Lady Ducane nur allzu gut vorstellen ...

Sie ließ sich von dem Butler ihren warmen Pelzmantel abnehmen und nickte anschließend fragend in die Richtung der großen Mahagonitür, die sich am Ende des spärlich erleuchteten Korridors befand. Der dürre Man antwortete ihr, dass sie einfach nur dem Gang hinunter folgen müsse und sich Sir Worthingstons Gesellschaft genau hinter diesem Portal abspiele. Einen ausgesuchten Dank erwidernd, wartete Ophelija ab, bis der Butler mit ihrem Mantel von Dannen gezogen war, um diesen in der angrenzenden Garderobe aufzuhängen.

Mit einen kleinen Geste zog sie den Unterrock ihres Gewandes noch einmal zurecht, atmete einige Male tief durch, als sie das starke Pochen ihres Herzens gegen ihre Rippen bemerkte. Sie durfte sich gegenüber Castiel Worthington nichts anmerken lassen. Wenn ihr Puls schneller war, er auch nur den geringsten Hauch von Angst an ihr wahrnahm - dann konnte sie ihren Plan gleich über den Haufen werfen.

Doch die bewussten Atemübungen halfen dabei, dass sich ihr Herzschlag normalisierte. Sie raffte mit der einen Hand die weit ausschwingenden Röcke ihres dunkelblauen Kleides zusammen und trat selbstbewussten Schrittes den Gang hinunter, der massiven Tür entgegen.

Ab jetzt war ihre vollständige Aufmerksamkeit und Konzentration gefragt, wenn dieser Abend erfolgreich enden sollte.

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