2. Hirngespinste ?
Das ist doch wirklich nicht zu fassen, unser Taxifahrer - ein Junger Mann Namens Samuel- hat uns eiskalt dreimal in die falsche Straße gefahren. Erst in die Mahikistraße , dann in die Waikistraße, danach in Waakostraße und schlussendlich in die Naikistraße, in der unser Hotel war und das alles nur, weil wir "so undeutlich gesprochen haben". Ist klar. Und dann hat er uns auch noch die ganzen Umwege berechnen wollen. Daraufhin hat Mama ihm den Vogel gezeigt und wir sind ins Hotel eingecheckt, das hat er nun davon.
" Hast du gesehen wie der Mann geguckt hat?", lacht Papa, " Einfach köstlich".
Lustig war es schon, aber so lustig, dass er alle drei Minuten darüber reden muss nun auch wieder nicht. Lieber könnten wir darüber reden, warum uns niemand die Koffer auf das Zimmer trägt. Die sind nämlich extrem schwer und diese riesige Treppe scheinbar endlos. Warum zur Hölle gibt es hier keinen Aufzug? Immerhin ist die Eingangshalle schön. Die cremefarbene Wand, der kleine Kronleuchter und der rote Teppich, da fühlt man sich wie ein Promi.
Mühsam hieve ich den Koffer die letzten Stufen hoch. Ich hätte echt nicht so viel einpacken sollen.
"Hier lang", ruft Mama im Befehlston und läuft in den rechten Gang, wir dackeln ihr brav hinterher, bis sie vor einer Tür stehen bleibt.
"Ihr habt das gegenüber", bemerkt sie als Lina und ich unsere Koffer über die Schwelle schieben wollen. "Aber, wenn ihr unbedingt mit zu uns wollt; ihr könnt gerne jederzeit kuscheln kommen", fügt sie hinzu und macht ein Gesicht, als würde sie uns jeden Moment in die Wangen knuffen.
Lina schnappt sich den Schlüssel, den Papa uns hinhält und schließt unsere Tür auf. Durch das riesige Fenster, kann man sehen, wie das Licht des Mondes sich auf dem Wasser vor der Küste spiegelt und vom hinteren Bett aus, auf dem unzählige Blumenkissen liegen, hat man die beste Sicht auf den Flachbildefernseher. Hier gefällt es mir.
Mein Blick fällt auf Lina, die sich hier wahrscheinlich auch pudelwohl zu fühlen scheint und die gerade das Bett am Fenster für sich besetzt.
"Schön, dass du gefragt hast, ob ich das Bett am Fenster möchte", murre ich.
" Wer zuerst kommt, malt zuerst. Du kennst die Regeln. Pech gehabt", erwiderte sie mit einem hämischen Grinsen.
Mit einem Seufzer rolle ich meinen Koffer auf das Bett auf der anderen Seite des Zimmers zu, von dem - nebenbei bemerkt- die Aussicht auf den Fernseher nur halb so gut ist.
Lina geht derweil wieder ihrer Lieblingsbeschäftigung nach: Aus dem Fenster starren. Sie versinkt tief in ihrer eigenen, kleinen, heilen Fantasiewelt. In einer Welt, in der sie nicht krank ist, voller Regenbogen und Einhörner.
Immer wenn ich sie so sehe, erinnert mich das unweigerlich an diesen einen Tag, den Tag ihres ersten Anfalls.
Zu ihrem sechsten Geburtstag hatte sie eine Reise nach Disneyland geschenkt bekommen und wir waren da um sie einzulösen. Voller Elan und glücklich wie nie hüpfte Lina in ihrem Lila Pünktchenkleid von einem Eisstand zum nächsten. Wir mussten gefühlte Tausend mal anhalten, damit sie ein Foto mit so einem dämlichen alten Sack im Plüschkostüm machen konnte. Micky Maus haben wir sogar 500 m verfolgt, nur damit Lina ein Foto mit ihm bekam.
Nachdem wir die armen Leute in den Kostümen belästigt hatten, ging es den Fahrgeschäften an den Kragen.
Nach dem dritten war mir speiübel, Lina zerrte uns weiter zu einer riesigen Achterbahn.
Eine halbe Stunde später saßen wir dann auch endlich drin, leider ganz vorn im ersten Wagon, da man dort laut Lina "am meisten Spaß" hatte. Das sah ich anders. Aber es war ja ihr Tag. Also ließ ich mich widerwillig neben ihr nieder. Alles ruckte und schon ging es mit großem Geknacke die Bahn hoch. Oben angekommen
verkrampfte sich mein Körper. Scheiße war das hoch.
Ich sah zu Lina rüber.
"Na? Jetzt hast du wohl doch keine so große Klappe mehr", lachte ich sie aus, als ich sah, dass sie ganz rot und verkrampft da saß.
Normalerweise hätte ich jetzt eine schnippische Antwort bekommen, doch stattdessen wurde Lina nur noch röter und fing an unkontrolliert zu zucken. Langsam machte ich mir Sorgen.
Die Achterbahn schoss nun fast senkrecht nach unten. Alle schrien, ob vor Freude oder vor Angst sei mal dahingestellt, und ich schwöre, hätte ich nicht so eine Angst um Lina gehabt, hätte ich am lautesten geschrien.
Lina war schon ganz lila im Gesicht und biss sich auf die Lippe. Ihre Glieder zuckten und ich konnte sie nicht mehr ansprechen. Panik stieg in mir hoch und ich fing aus purer Verzweiflung an zu weinen.
Meine Fresse, konnte diese Achterbahn denn nicht schneller fahren, meine Schwester war kurz vorm Ersticken!
Als die Fahrt zu Ende war, kamen unsere Eltern sofort zu uns, mit einem strahlendem Lächeln im Gesicht und einem Fotoapparat für Erinnerungsbilder in der Hand.
Das Lächeln verschwand jedoch als sie Lina sahen. Mama wurde käsebleich, der Fotoapparat viel ihr aus der Hand und ging auf der Achterbahnschiene zu Bruch. Sie klappte zusammen.
Papa behielt ein klaren Kopf und rief sofort den Notartzt an, der zum Glück relativ schnell kam und Lina ins Krankenhaus brachte. Der Urlaub war damit gelaufen.
Doch nicht nur der Urlaub war hin, irgendwas stimmte auch mit Lina nicht mehr. Sie verschloss sich immer mehr, zog sich immer weiter zurück.
Mama half da auch nicht großartig, bis heute nicht.
Sie weiß nicht wie sie mit Linas Epilepsie umgehen soll, packt sie immer in Watte und falls es auch nur jemand wagen sollte anzudeuten, dass es keine Fabelwesen gibt, während Lina dabei ist, reißt sie demjenigen den Kopf ab.
"Hast du das gesehen?", flüstert Lina auf einmal aufgeregt und reißt mich somit aus meinen Gedanken.
"Nein", antworte ich. Sie hat wahrscheinlich wieder irgendwas gesehen, was nicht da ist.
"Da war was. Unten, am Eingang", fährt sie fort, das Gesicht starr aus dem Fenster gerichtet.
"Das war wahrscheinlich eine Palme oder ein neuer Gast oder so. Willst du nicht langsam schlafen gehen?"
Ich bekomme wie so oft keine Antwort. Stattdessen ruft sie "Da!", springt mit einem Ruck vom Bett auf und rennt aus der Tür.
"Lina!", rufe ich ihr im Flüsterton hinterher, während ich hastig in meine Schuhe krieche und ihr folge, "Bleib sofort stehen, es ist drei Uhr nachts. Bist du denn jetzt völlig durchgeknallt?"
Aber Lina hört mich nicht mehr. Sie ist schon unten an der Treppe und gleich zur Tür hinaus. Heute macht sie mich wirklich fertig.
Ich renne die Treppe runter und sprinte aus dem Hotel.
In einiger Entfernung sehe ich Lina.
Sie lugt vorsichtig hinter einer Palme hervor und beobachtet einen -zugegebenermaßen- seltsamen Schatten, der von weitem aussieht wie ein großes, löwenahnliches Tier.
Er läuft langsam auf das Meer zu.
Ein Leuchten in der Tiefe. Er ist weg.
Was zum?
Lina scheint genauso verwundert zu sein. Wie hypnotisiert läuft sie auf die Stelle im Meer zu, an der eben noch der Schatten war.
Der Wind peitscht mir ins Gesicht. Mittlerweile renne ich so schnell ich kann. Lina steht schon hüfttief im Wasser.
"Lina, warte!" , schreie ich ihr verzweifelt zu, doch ich komme zu spät.
Während ich verzweifelt versuche schneller durch das Meer auf Lina zu zuwaten, bemerke ich ein schwaches leuchten in der Tiefe des Meeres, direkt unter Lina.
Das Leuchten wird immer stärker. Vernebelt die Sicht.
Mühselig schwimme ich dem Licht entgegen in dem Lina verschwimmt.
Alles dreht sich und mir wird schlecht.
Das Licht ist nun gleißend weiß, grell und blendet.
Ich fühle mich wie in einem riesigen Strudel, umgeben von Tonnen von Wasser, die auf mich einstürzen und bereite mich darauf vor zu ertrinken.
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