F Ü N F
„Wir sollten uns beeilen," sagte Gawain, als sie die Pferde bestiegen. „Je schneller wir dort sind, desto eher wissen wir, womit wir es zu tun haben."
Elara nickte, ihre Gedanken waren bereits bei dem, was vor ihnen lag. Sie hatte Geschichten über Grausturm gehört – düstere Legenden von Geistern und verlorenen Seelen, die das Fort heimsuchten. Aber die wahre Gefahr lag nicht in den alten Mauern, sondern in den lebenden Schatten, die sich dort versammelten.
Die Landschaft, die an ihnen vorbeizog, wurde mit jedem Kilometer karger. Das satte Grün der Felder und Wälder wich grauem Stein und totem Land. Hier, weit entfernt vom Herzen des Königreichs, fühlte sich die Welt kälter an. Trostloser. Als hätten die Legenden über diesen Ort ihre Wahrheit gefunden.
„Weißt du, warum Grausturm so gefürchtet ist?" fragte Gawain plötzlich, als sie eine steinerne Brücke überquerten, die über einen tiefen, ausgetrockneten Graben führte.
„Nur die üblichen Geschichten," antwortete Elara und warf ihm einen neugierigen Blick zu. „Gespenster, verlorene Seelen..."
„Das sind nur Geschichten für Kinder," sagte Gawain und schüttelte den Kopf. „Grausturm war einst eine Festung, die weit mehr bedeutete als nur einen Außenposten im Norden. Es war ein Symbol der Macht – bis es fiel. Die damaligen Bewohner verschwanden spurlos. Manche sagen, es war schwarze Magie, andere reden von Verrat in den eigenen Reihen. Doch niemand kehrte je lebend zurück."
Elara spürte einen kalten Schauer über ihren Rücken laufen. Sie hatte sich auf diese Reise eingelassen, weil sie Aric stellen wollte, aber nun wurde ihr bewusst, dass sie mehr als nur einem Mann gegenüberstand. Dieser Ort war eine Herausforderung für ihren Mut, für ihren Willen.
„Es gibt keinen Weg zurück," sagte sie schließlich, mehr zu sich selbst als zu Gawain. „Wir müssen wissen, ob Aric wirklich dort ist."
Gawain nickte, sagte aber nichts. Es war klar, dass auch er die Schwere der Aufgabe spürte.
Stunden später, als die Sonne langsam am Horizont verblasste, sahen sie die Ruinen von Grausturm in der Ferne. Es war eine gewaltige, düstere Struktur, die wie ein stummer Wächter über dem toten Land thronte. Ihre Mauern waren zerfallen, die Türme zerbrochen, doch etwas an diesem Ort ließ ihn lebendig wirken – als ob die Schatten, die ihn umgaben, still und heimlich beobachteten.
„Wir sind da," murmelte Gawain und hielt sein Pferd an. „Von hier an gehen wir zu Fuß weiter. Es wäre zu auffällig, mit den Pferden näher zu kommen."
Elara sprang von ihrem Pferd und spürte, wie das kalte, raue Land unter ihren Stiefeln knirschte. Sie zog den Mantel enger um sich, als sie zusammen mit Gawain in Richtung der Festung marschierte. Die Stille war bedrückend, und selbst der Wind schien es zu vermeiden, durch die Ruinen zu wehen.
Je näher sie kamen, desto stärker wurde das Gefühl, beobachtet zu werden. Die alten Mauern warfen lange Schatten, und in der Ferne hörte Elara Geräusche, die wie gedämpfte Stimmen klangen. Sie wechselte einen kurzen Blick mit Gawain, der das Schwert bereits in seiner Hand hielt, bereit für das, was kommen mochte.
„Sei wachsam," flüsterte er. „Wir wissen nicht, wie viele hier sein könnten."
Elara nickte stumm und zog ihren Dolch aus der Scheide, das kühle Metall beruhigte sie ein wenig. Sie wussten, dass Aric Männer um sich geschart hatte, die ihm bedingungslos folgten – Männer, die bereit waren, für seine Sache zu sterben. Doch was sie nicht wussten, war, wie viele sich tatsächlich in den Schatten von Grausturm versteckten.
Die beiden schlichen näher an die Festung heran. Das zerfallene Tor war weit geöffnet, als würde es Besucher willkommen heißen – oder sie in eine Falle locken. Elara spürte, wie sich die Anspannung in ihrem Körper verstärkte, doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Jetzt war nicht die Zeit, um nachzugeben. Sie musste stark bleiben. Für Cedric. Für das Königreich.
„Da!" Gawains Flüstern riss sie aus ihren Gedanken. Er deutete auf eine Gruppe von Männern, die am Rande des Hofs standen. Fünf, vielleicht sechs, alle in dunklen Mänteln gehüllt, ihre Gesichter von Kapuzen verdeckt. Sie standen eng zusammen, sprachen miteinander – und dann, ganz plötzlich, öffnete sich eine versteckte Tür im Boden. Die Männer verschwanden einer nach dem anderen darin.
Elara und Gawain tauschten einen schnellen Blick. Das war es. Der geheime Zugang.
„Warte," flüsterte Gawain und packte Elara am Arm. „Es könnte eine Falle sein."
„Ich weiß," antwortete Elara leise, ihre Augen auf den nun leeren Hof gerichtet. „Aber wir haben keine Wahl. Wenn Aric wirklich hier ist, dann führt dieser Weg zu ihm."
Gawain zögerte einen Moment, ließ dann aber ihren Arm los. „Sei vorsichtig."
Elara schlich vorsichtig auf die Luke zu, gefolgt von Gawain. Als sie näher kamen, konnte sie hören, wie der Wind durch die Ritzen der Ruinen pfiff. Jeder Schritt fühlte sich an wie ein Schritt ins Unbekannte – aber sie musste es tun. Für Cedric. Für das Königreich.
Sie erreichten die geöffnete Luke und spähten vorsichtig hinein. Eine schmale Steintreppe führte in die Tiefe. Unten war es stockdunkel, doch Elara konnte den schwachen Schein von Fackeln in der Ferne erkennen.
„Wir müssen leise sein," flüsterte Gawain und zog sein Schwert, während Elara ihren Dolch fester umklammerte.
Sie begannen, die Treppen hinabzusteigen, und mit jedem Schritt schien die Luft schwerer zu werden. Die Dunkelheit umschlang sie, und Elara konnte spüren, wie das Herz in ihrer Brust schneller schlug. Sie hatten keine Ahnung, was sie unten erwarten würde.
Als sie schließlich den Boden erreichten, standen sie vor einem langen, in Stein gehauenen Gang. Die Fackeln an den Wänden warfen zuckende Schatten auf den Boden, und in der Ferne konnte Elara Stimmen hören – gedämpft, aber klar genug, um ihre Nackenhaare aufzustellen.
Sie folgten dem Gang, bis sie zu einer Tür kamen, die leicht angelehnt war. Elara spähte durch den Spalt und sah mehrere Männer in einem Raum versammelt. Und in der Mitte stand ein großer Mann in einer tiefroten Rüstung. Sein Gesicht war teils von einer Maske verdeckt, doch es war eindeutig.
„Aric von Valtor," flüsterte Elara kaum hörbar.
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