Trost

„Silas, mach bitte auf", sage ich leise, meine Stimme zittert. Zum dritten Mal klopfe ich an seine Tür, aber es bleibt still. Ich habe das Gefühl, dass er mich gerade nicht sehen will, und ehrlich gesagt, kann ich es ihm nicht verübeln. Heute war ich wirklich nicht fair zu ihm.

Doch plötzlich höre ich Schritte hinter der Tür, der Türknauf bewegt sich, und Silas öffnet die Tür einen kleinen Spalt. Seine grauen Augen wirken Dunkel und ich merke, dass ich ihn wohl geweckt habe. Es ist mitten in der Nacht.

„Kann ich bitte reinkommen?". Es kostet mich so viel Kraft, diese einfachen Worte auszusprechen. Ich würde am liebsten einfach all meine Emotionen herauslassen.

„Jetzt hast du wohl Zeit zu reden?", fragt er ein wenig schnippisch, doch das kann ich ihm nicht verübeln.

Ich schlucke, versuche etwas zu sagen, aber bevor ich die Worte finden kann, zieht er mich einfach herein. Seine Hand umschließt meinen Arm, und mit einem sanften Ruck bin ich in seinem Zimmer. Die Tür fällt hinter uns ins Schloss.

„Weinst du?", fragt er plötzlich, und sein Blick durchbohrt mich. „Ja, du weinst."

Als er das sagt, bricht alles über mir zusammen. All die Bilder des Tages, die toten Zwillinge, die Fragen von Detective Andrew... Alles stürzt auf mich ein, und ich fühle mich überwältigt. Ich fange laut an zu weinen, heiße Tränen laufen mir über das Gesicht.

„Lyle, was ist passiert?" Seine Stimme klingt fast schon panisch, als wüsste er nicht, wie er mit der Situation umgehen soll. Seine Hand legt sich zögerlich auf meinen Arm. Nach unserer letzten Begegnung ist er offensichtlich unsicher, wie er mich jetzt behandeln soll.

„Silas", schluchze ich und zwinge mich, die Worte herauszupressen. „Kannst du mich bitte festhalten?"

Kaum habe ich das ausgesprochen, legt er die Arme um mich und zieht mich fest an sich. Ich lege meinen Kopf auf seine Schulter, vergrabe mein Gesicht in seinem Pullover. Tränen strömen weiterhin über meine Wangen und hinterlassen bestimmt einen nassen Fleck auf seinem Oberteil, aber das ist mir gerade egal.

In diesem Moment zählt nichts anderes. Ich will nur weinen, all den Schmerz, die Verzweiflung und die Trauer rauslassen. Und Silas... Silas ist einfach da. Er hält mich fest, ohne zu fragen, ohne zu urteilen.

Ich drücke mich noch fester an ihn. Sein Körper gibt Wärme ab, sein Duft beruhigt mich, als würde er eine Schutzblase um uns beide legen. In diesem Moment fühle ich mich so geborgen wie schon lange nicht mehr.

Es ist lange her, dass ich jemanden so nah an mich herangelassen habe. Natürlich habe ich Menschen getröstet, habe sie umarmt, aber so etwas wie das hier... das habe ich schon seit Jahren nicht mehr gespürt.

In Silas' Armen fühle ich mich für einen Moment befreit. Ich kann schwach sein, ohne Angst davor zu haben, verurteilt zu werden. Ich muss keine Fassade aufrechterhalten, muss nicht den Priester spielen, der immer stark und gefasst ist. Hier und jetzt darf ich einfach nur Lyle sein.

Andere hier im Kloster würden mir raten jetzt zu beten, mich an Gott zu wenden. Doch jetzt, in diesem Moment, brauche ich etwas anderes. Ich brauche jemanden, der mich berührt, der real ist, der mich nicht mit Worten, sondern mit seiner bloßen Anwesenheit beruhigt.

Silas hält mich weiterhin fest, sagt nichts. Meine Tränen kommen in Wellen, jedes Mal wenn ich denke, dass die Tränen aufhören, breche ich wieder in leises Schluchzen aus. Es ist, als würde alles, was sich in den letzten Wochen und Monaten in mir aufgestaut hat, jetzt raus möchte.

Silas ist so still, aber seine pure Anwesenheit ist beruhigend. Ich spüre, wie seine Hand langsam über meinen Rücken streicht, als wollte er mich daran erinnern, dass ich nicht allein bin. Seine Berührungen sind tröstend und ich merke, wie sich mein Atem allmählich beruhigt.

„Lyle", sagt er schließlich leise. „Was ist passiert?" Seine Stimme ist sanft, fast ein Flüstern, und ich höre darin nichts außer Sorge.

Ich wische mir die Tränen aus den Augen, aber die Bilder des Tages sind so stark, dass ich mich überwältigt fühle. „Es... es war der Tatort", beginne ich mit brüchiger Stimme. „Die Zwillinge... sie waren.." Ich schlucke schwer, wie soll ich diese grausamen Sachen nur aussprechen... „Es war so schrecklich, Silas. Sie waren doch fast noch Kinder. Und sie... sie haben ihnen die Köpfe abgehackt. Und diese Zeichen, überall... es war wie in einem Albtraum."

Silas' Hand hält in seiner Bewegung inne, und ich spüre, wie er seinen Griff leicht verstärkt und mich näher an sich zieht.

„Und dann war da Detective Andrew... er hat angefangen, Fragen zu stellen. Über mich.
Über meine Vergangenheit." Andrew hat mich an all diese Schlimmen Dingen erinnert, an die ich nicht denken wollte. „Er hat mich ausgefragt, ob ich mit den Morden in Verbindung stehe. Als ob ich... als ob ich etwas damit zu tun haben könnte!"

Ich schüttle den Kopf, das ist einfach nur absurd. Silas hört mir einfach zu, seine Hand wandert wieder sanft über meinen Rücken. Dann sagt er leise: „Das ist einfach nur lächerlich. So etwas sollte er dir niemals unterstellen. Es tut mir leid, dass du das durchmachen musstest."

„Es ist nicht nur das", flüstere ich. „Er hat Dinge gesagt, die mich an meine Vergangenheit erinnert haben. Dinge, die ich lieber vergessen würde. Über meinen Vater, über das, was passiert ist, als er mich rausgeschmissen hat..."

Ich kann es kaum fassen, dass ich das laut sage. Ich kann es kaum fassen, dass ich überhaupt nochmal darüber sprechen werde.

„Komm", sagt Silas sanft, „lass uns auf das Bett setzen. Es ist bequemer."

Ich nicke nur stumm, ich bin viel zu erschöpft, als das ich widersprechen könnte. Silas führt mich zu seinem Bett, setzt sich und zieht mich neben sich. Ohne zu zögern lehne ich mich an seine Schulter, und er legt einen Arm um mich, als ware das das Natürlichste der Welt.

Seine Finger gleiten durch meine Haare und ich spüre, wie sich mein Körper langsam entspannt. Die zärtliche Geste lässt mich für einen Moment alles vergessen - die toten Kinder, diese kranken Fragen, die Erinnerung an meinen Vater.

Doch während ich seine Nähe genieße, beginnt ein vertrauter Konflikt in mir zu brodeln. Ich bin ein Priester. Ich habe mein Leben Gott geweiht, für immer. Und doch bin ich hier, so nah bei Silas, dass mein Herz schneller schlägt, mein Atem unruhiger wird.

Ich sollte mich zurückziehen, sollte Abstand nehmen. Aber ich kann nicht. Ich will nicht. Silas gibt mir genau das, was ich gerade brauche.

„Du musst da nicht allein durch", flüstert Silas, während er mir weiter durch die Haare streicht. „Du kannst mit mir über alles reden, immer. Ich bin hier."

Ich kann kaum realisieren was er da sagt. Wir kennen uns doch kaum und trotzdem sagt er so etwas. Ich fühle mich gerade so gut bei ihm aufgehoben. Und ich entscheide, dass ich dieses Gefühl nicht verdrängen werde. Nicht jetzt.

Ich lasse meinen Kopf gegen seine Brust sinken, und er legt seine Hand dabei sanft auf meine Schulter. Was ich hier tue, wird mich irgendwann einholen, ich weiß es einfach. Irgendwann muss ich mich dafür bestrafen, muss erneut zu Gott finden. Doch nicht jetzt.

„Es war alles zu viel", flüstere ich. „Die Morde, die Fragen, die Erinnerungen... Ich dachte, ich hätte das alles hinter mir gelassen, aber es verfolgt mich immer noch."

"Das verstehe ich", sagt Silas, und seine Stimme ist so sanft, dass es mich fast überrascht. „Du musst das nicht allein mit dir ausmachen."

Er streicht mir über die Wange, seine Finger sind warm und beruhigend, als er mir eine Träne abwischt, die ich gar nicht bemerkt hatte. „Du hast so viel durchgemacht, Lyle. Es ist okay, schwach zu sein."

Ich schließe meine Augen und seufze unter seiner Berührung. Die Stimme in mir schreit immer wieder, dass ich aus dieser Situation raus muss bevor es zu spät ist. Doch ich kann nicht.

Silas scheint zu spüren, dass ich mich etwas entspannt habe, denn er lächelt leicht und sagt: „Ich weiß, dass du dich jetzt überfordert fühlst, aber es wird besser. Ich bin mir sicher."

Seine sanfte Stimme, diese beruhigende Wärme... Egal, was morgen passiert, in diesem Moment bin ich einfach nur hier. In seinen Armen. Und das ist genug.

Silas' beruhigende Hand streicht noch immer sanft über meinen Rücken, während ich tief einatme, die Müdigkeit spürbar in jeder Faser meines Körpers. Doch nach all dem Weinen fühlt es sich an, als wäre ein Teil der Last, die mich den ganzen Tag über erdrückt hat, leichter geworden. Und obwohl es immer noch widersprüchliche Gedanken in mir gibt, halte ich daran fest, dass es in diesem Moment richtig ist, einfach hier zu bleiben.

„Weißt du", sagt Silas plötzlich mit einem leichten Schmunzeln in der Stimme, „ich habe eine Idee." Er zieht sich ein Stück zurück, um mir ins Gesicht zu sehen, seine Augen funkeln und wirken jetzt wieder viel heller.

„Was für eine Idee?"

Silas grinst leicht, seine Hand ruht jetzt locker auf meiner Schulter. „Gestern warst du doch nach dem Kino ziemlich entspannt, oder? Wie wär's, wenn wir uns einfach einen Film auf meinem Laptop anschauen? Ich hab ihn dabei. Eine Komödie vielleicht, irgendwas, das dich ein bisschen ablenkt."

Ich schaue ihn skeptisch an. „Jetzt einen Film?" Es klingt ein wenig absurd, nach all dem, was gerade passiert ist. Aber andererseits hat er recht; die Ablenkung im Kino hatte mir gut getan.

Silas zuckt nur mit den Schultern. „Warum nicht? Es muss ja nicht immer alles ernst sein. Du brauchst auch mal eine Auszeit. Außerdem kann ich ziemlich gut Comedys aussuchen."

Ich seufze und merke, dass ich mich tatsächlich zu der Idee hingezogen fühle. Es klingt fast schon verlockend. „Na gut", gebe ich nach, „aber wenn es ein richtig schlechter Film ist, ist das deine Schuld."

„Deal", sagt er mit einem breiten Grinsen und schnappt sich seinen Rucksack, der neben dem Bett steht. Er zieht einen schmalen Laptop heraus und klappt ihn auf, während ich mich langsam neben ihn setze. „Ich verspreche, du wirst es nicht bereuen."

Er setzt sich zurück, lehnt sich ans Kopfteil des Bettes und klopft leicht neben sich. Zögernd schiebe ich mich näher und setze mich ebenfalls gegen die Kissen, sodass wir Schulter an Schulter sitzen. Es fühlt sich seltsam vertraut an, und obwohl ich den inneren Drang verspüre, mich zu distanzieren, lasse ich es doch zu. Irgendwie fühlt es sich nicht falsch an, so dicht neben ihm zu sitzen. Es fühlt sich einfach... gut an.

Silas stellt den Laptop auf seine Beine, wobei unser Kontakt nun noch enger wird. Unsere Oberschenkel berühren sich leicht, und obwohl es vermutlich nur eine beiläufige Geste ist, spüre ich wie mein Herz einen Moment schneller schlägt. Seine Nähe hat eine Wirkung auf mich, die ich nicht ganz verstehe.

„Okay, mal sehen", murmelt er, während er durch die Filme scrollt, sein Arm leicht gegen meinen gedrückt. „Etwas Lustiges, aber nicht zu albern... ah, hier, das sieht gut aus." Er tippt auf eine Komödie, die ihm auf Netflix vorgeschlagen wird und lehnt sich dann wieder zurück. Er hat den Laptop so positioniert, dass wir beide gut sehen können.

Während der Film anfängt, spüre ich immer wieder seine Bewegungen. Die Art, wie seine Hand sanft gegen meinen Arm streift, wie er sich etwas näher lehnt, als ob es keine große Sache wäre. Es ist nichts Aufdringliches, aber ich kann nicht leugnen, dass jede seiner kleinen Berührungen mich innerlich aufwühlt. Seine Finger gleiten spielerisch über meinen Unterarm, sie hinterlassen eine heiße Spur auf meiner Haut. Wie soll ich mich so bloß auf den Film konzentrieren?

„Ich wusste, dass du das hier brauchen würdest", sagt er leise. Seine Stimme klingt sanft allerdings auch ein wenig neckend. „Du siehst jetzt schon entspannter aus."

Ich versuche, nicht zu reagieren, aber ein kleines Lächeln entwischt mir doch. „Du bildest dir das nur ein."

„Vielleicht", erwidert er mit einem frechen Grinsen und streicht dabei fast absichtslos über mein Bein. Die Berührung ist leicht, kaum wahrnehmbar, aber sie sendet eine Welle von Nervosität und etwas anderem durch meinen Körper, das ich nicht definieren kann. „Oder vielleicht bin ich einfach gut darin, dich aufzumuntern."

Mein Blick bleibt auf dem Bildschirm, obwohl ich mich kaum auf den Film konzentrieren kann. Er streicht mir plötzlich eine Strähne aus der Stirn, seine Finger ganz nah an meiner Schläfe, bevor er seine Hand wieder auf meinen Oberschenkel legt, diesmal etwas fester. Es ist eine verspielte, fast zufällige Geste, aber ich weiß, dass sie nicht ganz so unschuldig ist, wie sie vielleicht wirkt.

„Silas..." Ich sage seinen Namen leise, ein kleines Warnsignal in meiner Stimme, aber auch ein Hauch von Unsicherheit. Ich will nicht, dass das zu weit geht, und doch kann ich mich nicht dazu bringen, ihn zurückzuweisen.

Er sieht mich mit einem schiefen Lächeln an, seine Augen funkeln im Licht des Laptops. „Was denn?" fragt er unschuldig, während seine Hand jetzt sanft meinen Arm hinaufgleitet. „Magst du das nicht?"

Ich schlucke schwer und schüttle leicht den Kopf, ich bin gerade viel zu unfähig als das ich ihm eine klare Antwort geben könnte. Natürlich mag ich es. Und das ist das Problem. Ich bin ein Priester. Ich sollte mich auf meinen Glauben und meine Pflichten konzentrieren, nicht auf diese verwirrenden Gefühle, die Silas in mir auslöst.

„Du bist wieder so angespannt", sagt er leise. Er lässt seine Hand wieder an meinem Arm heruntergleiten, bevor er meine Hand nimmt und sie sanft in seine legt. „Du musst dir das nicht alles so schwer machen, Lyle."

Ich blicke ungläubig auf unsere Hände. Es ist eine einfache Berührung, aber sie fühlt sich so viel bedeutungsvoller an. Ich sollte ihn zurückweisen. Ich sollte mich aufraffen, diesen Moment unterbrechen, bevor es zu viel wird. Aber ich kann es immer noch nicht.

Stattdessen lehne ich mich gegen seine Schulter, lasse meinen Kopf leicht gegen ihn sinken. Es löst so viel Verwirrung in mir aus.

Silas' Finger streichen wieder über meinen Arm, meine Hand, dann wandern sie wieder zurück zu meinem Bein. „Siehst du?" murmelt er. „Du entspannst dich schon."

Ich gebe keine Antwort. Stattdessen schließe ich einfach die Augen und atme tief durch. Es gibt gerade keinen Raum für rationale Gedanken. Nur diesen Moment, in dem ich mich entscheide, die Nähe zuzulassen, die Silas mir gibt. Egal, wie kompliziert das später werden könnte... im Hier und Jetzt brauche ich es.

Und Silas scheint genau das zu wissen.

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