Prediger
„Das Erzabtei St. Vincent heißt Sie herzlich willkommen. Es freut mich sehr, Woche für Woche so viele bekannte Gesichter zu sehen. Doch auch die ganzen Neuen, die sich heute zu uns gesellen, heiße ich herzlich willkommen. Es ist uns eine Ehre, Sie alle hier begrüßen zu dürfen. Unser Kloster engagiert sich seit ein paar Wochen nun noch engmaschiger für die Bedürftigsten da draußen. Es ist mir eine große Ehre, diese Eröffnungsrede zu halten und somit einen wunderbaren Anfang für unseren heutigen Gottesdienst zu schaffen. Jeder Gottesdienst ist besonders, doch dieser hier umso mehr. Heute ist der Tag, an dem wir unser Engagement mit der Gemeinde teilen. Im Anschluss beantworten wir Ihre offenen Fragen natürlich sehr gern, und auch Beichten können wieder abgegeben werden."
Schwester Lahela ist eine der fleißigsten Nonnen, die ich je kennenlernen durfte. Ihr Ehrgeiz und der unstillbare Durst nach Wissen machen sie zu einem ganz besonderen Menschen. Sie lernt niemals aus und gibt niemals auf. Sie hat ihr Leben lang dafür gekämpft, jetzt an dieser Stelle zu stehen. Ihre blonden Locken springen auf und ab, während sie fast schon im Laufschritt zu mir kommt. Sie streicht sich ihr Habit zurecht, bevor sie sich neben mich auf die karge Holzbank setzt.
Im perfekten Timing durchdringt das mächtige Geräusch der Orgel die große Halle. Die energetischen Töne hören sich an wie ein ganzes Orchester mit mehreren hundert Leuten. Dieses Instrument spielen zu können, verlangt eine Menge an Training und Erfahrung. Unser Organist hat mir schon das ein oder andere Mal beibringen wollen, wie man es bedient. Bis auf ein paar zusammenhangslose Töne habe ich allerdings nichts zustande bekommen. Wir alle bewundern ihn für sein perfektes Spiel; Woche für Woche ist es immer wieder etwas Neues, obwohl wir es schon so oft gehört haben.
„Wie fandest du mich, Pater?" Die kleine, blondhaarige Frau hält sich eine Hand vor den Mund, während sie in meine Richtung flüstert. Sie ist sehr bedacht darauf, dass unsere Gemeindemitglieder sie während des Orgelspiels nicht sprechen sehen. Diese Tatsache bringt mich zum Schmunzeln, sie möchte niemals, dass auch nur der Hauch eines falschen Lichtes auf ihr liegt. Ich forme mit meinen Lippen ein stummes „perfekt", bevor ich mich bemühe, meine Gesichtszüge wieder vollkommen zu entspannen.
Die letzten kraftvollen Noten hallen von den Wänden, als Schwester Lahela sich wieder erhebt. Mit einem Lächeln auf den Lippen begibt sie sich wieder zu dem Pult, an dem sie vor wenigen Minuten die Eröffnungsrede gehalten hat. „Jesus, Herr, Du Menschgewordener, wenn alles fließt und so vieles vergeht, sei Du mir Fels, auf dem ich stehen kann. Wenn alles bebt und die Welt zum unsicheren Ort wird, sei Du mir Grund, der unerschütterlich trägt." Behutsam faltet sie ihre Hände zusammen und legt den Kopf in den Nacken. Ich habe mich die ganze Zeit schon gefragt, welches Zitat sie sich für den heutigen Tag aussucht. Aber sie hat den Nagel perfekt auf den Kopf getroffen.
„Nun wird sich unser Priester dem Thema des heutigen Tages widmen. Doch vorher möchte ich mich noch einmal ganz öffentlich bei ihm bedanken." Schwester Lahela dreht sich in meine Richtung und legt ihre Hände symbolisch auf ihr Herz. „Ich bin Ihnen so dankbar für diese Chance und in erster Linie für Ihr Vertrauen. Es bedeutet mir wirklich die Welt. Ich hoffe, ich habe Sie nicht enttäuscht und habe das Beste daraus gemacht. Danke, Pater Lyle."
Das ist mein Stichwort. Ich erwidere ihr Lächeln und erhebe mich nun ebenfalls von der kleinen Holzbank. „Schwester Lahela, ich muss mich bei Ihnen bedanken. Sie haben das wirklich zu meiner vollsten Zufriedenheit erledigt. Und ich denke, ich spreche nicht nur für mich, sondern für alle hier in diesem Raum." Ein einstimmiges Nicken zieht sich durch die Reihen unserer Gemeindemitglieder. Freudestrahlend tritt die blondhaarige Frau beiseite und ich nehme ihren Platz ein.
„Bevor ich zum Thema des heutigen Tages komme, spreche ich ein Gebet aus. Nehmen Sie daran teil und wiederholen Sie die Worte gern in Ihrem Kopf." Ich schließe meine Augen und lege meinen Kopf etwas in den Nacken. „Mein Vater, ich überlasse mich dir; mach mit mir, was dir gefällt! Was du auch mit mir tun magst, ich danke dir. Zu allem bin ich bereit, alles nehme ich an. Wenn nur dein Wille sich an mir erfüllt und an allen deinen Geschöpfen, so ersehne ich weiter nichts, mein Gott. In deine Hände lege ich meine Seele. Ich gebe sie dir, mein Gott, mit der ganzen Liebe meines Herzens, weil ich dich liebe und weil diese Liebe mich treibt, mich dir hinzugeben, mich in deine Hände zu legen, ohne Maß, mit einem grenzenlosen Vertrauen. Denn du bist mein Vater."
Ich öffne meine Augen und schau in die entspannten Gesichter der Gemeindemitglieder. Jeder betet auf seine Art und Weise; manche haben ihre Hände verschränkt, andere einfach ihre Augen verschlossen und wieder andere sitzen einfach nur da und bewegen stumm ihren Mund. Ich warte noch einen Augenblick, bevor ich wieder anfange zu sprechen. Ich möchte jedem die Zeit lassen, die er für sein Gebet benötigt.
„Kommen wir jetzt aber zum eigentlichen Thema des Tages. Schwester Lahela hat es vorhin schon erwähnt, es geht um unser weitläufiges Angebot für bedürftige Menschen. In den letzten Jahren wurde das Leid der Menschen immer größer. Der Hass, die sozialen Medien, die Regierung, die Inflation und die eigenen Gedanken bringen Menschen auf die Straße. Sie verlieren ihre Häuser, ihre Familien und ihre Arbeit."
Ich trete von dem Pult herab und laufe zwischen den hölzernen Sitzgelegenheiten, den breiten Gang einmal nach hinten. „Vor drei Monaten haben wir das Projekt das St. Vincent gegen die Armut ins Leben gerufen. Wir haben zahlreiche Spenden von Gemeindemitgliedern und auch von Menschen erhalten, die nicht zu unserer Gemeinde gehören. Mit diesen Geldern konnten zwei Unterkünfte für bedürftige Menschen errichtet werden. Diese Unterkünfte wurden auch schon in Anspruch genommen und die Menschen, welche uns dort beiwohnen, sind mehr als nur dankbar. Das ist allerdings nicht das einzige, jeden Tag verteilen wir eine warme Speise an Brüder und Schwestern, die sich diese nicht leisten können."
Ein Applaus und aufgeregtes Getuschel zieht sich durch die Reihen. „Außerdem haben wir unsere Zeiten zum Beichten weiter ausgebaut", sage ich mit lauter Stimme, um die anderen zu übertönen. „Der Ansturm ist in letzter Zeit fast um das Doppelte gewachsen. Unsere Gemeinde... Unsere Familie vergrößert sich von Woche zu Woche und das macht mich unglaublich stolz. Es zeigt mir, dass wir einfach alles richtig machen."
. . .
„Unsere fleißigen Brüder und Schwestern haben frisch gebackenes Brot und selbst gemachten Traubensaft im Gemeindehaus bereitgestellt. Jeder Anwesende ist herzlich dazu eingeladen und ich würde mich freuen, wenn wir uns drüben alle wiedersehen und gemeinsam essen würden. Ich stehe Ihnen dann natürlich auch für sämtliche Fragen zu Verfügung. Scheuen Sie sich nicht auf mich zu zukommen."
Jeden Sonntag gibt es in unserer Gemeinde ein gemeinsames Abendmahl. In dieser Hinsicht unterscheiden wir uns von anderen Kirchen oder Klöstern. Viele Gemeinden vollziehen ein Abendmahl nur einmal im Monat wenn nicht sogar noch seltener. Meiner Meinung nach ist das wunderbar, um den Zusammenhalt in der Gemeinde zu stärken. Hier kommen alle Mitglieder noch einmal zusammen und können sich unterhalten, auch über private Dinge und Lasten, die sie mit sich herum tragen.
„Sie sind hier wirklich ein Priester?", entgegnet mir eine ältere Dame und bleibt vor mir stehen. „Sie wirken so jung auf mich und dazu noch so gutaussehend. Aber das wissen Sie vermutlich."
Ich lege meine Hand auf die Schulter der grauhaarigen Frau und lächel sie liebevoll an. „Sie sind doch auch noch nicht so alt, und Sie sind gutaussehend und noch dazu befinden Sie sich unsere Gemeinde. Im Großen und Ganzen unterscheiden wir uns also gar nicht wirklich."
Ihre dunklen Augen beginnen zu strahlen und sie legt ihre Hand auf meine. Dass wir uns in einer Sache vermutlich sogar ganz gewaltig unterscheiden, lasse ich außen vor. „Aber verraten Sie mir ihr Alter?" Ihre Augen werden groß, diese Sache interessiert sie wirklich. Sie ist allerdings nicht die einzige, diese Frage bin ich schon gewohnt und sie wundert mich nicht mehr.
„Ich bin 24, also kaum jünger als Sie", antworte ich zwinkernd. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie hinter ihr ein Junge nervös auf und ab geht. Er hat sich die graue Kapuze über den Kopf gezogen und beide Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben. „Sehen wir uns beim Abendmahl?"
Kleine Lachfältchen bilden sich um die Augen der älteren Dame. Sie beginnt eifrig zu nicken und murmelt etwas vor sich hin. Ich bilde mir ein, ein; „so charmant" von ihr auszumachen. Ich sehe sie hier zum ersten Mal, und ganz offensichtlich scheint sie sich vom ersten Augenblick an wohl bei uns zu fühlen. Nachdem sie sich von mir weg bewegt und sich ins Gemeindehaus begibt, kommt der Junge mit dem grauen Kapuzenpullover auf mich zu.
„Kann ich Ihnen helfen?", frage ich ihn direkt. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er schon volljährig ist, deshalb sieze ich ihn. Er wirkt irgendwie verloren auf mich, fast schon hilflos. Vielleicht bilde ich mir das Ganze auch nur ein, aber meine Menschenkenntnis hat mich bis jetzt noch nicht im Stich gelassen.
Er greift nach seiner Kapuze und zieht sie sich vom Kopf. Zum Vorschein kommen braune Locken und ein blasses, irgendwie krank wirkendes Gesicht. Seine Wangen sind eingefallen, er hat dunkle Augenringe und eine aufgeplatzte Lippe. Vielleicht ist er also wirklich krank, es steht mir allerdings nicht zu darüber zu urteilen.
Er räuspert sich, bevor er anfängt zu sprechen. „Sie sind der Priester, richtig?", fragt er mit zittriger Stimme. Er hebt seinen Blick kein einziges Mal vom Boden ab, während er spricht.
„Ja, der bin ich." - „Dann kann ich mich Ihnen anvertrauen?" sprudelt es jetzt regelrecht aus ihm heraus. Zum ersten Mal hebt er seinen Blick und schaut mir direkt in mein Gesicht. Seine Augen sind grau, sie erinnern mich auf eine gewisse Weise an Stahl, welches man gerade zum schmelzen bringt. Ich habe graue Iriden schon in sämtlichen Kombinationen gesehen, aber nicht in so einer puren Form. „Ich... Ich bin 18, ich brauche also keine Erlaubnis von meinen Eltern oder so, falls Sie das benötigen."
„Nein, nein das benötige ich sowieso nicht." Ich erwische mich selbst dabei, wie ich mich von der Person vor mir ablenken lassen habe, so etwas darf nicht vorkommen. Ich muss unvoreingenommen an Menschen herangehen, immer. „Sie... darf ich Du sagen?"
Der Junge vor mir nickt und ich kann dabei regelrecht erkennen, wie die Last von seinen Schultern ein Stück abfällt. „Du kannst dich mir anvertrauen, was liegt dir auf der Seele?"
Mit weit aufgerissenen Augen schaut er direkt durch mich hindurch, so fühlt es sich in diesem Moment an. „Ich muss etwas beichten und Sie... Nein du, du musst mir vergeben. Dafür bist du da oder? Du vergibst mir meine Sünden, egal wie schlimm sie sind?"
Wenn ich mich recht erinnere, dann habe ich ihn noch nie zuvor irgendwo gesehen und er wirkt auch nicht so auf mich, als hätte er viel mit dem katholischen Glauben zu tun. Seine Aussagen und Fragen bestärken mich in meiner Annahme. Ihm jetzt zu erklären, dass Gott ihm seine Sünden vergibt und nicht ich, würde in dieser Situation nicht viel ausmachen, er ist viel zu aufgewühlt.
„Du kannst dich mir anvertrauen, ich unterliege einer strengen Schweigepflicht und werde das Beichtgeheimnis niemals an andere weitergeben. Aber wie wäre es, wenn wir erstmal nach drüben gehen und etwas essen? Ich glaube du kannst etwas Ablenkung gut gebrauchen." - „Mein Name ist übrigens Silas."
„Okay, Silas", entgegne ich ihm lächelnd. „Dann kommt bitte mit."
. . .
Gedankenverloren kaue ich seit einigen Minuten an einem einzigen Stück Brot herum. Meine Gedanken dürfen keinesfalls einen falschen Weg einschlagen, nicht schon wieder. Nicht heute, nach so einem erfolgreichen Tag. Auch wenn es mir schwerfällt, diese sündhaften Gedankengänge müssen ganz weit weggeschoben werden. Ich habe es so oft trainiert, das darf nicht zu Nichte gemacht werden.
„Pater Lyle, da bist du ja." Schwester Lahela stellt sich genau vor mich und zwingt mich somit, meinen Blick von dem Grauäugigen zu lösen. „Schmeckt dir das Brot etwa nicht?"
„Doch! Sehr gut sogar, ich lass den heutigen Tag nur Revue passieren." - „Er war total erfolgreich, nicht wahr? So viele Gläubige, so viele neue Brüder und Schwestern, das ist... wow." Die blondhaarige Nonne kommt gar nicht mehr aus dem Staunen heraus. Für sie ist der heutige Tag wie eine Liebesbotschaft. Das ist er für uns alle. Ein Liebesbotschaft vom heiligen Vater an uns. Auch wenn wir manchmal verzweifelt sind oder nicht weiter wissen, Gott führt uns immer zurück auf den richtigen Weg. Er weiß, was richtig für uns ist und er weiß, wann wir den nächsten Schritt machen müssen. So wie sie sich jetzt fühlt, so habe ich mich auch schon oft gefühlt. Ich kann mir vorstellen, dass das Glück sie richtig überrollen muss.
„Ich glaube, wir können die Beichtstunde heute ausfallen lassen. Alle sind glücklich und zufrieden und niemand möchte sich an dem heutigen Tag seinen Sünden stellen. Morgen ist ein neuer Tag."
Auch wenn sie recht hat, kann ich ihr nicht zustimmen. Mindestens eine Beichte werde ich heute abnehmen, die des Jungen. Ich weiß noch nicht genau, was mich erwarten wird und kann mir auch noch nicht vorstellen, in welche Richtung es geht.
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