Klarheit
Ich lasse mich zurück auf den Stuhl fallen und spüre, wie mein Herzschlag durch meinen ganzen Körper hämmert. Ein Zittern überkommt mich, als ich versuche meine Gedanken zu ordnen, aber sie gleiten mir immer wieder durch die Finger, wirbeln wild durcheinander. Die einzelnen Details, die Erinnerungen an Silas treten so grell und scharf hervor, dass ich mich frage, wie ich sie je übersehen konnte.
Ich schließe die Augen. Die Bilder von unserem ersten Treffen kehren zurück. Silas im Beichtraum. Ich weiß noch, wie ich mir damals dachte, dass dieser Junge am Boden zerstört sein müsse. Heute... sehe ich es mit anderen Augen. Vielleicht war er zerrissen – oder vielleicht war das alles nur eine Art Maske.
Ich erinnere mich daran, wie er mir damals im Beichtstuhl gegenübersaß, wie ich ihm das Kreuzzeichen zeigte. „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes". Worte, die ich so oft ausgesprochen habe, sie klangen seltsam in seiner unsicheren Stimme. Ein Ausdruck, der uns irgendwie verbunden hat, für den ich mir eingebildet habe, dass es unser Ding sei. War es das etwa auch für ihn?
Silas kennt keine anderen Gebete. Nur diese Worte hat er immer wieder benutzt. Nur dieser Satz, wie ein Mantra, das ihn immer mit mir verbunden hat.
Meine Augen wandern über die Tischplatte, auf der die Fotos liegen. Wie habe ich das so lange übersehen können? Plötzlich fügt sich alles zusammen. Ein Bild das ich nicht ertragen kann, aber auch ich nicht mehr zerreißen kann. Die Symbole an den Wänden? Ein wenig makabrer Schmuck, um das Chaos noch finsterer wirken zu lassen. Doch die Worte... die Worte sind ernst gemeint.
Ich öffne meine Augen und starre ins Nichts. Silas ein Mörder? Ich weiß, dass er seine Eltern getötet hat. Aber... aus welchem Grund all die anderen? Und... was wollte er mir damit sagen? Was soll das alles bedeuten?
Ein Teil von mir weigert sich, diesen Gedanken zu akzeptieren. Ich denke an die Momente, in denen er mich auf eine seltsame Art ansah, wie wenn er in mich hineinsehen könnte. Mir wird schwindelig, als mir klar wird, wie wenig ich tatsächlich über ihn weiß. Er hat mir so viel erzählt und gleichzeitig doch nichts. All die vertrauten Momente, all die geteilten Geheimnisse, und doch... was weiß ich wirklich über ihn? Seine Vergangenheit liegt im Dunkeln, und ich habe nie nachgefragt. Ich dachte, ich könnte ihn gut einschätzen... aber vielleicht sah ich immer nur das, was er wollte.
Eine Welle der Übelkeit überkommt mich. Ich erinnere mich an die Nähe zwischen uns, an die Küsse, die Blicke. Ein inneres Kribbeln, was ich damals schon nicht verstanden habe, regt sich wieder in mir. Was ist das? Es wäre vernünftig, jetzt Abstand zu suchen, alles Detective Andrew zu erzählen. Doch da ist keine Angst in mir, nur eine seltsame Anziehung, die ich selbst nicht erklären kann.
Mit zitternden Händen streiche ich mir durch die Haare und presse die Lippen aufeinander. Ich weiß, dass das hier nicht normal ist. Mein Verstand sagt mir, dass ich Angst haben müsste. Doch in meinem Innersten empfinde ich etwas anderes. Kein Fluchtimpuls, keine Furcht. Nur eine Art dunkle Faszination, die sich mir in den Weg stellt.
Zum ersten Mal wird mir bewusst, dass mein Kopf nicht gesund ist. Dieser Gedanke an das Verbotene, das Dunkle, reizt mich, auch wenn ich das nicht zulassen darf. Warum finde ich diese Vorstellung so... anziehend? Warum finde ich Silas nach alldem so anziehend?
Es ist Silas. Ich weiß es jetzt mit fast erschreckender Klarheit.
Ein plötzliches Klopfen an der Tür reißt mich aus meinen Gedanken, und seine vertraute Stimme dringt herein. Silas ist hier. Schnell zwinge ich mich dazu meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bekommen und antworte fest: „Komm rein."
Die Tür öffnet sich, und er tritt mit einem Tablett in den Raum. Zwei Tassen und ein Teller mit Keksen stehen darauf, und er sieht mich fragend an. „Oh, wo ist Detective Andrew?" sagt er und schaut sich suchend um. „Schwester Lahela hat mich gebeten, euch das hier vorbeizubringen."
„Andrew ist schon wieder weg," antworte ich ruhig. „Setz dich ruhig zu mir."
Er setzt sich sofort neben mich und greift nach einem der Kekse, ohne die auf dem Tisch verstreuten Fotos auch nur eines Blickes zu würdigen. Er ignoriert sie als wären sie gar nicht da.
„Du warst heute nicht beim Gottesdienst," stelle ich nüchtern fest und suche dabei in seinem Gesicht nach einer Reaktion. Wie sollte er auch, wenn er heute jemanden ermordet hat?
„Nein, ich hab mir die Stadt angesehen." Dann hebt er den Kopf und fragt: „Wo warst du vorhin?"
„Andrew war hier," sage ich, bemüht gleichgültig zu klingen. „Es gibt einen neuen Mordfall."
Für einen Moment reagiert Silas nicht. Er kaut seinen Keks zu Ende, nimmt einen Schluck aus der Tasse, und dann erst richtet sich sein Blick auf mich, erschrocken und doch kontrolliert. Da ist eine kleine Verzögerung in seiner Reaktion – nur wenige Sekunden, aber mir entgeht sie nicht.
„Oh Gott... Wieso hast du mir das nicht gleich gesagt?" Seine Stimme klingt betroffen, und er legt seine Hand auf meine. „Wie geht es dir damit?"
Er ist ein Schauspieler. Ich halte seinen Blick und zwinge mich, ruhig zu bleiben.
„Die anderen Morde waren schlimmer," sage ich kühl und lehne mich zurück. „Dieser hier... das war einfach nur ein Mord."
Seine Augen blitzen kurz auf, und er beugt sich etwas vor. „Wirklich? Was meinst du damit?"
Da ist eine seltsame Neugier in seinem Blick, fast so, als würde ich ihn mit meiner Bemerkung herausfordern. Vielleicht ist das genau der Punkt, vielleicht will er gar nicht, dass die Morde unbedeutend wirken. Vielleicht will er, dass sie bedeutsam und kunstvoll erscheinen.
„Naja," sage ich, „diesmal gab es keine ausgefallene Inszenierung. Einfach nur... ein Schnitt. Irgendwie langweilig." Ich sehe ihn dabei genau an, in der Hoffnung, eine Reaktion auf diese Worte zu erkennen.
Doch Silas bleibt still, seine Miene ungerührt, und er nippt an seinem Tee. Seine Augen schweifen kurz ab, und für einen Moment liegt ein undeutbarer Ausdruck in seinem Gesicht. Dann wird sein Blick sanft, und er legt wieder seine Hand auf meine, seine Stimme klingt fast mitleidig. „Es tut mir leid, dass du das wieder durchmachen musstest."
„Schon gut." Ich halte seine Hand nicht zurück, sondern beobachte ihn aufmerksam, achte auf jedes kleine Zucken in seinem Gesicht. Er wirkt nachdenklich.
„Alles okay bei dir?" fragt er schließlich und runzelt seine Stirn. „Habt ihr... irgendeinen Anhaltspunkt? Verdächtige?"
Ich bleibe still und suche nach einer Antwort, die mir gleichzeitig so einfach und so schwer fällt. Aber plötzlich... ein leichtes Zucken seiner Mundwinkel, kaum mehr als eine halbe Sekunde. Ein Hauch eines Grinsens, der so schnell verschwindet, wie er kam. Doch es reicht. Er weiß, dass ich es weiß. Und er genießt diesen Moment, diese unausgesprochene Wahrheit.
„Ich werde jetzt den anderen im Garten helfen," sagt er schließlich und erhebt sich. „Du hast doch nichts dagegen, oder?"
Ich spüre, dass er mich testet. Er will wissen, ob ich ihn loslasse, ob ich ihm noch vertraue. Langsam nicke ich. „Natürlich. Geh ruhig, sie freuen sich bestimmt, wenn du mithilfst. Ich muss noch eine Taufe für heute Abend vorbereiten."
Er nickt und verabschiedet sich mit einem Lächeln auf den Lippen. Er war es wirklich.
• • •
Mit weichen Knien gehe ich über den Innenhof und lasse meinen Blick über die Gruppen von Leuten schweifen, ich halte Ausschau nach Silas. Mein Kopf ist voll von dem, was ich vorhin entdeckt und herausgefunden habe. Ich bin mir sicher, dass er weiß, dass ich es herausgefunden habe. Dass ich jetzt verstehe, dass er hinter all dem steckt. Aber er macht sich keine Mühe, irgendetwas zu verbergen... im Gegenteil.
Da entdecke ich ihn. Silas lacht mit Schwester Lahela, die ihm gerade spielerisch einen Haufen Laub ins Gesicht wirft. Er weicht aus und versucht, sich zu rächen, sein Lachen hallt zwischen den alten Mauern wider, es klingt wie immer so frei und unbeschwert. Er wirkt so unschuldig, so völlig normal. Wie kann jemand, der so wirkt, zu etwas so Grauenvollem fähig sein?
Ich gehe zu den beiden hinüber. „Na, ihr beiden," sage ich und wundere mich selbst über die Gelassenheit in meiner Stimme. „Sieht so aus, als würdet ihr euch amüsieren."
Silas schaut mich an, ein Hauch von Verwirrung flackert in seinen Augen, den er schnell mit einem breiten Grinsen überspielt. „Ja, Laub rechen kann überraschend unterhaltsam sein," sagt er ironisch und schleudert mit dem Fuß noch mehr Laub in die Luft. „Außerdem sieht der Innenhof wirklich schön aus."
Ich nicke nur, beobachte ihn aufmerksam und versuche, seine Gedanken zu verstehen. Ich habe so viele Fragen, will so vieles wissen. Aber könnte ich von ihm jemals die Wahrheit erfahren?
„Hilfst du mit?" fragt Schwester Lahela, die mir mit einem fröhlichen Lächeln den Rechen hinhält. Ihre unbeschwerte Art wirkt plötzlich fast surreal in all dem, was ich jetzt weiß.
„Warum nicht?" antworte ich, greife nach dem Rechen und kehre das Laub zusammen. Vielleicht kann ich dabei etwas herausfinden. Vielleicht öffnet sich Silas mir gegenüber, oder ich erkenne zumindest etwas in seinem Verhalten.
„Detective Andrew ist schon weg?" fragt Schwester Lahela und sieht mich neugierig an.
Ich nicke und schaue sie an. „Ja, er ist wieder gegangen. Wir waren heute noch bei einem weiteren Tatort."
Ihre Augen weiten sich, und ein besorgter Ausdruck huscht über ihr Gesicht. „Oh... Das wusste ich gar nicht. Aber lass uns über etwas anderes sprechen, das ist wirklich schrecklich." Sie wechselt das Thema schnell, und ich verstehe es, über so etwas will niemand gern sprechen. Vermutlich ist das alles auch für sie schwer zu verarbeiten. „Hast du heute noch eine Taufe?"
„Nein, heute habe ich keine Taufen mehr," sage ich. „Aber morgen Mittag ist eine geplant. Ach, und morgen wird Pater Ludwig hier sein und den Gottesdienst übernehmen. Pater Ludwig war vor meiner Zeit hier der Priester", sage ich ab Silas gerichtet.
„Das klingt spannend, ich würde ihn gern kennenlernen," sagt Silas sofort, ohne den geringsten Anflug von Nervosität. Kein Zögern, kein Flackern in seinen Augen. Ich frage mich, ob er wirklich so überzeugt davon ist, dass ich ihn nicht verraten werde. Ist sein Vertrauen in mich so groß?
Ich nicke und fahre fort das Laub zusammenzurechen, während Silas neben mir steht, wie immer charmant und aufmerksam, ohne die leiseste Spur von Unsicherheit. Als wäre nichts geschehen. Als hätte ich keine Ahnung von seiner anderen Seite.
„Pater Ludwig war ein guter Mann," meint Schwester Lahela und sieht mich mit einem freundlichen Lächeln an. „Er hat mir viel beigebracht, ich werde ihn immer in Ehren halten. Aber ich bin auch froh, dass du jetzt hier bist. Du bringst neuen Schwung ins Kloster."
„Das ist schön zu hören," sage ich leise. „Ich bin wirklich froh, hier so willkommen geheißen worden zu sein."
„Alle hier sind froh," fügt Silas hinzu, sein Ton wirkt leicht und vertraut. „Jeder hat hier nur Gutes über dich zu sagen."
Ich schaue ihn an, und in mir wächst ein unbeschreibliches Gefühl; ein absurder Widerspruch zwischen dem Wissen um seine Taten und den Worten, die er so überzeugend ausspricht.
Nach einem Moment hebt Silas den Blick und sagt beiläufig: „Ich muss noch ein wichtiges Telefonat führen. Sehen wir uns später?" Er sagt es beiläufig, wie eine harmlose Frage, doch in mir zieht sich alles zusammen.
Ich nicke nur, ein unbestimmtes Gefühl steigt in mir auf. Ich weiß nicht, wo wir uns später sehen werden oder was er vorhat. Aber ich fühle, dass es mehr ist als nur eine einfache Verabschiedung.
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