Etwas Ablenkung

Mit zitternden Fingern halte ich die Fotos in der Hand, die mir Detective Andrew in den letzten Tagen zugeschickt hat. Jeder Blick darauf bringt das Entsetzen wieder zurück, das ich an diesem Ort verspürt habe. Wer könnte so etwas tun? Welcher Psychopath steckt hinter einer Tat, die nicht nur den Körper zerstört, sondern auch die Seele entweiht?

Jeder Mord ist grausam, aber das hier... das war kein gewöhnlicher Mord. Das war eine Inszenierung. Jede Bewegung des Täters, jede Platzierung der Opfer schien absichtlich und durchdacht, als wäre es Teil eines makabren Rituals.

Die Kirche ist auf diesen Fall aufmerksam geworden, natürlich. Solche Symbole, solche Taten... Doch für mich gibt es jetzt nur eines: Sicherheit. Die Sicherheit des Klosters hat oberste Priorität. Detective Andrew hat uns angewiesen, uns zu bewaffnen. Waffen im Kloster – das allein fühlt sich falsch an, widerspricht allem, was ich glaube. Und doch ist es notwendig. Wer auch immer diesen Mord begangen hat, ist noch da draußen.

Die Erinnerung an den Tatort überfällt mich immer wieder, wie ein Sturm, den ich nicht abwehren kann. Die Bilder brennen sich in mein Bewusstsein. Der Geruch... Mein Gott, dieser Geruch... Fäulnis, Tod, und etwas Schärferes, das wie Säure in der Nase war. Es hat mich bis in meine Träume verfolgt. Seit diesem Tag kann ich kein Fleisch mehr anrühren. Jeder Bissen erinnert mich an das, was ich dort gesehen habe.

Ein plötzliches Klopfen an der Tür reißt mich aus meinen Gedanken. Ich zucke zusammen, mein Herzschlag beschleunigt sich sofort, als wäre ich für einen Moment zurück in diesem Haus, umgeben von Blut und Stille. Für einen winzigen Augenblick ergreift mich die Angst; was, wenn das Böse, das ich dort gespürt habe, mich gefunden hat?

Doch dann höre ich die vertraute Stimme durch die Tür dringen. „Lyle? Bist du da?" Die Worte durchbrechen die Panik, die für einen Moment in mir aufgestiegen war. Ich atme tief ein. Ich bin hier, im Kloster.

„Die Tür ist nicht verschlossen. Komm ruhig rein."

Der Junge mit den grauen Augen öffnet die Tür vorsichtig einen Spalt breit und steckt seinen Kopf durch den Türrahmen. „Hey," sagt er leise, bevor er den Raum betritt. Sein Blick mustert mich kurz, als wollte er prüfen, ob es mir gut geht. „Du bist nach dem Abendessen so plötzlich verschwunden... Ich dachte, ich schau mal nach dir."

„Ja," entgegne ich mit einem tiefen Seufzer. „Dieser Fall lässt mich einfach nicht los. Während des Essens kam mir noch ein wichtiger Gedanke, deswegen musste ich schnell weg."

Silas kommt näher, setzt sich zögernd neben mich auf das Bett. Seine Augen wandern zu den Fotos, die immer noch vor mir liegen. Er greift danach, doch sobald er sie in den Händen hält entgleitet sein Gesicht.

„Mein Gott...", flüstert er, als er die Bilder der verstümmelten Körper sieht. Sein Blick weitet sich, und für einen Moment sieht es aus, als würde jede Farbe aus seinem Gesicht verschwinden. „Ich dachte, ich hätte eine ungefähre Vorstellung, nachdem du es mir erzählt hast. Aber das... das ist unvorstellbar."

Er legt die Fotos zitternd zurück, als wären sie verflucht.

„Es verfolgt mich jede Nacht," sage ich leise, mehr zu mir selbst als zu ihm. „Ich träume ständig davon... als ob mein Verstand nicht loslassen kann."

Ein bedrückendes Schweigen breitet sich im Raum aus. In Gedanken frage ich mich, ob ich jemals wieder normal träumen werde. Ob mein Gehirn sich von diesem Trauma erholen kann. Es fühlt sich an, als hätte sich das, was ich erlebt habe, tief in mein Bewusstsein gegraben.

„Ich glaube du brauchst ein wenig Abstand von dem allem hier", sagt Silas und lächelt mich aufmunternd an. „Du befasst dich jeden Tag damit, lass uns dich auf andere Gedanken bringen."

„Wie stellst du dir das vor?", frage ich ihn. „Ich hab hier etwas wichtiges zu erledigen."

„Lyle, du musst mal raus. Ehrlich, du vergräbst dich noch komplett hier im Kloster." Silas steht plötzlich auf, verschränkt die Arme und grinst mich an. Was für einen Einfall er jetzt wohl hat.

„Ich kann nicht einfach... rausgehen," antworte ich. „Dieser Fall... es gibt noch so viel zu tun. Ich muss..."

„Was du musst, ist dir eine Pause gönnen," unterbricht Silas mich. „Der Fall wird dir nicht weglaufen, aber wenn du so weitermachst, wirst du daran kaputtgehen. Du brauchst mal was anderes, auch wenn es nur für ein paar Stunden ist."

Ich schließe die Augen für einen Moment, und die Müdigkeit, die sich in den letzten Tagen in mir angesammelt hat, wird plötzlich greifbar. Silas hat nicht ganz unrecht, aber es fühlt sich falsch an, einfach abzuschalten, während... während da draußen ein Mörder herumläuft, der es offensichtlich auf Christen abgesehen hat.

„Ich bin Priester, Silas. Ich habe Verpflichtungen, und es gibt Dinge, die nicht warten können," sage ich, obwohl mir die Worte selbst schwerfallen.

„Verpflichtungen, klar," gibt er zurück, kommt ein paar Schritte auf mich zu und lässt sich wieder auf das Bett fallen. „Aber das heißt nicht, dass du nicht auch mal den Kopf frei bekommen darfst. Wir gehen ins Kino. Heute Abend. 'Der Buchspazierer'. Du kannst den ganzen Tag vor dich hinstarren, aber das wird dich auch nicht weiterbringen."

Ich sehe nach oben und treffe seinen Blick. Da ist etwas in seinen Augen, das mich kurz aus der Fassung bringt. „Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Ein Kino? Ich war seit Jahren nicht mehr in einem... Kino."

„Genau deshalb," sagt Silas triumphierend, als hätte er mich bereits überzeugt. „Es wird dir gut tun. Und außerdem...", er lehnt sich vor, hat ein leichtes Grinsen auf den Lippen, „mit mir wird es dir bestimmt nicht langweilig."

Ich spüre, wie sich meine Wangen leicht erhitzen, das kann doch jetzt nicht wahr sein. „Ich habe wirklich noch viel zu tun, Silas," sage ich, diesmal schwächer.

„Das läuft dir doch nicht weg." Seine Stimme wird sanft, fast flüsternd. „Du musst auch mal an dich denken, Lyle. Der Fall hat dich genug mitgenommen."

Ich kämpfe innerlich mit mir, aber schließlich nicke ich. „Okay. Aber nur für ein paar Stunden."

Silas' Augen leuchten auf, als hätte er gerade den größten Triumph errungen. „Perfekt!"

. . .

Im Kino sitze ich neben Silas, der sich mit einer riesigen Tüte Popcorn und einer Cola eingedeckt hat, als wäre das der aufregendste Abend der Woche. Die Lichter gehen aus, und der Film beginnt. Während die ersten lustigen Szenen über die Leinwand flimmern, höre ich Silas leise lachen und sehe aus dem Augenwinkel, wie er genüsslich in sein Popcorn greift.

Es ist merkwürdig, befremdlich sogar. Das laute Knistern des Popcorns, das Kichern aus den Reihen um uns herum, die flimmernden Bilder. Solche Ablenkungen gab es in meinem Leben selten. Und jetzt, wo ich hier sitze, fühlt es sich fast... falsch an. Während Silas lacht, huscht ein Lächeln über mein Gesicht, aber nicht wegen des Films, sondern weil ich sehe, wie viel Spaß er hat. Es ist fast süß, wie er sich amüsiert, so unbeschwert und sorglos, als ob die Welt draußen nicht existiert.

Für mich fühlt sich das alles ziemlich surreal an. Ich kann um ehrlich zu sein auch nicht ganz verstehen, warum man sich eine Komödie im Kino anschauen möchte. Vielleicht ist mein Denken auch einfach anders.

Mehrmals sehe ich, wie Silas mir im Dunkeln Blicke zuwirft, immer mit einem leichten Grinsen. Dann lehnt er sich einmal etwas näher zu mir, so dass ich die Wärme seines Körpers spüren kann. „Na, amüsierst du dich?", fragt er flüsternd.

Ich schlucke und spüre, wie mein Herz einen Moment schneller schlägt. „Ja, ja, es ist... nett," antworte ich und versuche, den leichten Anflug von Nervosität zu überspielen. Das gibt es doch nicht. Wie kann mich etwas so dermaßen aus der Fassung bringen? Immerhin werden meine Gedanken immer wieder von dem Film auf der Leinwand oder dem Gelächter um uns herum abgelenkt.

Trotzdem erwische ich mich dabei, öfter auf Silas zu achten als auf die Leinwand. Seine Unbeschwertheit, sein Lachen... es steckt an. Und obwohl ich mich innerlich ermahne, die Grenze nicht zu überschreiten, kann ich nicht anders, als zu bemerken, wie gut ihm das Lachen steht.

Ich versuche mich auf den Film zu konzentrieren, das versuche ich wirklich, aber meine Gedanken schweifen immer wieder ab. Die ungewohnte Nähe, seine spielerischen Berührungen und dieses Grinsen, das er mir immer wieder zuwirft, fordern meine Aufmerksamkeit viel stärker als die Handlung auf der Leinwand.

Als der Hauptcharakter im Film eine besonders absurde Situation meistert, bricht Silas in schallendes Gelächter aus und verschüttet dabei beinahe seine Cola. Da ist etwas Beruhigendes, beinahe Tröstliches in seiner Unbeschwertheit.

Ich sitze steif da und versuche, mich in meinem Sitz zu entspannen, aber die fremde Umgebung und die noch hinzukommende Erinnerung an den Fall, an die Dunkelheit, die ich jeden Tag bekämpfen muss, lassen mich nicht los. Silas scheint das zu spüren. In einer ruhigen Szene beugt er sich erneut zu mir. „Hey," flüstert er. „Du brauchst das wirklich, oder? Du siehst aus, als ob du gleich explodierst vor Anspannung."

Ich werfe ihm einen kurzen Blick zu und öffne den Mund, um etwas zu sagen, doch stattdessen kommt nur ein Seufzen. „Es ist... schwierig, das alles einfach hinter sich zu lassen."

Er grinst, greift nach meinem Arm und drückt ihn leicht. „Deswegen bin ich ja da. Damit du wenigstens für ein paar Stunden nicht nur Priester bist, sondern auch... Lyle."

Ich schlucke, spüre, wie die Spannung in meinem Körper nachlässt, wenn auch nur ein wenig. Silas hat diese Art, mich aus meiner Komfortzone zu holen, aber gleichzeitig gibt er mir das Gefühl, dass es in Ordnung ist, mich fallen zu lassen, zumindest für den Moment.

Als der Film schließlich endet und die Lichter wieder angehen, stehe ich auf, noch etwas unsicher auf den Beinen. Silas wirkt völlig entspannt, als wäre das hier das Natürlichste der Welt. Er streckt sich, nimmt die leere Popcorntüte und die fast geleerte Cola und grinst mich wieder an. „Siehst du? War doch gar nicht so schlimm."

„Es war... ungewohnt," gebe ich zu, während wir den Kinosaal verlassen.

Draußen ist mittlerweile die Nacht angebrochen, und die Luft ist kühl und klar. Silas atmet tief ein, dreht sich zu mir und fragt: „Wie wäre es mit einem Spaziergang? Noch ein bisschen frische Luft, bevor wir zurück ins Kloster gehen?"

Ich nicke nur, denn irgendetwas in mir fühlt sich plötzlich leichter an, als wäre der Druck der letzten Tage für einen Moment von meinen Schultern verschwunden. Wir beginnen, die Straßen entlang zu schlendern, und das leise Rauschen der Stadt um uns herum mischt sich mit unseren Schritten.

Silas geht locker neben mir her, seine Hände tief in den Taschen seiner Hose vergraben. „Der Film war nicht schlecht, oder? Ein bisschen albern, aber genau das Richtige, um den Kopf frei zu bekommen."

Ich lächle leicht. „Es war... angenehmer, als ich dachte. Du hattest recht. Eine Ablenkung tut gut."

„Natürlich hatte ich recht," sagt er und schiebt mich leicht mit seiner Schulter an. „Du kannst nicht immer nur über diesen Fall und deine Pflichten nachdenken."

Einige Minuten vergehen, und wir gehen schweigend nebeneinander her. Ich weiß das er Recht hat, aber diese Dinge sind nun mal sehr wichtig.

Der Wind streicht kühl durch die Straßen, aber es fühlt sich angenehm an. Schließlich bricht Silas die Stille. „Weißt du, Lyle, ich hab dich noch nie so... entspannt gesehen. Es steht dir."

Ich werfe ihm einen Seitenblick zu, unsicher, wie ich das verstehen soll. Seine Augen glitzern schelmisch im Licht der Straßenlaternen, und da ist wieder dieses Lächeln – dieses verspielte, flirtende Lächeln, das ich nicht ignorieren kann, auch wenn ich es versuche. Ich frage mich andauernd, was er damit wohl erreichen will.

„Ich bin... nicht sicher, was du meinst," sage ich langsam und versuche ruhig zu bleiben, doch mein Herz schlägt etwas schneller.

„Oh, ich denke, du weißt genau, was ich meine," entgegnet er und bleibt kurz stehen, um mir direkt in die Augen zu schauen. Für einen Moment bin ich wie erstarrt. Seine Worte, sein Blick; sie sind mehr als nur freundlich. Und obwohl ich es vermeiden sollte, merke ich, wie mich eine Mischung aus Unruhe und Neugierde erfasst.

Ich schüttele leicht den Kopf, lächle und gehe weiter. „Silas... du weißt, dass ich..."

„Ein Priester bist, ich weiß." Er lacht leise. „Ich mach ja nur Spaß." Doch da ist etwas in seinem Tonfall, das mich vermuten lässt, dass er es vielleicht nicht ganz so spaßig meint, wie er vorgibt. „Nein wirklich, ich will doch nur das du auch mal lachst."

Es ist sehr aufmerksam von ihm, sich so um mich zu sorgen. Ich kenne das auf diese Art und Weise gar nicht. Natürlich sind wir im Kloster für einander da und wenn es Probleme gibt, dann lösen wir sie gemeinsam. Aber ich weiß nicht wann sich das letzte Mal jemand so sehr um meine psychische Gesundheit gesorgt hat. Auch wenn wir uns noch nicht sehr lange kennen, fühle ich mich bei ihm irgendwie gut aufgehoben.

Silas' Blick wird wieder ernst. „Weißt du noch? Du wolltest mir vor ein paar Tagen erzählen, was das an deinem Rücken ist."

Er hat es nicht vergessen. Ich erinnere mich noch genau daran, wie er sich um die Wunden an meinem Rücken gekümmert hat und wir dann natürlich auch wissen wollte, was da passiert ist. In diesem Moment habe ich mich genauso umsorgt gefühlt wie jetzt auch. Ich war bereit es ihm zu erzählen. Dann wurden wir von dieser absurden Sache mit Aaron unterbrochen. Die darauf folgenden Tage war mein Kopf woanders, und ich hab die Sache ziemlich weit nach hinten geschoben.

„Ja", sage ich leise. „Ich hab noch nie mit jemanden darüber gesprochen. Ich glaube, es fällt mir ziemlich schwer."

„Das ist in Ordnung", sagt Silas lächelnd. „Wie wäre es, wenn wir zurück ins Kloster gehen und du mir dann davon erzählst?"

Das klingt nach einer guten Idee, denn hier draußen würde ich mich auf keinen Fall öffnen können. Für einen Moment überlege ich, ob wir uns auf eine der Bänke im Innenhof setzen. Doch diesen Gedanke schiebe ich schnell wieder beiseite, es hat die Schweigestunde begonnen und zudem möchte ich nicht, dass es irgendjemand hört.
„Ich kann dich noch auf dein Zimmer begleiten. Also, wenn es dir wirklich anhören willst..."

„Will ich", sagt er fest entschlossen. „Ich möchte dir jetzt auch helfen."

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