Ein Plan (teil zwei)

Silas' Handy beginnt zu vibrieren, gerade als wir ein paar Sachen zusammenpacken. Mittlerweile ist es fast schon dunkel und der Gedanke daran, bis zum Gottesdienst morgen früh wieder zurück sein zu müssen, macht mich nur noch nervöser. Wir tauschen einen kurzen Blick und ich nicke ihm zu. Während er den Anruf entgegennimmt, wird mir flau in der Magengegend und mein Herz schlägt schneller.

„Ja... okay... machen wir so... eine Stunde... bis gleich..." murmelt er ins Telefon. Dann steckt er das Smartphone zurück in seine Hosentasche und schaut mich vielsagend an. „Okay", sagt er leise. „Es ist alles vorbereitet. Wir können losfahren. Hast... du ein Auto?"

Ich nicke stumm. „Ja, draußen. Es ist schwarz, also ziemlich unauffällig."

Wir verlassen leise das Gebäude und gehen über den dunklen Innenhof zum Parkplatz. Mein Auto, ein moderner schwarzer Wagen, steht unter einem Baum, als ob er absichtlich im Schatten verborgen wäre. Ich sehe gerade alles, jede absolute Kleinigkeit, als ein Zeichen. Ich entriegle die Türen und wir steigen ein.

Die Fahrt dauert eine knappe Stunde und die Dunkelheit draußen legt sich wie ein Schleier um uns. Ich schalte das Radio ein, um die Stille etwas erträglicher zu machen und eine leise Melodie erfüllt den Wagen.

„Lyle..." beginnt Silas schließlich. „Bist du dir sicher, dass du das durchziehen willst? Ich meine... ich unterstütze dich, egal was kommt. Aber das... das ist eine Grenze die du nicht mehr rückgängig machen kannst."

Ich schlucke und halte den Blick auf die Straße gerichtet. „Ich weiß", sage ich ruhig. „Es ist eine Grenze, die schon vor langer Zeit überschritten wurde. Von ihm. Nicht von mir."

Silas schweigt einen Moment und nickt dann. „Du hast so viel durchgemacht und das hast du nicht verdient. Niemand verdient so etwas."

„Weißt du", sage ich mir brüchiger Stimme. „das Schlimmste ist... nicht das was er getan hat, sondern dass niemand etwas dagegen unternommen hat. Das ich allein war. Auch meine Mutter... sie hat nur weggesehen."

„Das macht sie genauso schuldig", murmelt Silas. Ich spüre die Wut in seiner Stimme und ich bemerke, wie sein Blick auf mir liegt, als ob er mir damit irgendwie Mut geben will.

Wir schweigen weiter, während der Song im Radio wechselt, es ist jetzt eine eher melancholische Melodie, welche zum düsteren Himmel draußen passt. „Wie fühlt es sich an sie wiederzusehen, nach all der Zeit?" fragt Silas schließlich.

„Ich weiß es nicht", sage ich leise. „Vielleicht fühlt es sich so an, als könnte ich endlich... damit abschließen. Oder vielleicht macht es alles nur noch schlimmer. Aber ich weiß, dass ich so nicht weiterleben kann."

Silas nickt, er legt seine Hand kurz auf meinen Arm. „Ganz egal, was heute passiert... du bist nicht allein."

Seine Worte lassen mich tief durchatmen und ein kleiner Teil des Schmerzes und der Angst löst sich in mir. Ich weiß nicht wie er das macht, aber seine pure Anwesenheit beruhigt mich. Ich habe gerade das Gefühl, dass er ruhig und sicher ist. Also kann ich mich ebenfalls ruhig und sicher fühlen.

Als wir den kleinen Feldweg entlangfahren, der zur abgelegenen Straße meiner Eltern führt, spüre ich allerdings wie meine Anspannung zurückkehrt. Schließlich taucht das Haus im Scheinwerferlicht auf. Ich bremse und parke vorsichtig vor dem Haus, welches abseits von allen anderen liegt, es liegt  versteckt zwischen den Bäumen.

„Bereit?" flüstert Silas.

Ich nicke langsam und atme tief durch.

. . .

Mit zittrigen Fingern betätige ich den Knopf der Haustürklingel. Mein Herz rast, jeder Atemzug fühlt sich schwer an, als würde mich die Luft selbst erdrücken. Es dauert nur wenige Sekunden, bis die Tür geöffnet wird und da steht sie: meine Mutter. Die gleichen blauen Augen, dieselbe zierliche Gestalt... nur die blonden Haare sind inzwischen leicht ergraut. Ein Hauch von Erstaunen zeichnet sich auf ihrem Gesicht ab, gefolgt von einem flüchtigen Lächeln.

„Lyle?" Ihre Stimme klingt sanft, fast so als wäre alles in Ordnung. „Du... bist das wirklich?"

Ich nicke nur stumm und der Geruch des Hauses umfängt mich wie eine unangenehme Welle. Es ist der gleiche Duft wie damals; eine Mischung aus Reinigungsmittel und altem Holz. Dieser vertraute Geruch katapultiert mich augenblicklich zurück in meine Kindheit und alles, was damals hier passiert ist. Nichts hat sich verändert, es fühlt sich an als wäre die Zeit hier stehengeblieben. Nur ich habe mich weiterentwickelt.

„Und... wer ist das?" Sie schaut zu Silas und ihre Augen verengen sich leicht, so als ob sie misstrauisch wäre.

„Ein Freund", sage ich knapp. Sie wirkt irritiert, aber sie nickt und tritt zur Seite, um uns hereinzulassen.

„Kommt doch rein", murmelt sie und führt uns ins Wohnzimmer. Sogar die Möbel sind die gleichen wie früher... schwer und dunkel, der Raum ist nur spärlich beleuchtet. An den Wänden sind die selben Gemälde, im Regel stehen die selben Bücher.

Am Tisch sitzt mein Vater. Groß, breite Schultern, die braunen Haare haben graue Strähnen, aber seine Augen haben diesen kalten, stechenden Ausdruck, den ich nie vergessen konnte. Er hebt den Blick als er uns eintreten sieht und für einen Moment wirkt er tatsächlich erfreut. Doch kaum sieht er Silas an meiner Seite, verändert sich sein Gesichtsausdruck. Seine Augen verengen sich und seine Lippen pressen sich zu einem schmalen Strich zusammen.

„Lyle." Seine Stimme ist fest, fast schon befremdlich freundlich. „Schön, dich zu sehen. Aber... wer ist dieser Junge?"

„Ein Freund", wiederhole ich. Meine Stimme klingt seltsam tonlos, so als würde sie gar nicht mir gehören.

„Aha... ein Freund." Sein Blick wandert zwischen uns hin und her, ich sehe die Skepsis in seinem Blick. Aber er sagt nichts weiter und mustert Silas nur weiterhin misstrauisch.

Meine Mutter scheint die gespannte Atmosphäre zu spüren und lächelt aufgesetzt. „Habt ihr schon gegessen? Ich könnte etwas zubereiten", sagt sie mit dieser typischen Freundlichkeit.

„Nein, wir haben noch nichts gegessen", antworte ich, obwohl mir eigentlich sowieso der Appetit fehlt.

„Dann macht es euch doch schon mal bequem", sagt sie und verschwindet in die Küche. Ich setze mich mechanisch an den Tisch und Silas nimmt neben mir Platz. Seine Haltung ist übertrieben höflich, sein Lächeln wirkt unnatürlich freundlich. Ein Teil von mir weiß, dass er das extra macht, es ist ein Schauspiel, um die Atmosphäre in diesem Haus noch surrealer wirken zu lassen.

Mein Vater bleibt stumm und beobachtet Silas mit einem abschätzigen Blick. Ich kann sehen wie er innerlich arbeitet, wie er versucht dieses unerwartete Bild zu verarbeiten. Die Stille dehnt sich, während wir auf meine Mutter warten, die bald darauf mit Tellern zurückkommt.

„Hier. Es ist nicht viel, aber es sollte reichen." Sie stellt das Essen vor uns ab. Brot, Käse, kaltes Fleisch und ein paar Beilagen, die sie in Eile zubereitet hat. Es ist ein schlichtes, bescheidenes Essen, wie damals als ich noch ein Kind war.

Silas greift zu einer Scheibe Brot und lächelt sie an. „Vielen Dank, das ist sehr nett", sagt er und auch sein Ton ist so gespielt freundlich. Er ist vollkommen in seiner Rolle angekommen, als sei er ein anderer Mensch.

Schließlich hält mein Vater inne und räuspert sich. Seine kalten, stechenden Augen richten sich auf mich. „Lyle", beginnt er langsam und wirkt fast schon wieder belehrend, „du solltest vielleicht ein wenig an deinem Umgang arbeiten. Freunde... von dieser Sorte... sie könnten den falschen Eindruck hinterlassen."

Etwas in mir bricht. Die Worte klingen genau so wie ich es gewohnt war; die kleine Andeutung und dieser schneidende Unterton. Ich spüre wie sich mein Kiefer anspannt und wie die viel zu lange unterdrückte Wut in mir aufsteigt.

„Du hältst jetzt verdammt nochmal deinen Mund", sage ich mit fester Stimme. Ich habe nicht erwartet, dass ich diese Worte so ernst und eiskalt herausbringen kann.

Meine Worte lassen den Raum gefrieren und für einen kurzen Moment sind die Augen meines Vaters vor Schock weit aufgerissen. Meine Mutter verstummt ebenfalls und blickt verunsichert zwischen uns hin und her, sie ist unfähig die plötzliche Veränderung zu begreifen. Silas legt still sein Besteck beiseite und beobachtet die Szene mit ernster Miene.

Mein Vater findet schnell zu seiner alten Haltung zurück, richtet sich auf und versucht, mir mit einem kontrollierten Ausdruck zu begegnen. „Was hast du gerade gesagt?" Seine Stimme ist ruhig, aber in seinen Augen blitzt ebenfalls Wut auf.

Doch ich lasse mich nicht einschüchtern. „Du hast schon viel zu lange alles kontrolliert. Meine Kindheit, mein Leben, meinen Willen. Damit ist jetzt Schluss." Meine Stimme bebt leicht, doch ich fühle wie die aufgestaute Wut und der Schmerz der letzten Jahre mir Kraft geben ihm endlich gegenüberzutreten.

Ein verächtliches Lächeln zieht über seine Lippen, es wirkt so als würde er denken, dass ich all das sowieso nicht ernst meine, dass ich nur ein Kind bin, das eine kleine Rebellion wagt.

„Lyle", sagt er und spricht dabei leise, in seinem zynischen, väterlichen Ton, der mir noch nie etwas Gutes gebracht hat. „Hör auf mit diesen kindischen Spielchen. Ich bin dein Vater und ich weiß, was am besten für dich ist."

Meine Hände zittern leicht, doch ich sehe ihm fest in die Augen, weiche keinen Zentimeter zurück.

„Das, was du getan hast... das wirst du niemals wiedergutmachen können. Deine Macht über mich ist vorbei."

Ich spüre, wie Silas' Hand leicht meinen Arm berührt, als würde er mir versichern, dass er da ist, dass ich jetzt nicht allein bin. Mein Vater scheint die Geste zu bemerken und ein scharfer, fast hasserfüllter Ausdruck zieht über sein Gesicht.

„Ach... deshalb also", zischt er und wirft Silas einen verächtlichen Blick zu. „Du bringst deinen... kleinen Freund hierher, um dich stark zu fühlen? Das ist erbärmlich."

Die Worte bohren sich in mich, doch ich lasse ihn nicht mehr an mich heran. Es ist Silas, der sich bewegt, sich ein wenig vorbeugt und ihn herausfordernd ansieht. „Lyle ist zehnmal stärker als Sie jemals sein könnten", sagt er leise. „Sie haben keine Ahnung."

Mein Vater schaut ihn kurz hasserfüllt an, doch dann richtet er seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. Er scheint meine Worte noch einmal zu überdenken und starrt much einfach nur an.

„Stärker als ich?" Mein Vater spuckt die Worte fast aus. „Lyle, hat dieser Junge das gerade wirklich gesagt? Wie alt ist er überhaupt? Kaum erwachsen, nehme ich an?"

Ein kaum wahrnehmbares Zucken geht durch Silas und ich sehe, wie seine Hand in Richtung seines Rucksacks wandert, welcher neben ihm auf dem Boden steht. Darin liegt es; das Messer, unsere Waffe.

Ich halte seinen Blick fest und schüttle den Kopf, gerade so das nur er es sieht. Noch nicht.

Dann richte ich mich auf und drehe mich zurück zu meinem Vater. „Und warum sollte ich nicht stärker sein als du? Weil du Macht über mich hattest? Weil du dich meine ganze Kindheit an mir vergangen hast? Glaubst du wirklich, das macht dich stark?"

Für einen Sekundenbruchteil weiten sich seine Augen. Die Fassade bricht, es ist nur ein Hauch, aber ich sehe es. Die Verleugnung, die Angst die er nicht zeigen will.

Seine Kiefermuskeln spannen sich an und er presst die Lippen zusammen. „So einen Unsinn diskutiere ich nicht mit dir. Diese... haltlosen Behauptungen sind lächerlich."

In mir steigt die Wut wie ein Flächenbrand auf, sie ist heiß und unaufhaltsam. Es gibt keine Kontrolle mehr, kein Zögern. Ich lege meine Hand auf Silas' Oberschenkel und drücke leicht.

Das ist unser Zeichen.

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